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Am nächsten Tag geht es Rue ein wenig besser und sie kann klare Gedanken fassen. Sie musste sich auf jeden Fall bei Wyn entschuldigen, denn wie sie reagiert hatte, war nicht zu entschuldigen. Wyn wusste nicht, was für eine Belastung das Thema für Rue ist. Sie hatte es bis gestern noch nicht einmal selbst gewusst. Sonst hätte sie den Text niemals vorgetragen. Sie dachte, dass sie inzwischen besser mit dem Tod ihrer Mutter umgehen könne. Sie beschließt ihn nach dem Unterricht zu suchen. Heute hatten sie wieder die Kreativförderung, worauf sie sich dieses Mal allerdings nur mäßig freute, denn das Gedicht, welches sie geschrieben hatte, kam ihr in den Sinn, als sie über Wyn nachgedacht hat und so würde es auch in dem Kurs keine Ruhe vor den Gedanken an Wyn geben. Sie hatte versucht, noch andere Gedichte zu schreiben, doch dabei war bloß Müll herausgekommen. Sie macht sich mit einem mulmigen Gefühl auf den Weg. Sie wollte den Streit mit Wyn eigentlich so schnell wie möglich aus dem Weg haben, aber sie durfte nicht zu spät kommen und er scheint ihr aus dem Weg zu gehen. Kein Wunder, bei den Sätzen, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte.
„Rue, magst du als nächstes dein Gedicht vortragen?", fragt die Lehrerin sie, nachdem schon ein paar Leute aus ihrem Kurs ihre Gedichte vorgetragen hatten. Auch wenn Rue die Gedichte der anderen sonst brennend interessierten, war sie heute nicht bei der Sache und hörte kaum hin.
„Was?", fragt sie. Sie wurde völlig aus ihren Gedanken gerissen. Ein Mädchen flüstert ihr zu.
„Ja, ich mache weiter", sagt sie abwesend und tritt vor die Klasse.
„Das Gedicht, welches ich geschrieben habe, heißt Schuld", sagt sie und beginnt es vor der Klasse vorzutragen.
„Das Leben
Wäre
Vielleicht schöner
Wenn Ich dich
Gar nicht getroffen hätte
Weniger Unwohlsein
Jedes Mal
Wenn wir uns treffen
Weniger Schuld
Vor der nächsten
Und übernächsten Trennung.
Und auch nicht so viel
Von Panik
Wenn du schreist
Die nur das Beste für dich will
Und das sofort
Im nächsten Augenblick
Und die dann
Weil du schweigst
Fort ist
Und schwer atmet
Das Leben
Wäre vielleicht
Schöner
Wenn ich dich
Nicht getroffen hätte
Es wäre nur nicht
Echt", beendet Rue es.
Alle klatschen, nachdem Rue einen Atemzug genommen hat. Nachdem die Stunde zu Ende ist, packen alle hektisch ihre Sachen. Kaum einer konnte es abwarten, bis die Stunde zu Ende war und sie sich endlich wieder ihrer Freizeit und ihren Freunden widmen konnten. Rue ist anders. Sie freute sich am meisten auf diesen Kurs und ist immer die letzte, denn sie beeilte sich nicht, von diesem Ort wegzukommen. Es war ein sicherer Ort für sie. Dieser Kurs war vielleicht die einzige Chance, die sie hatte. Rue lebte für diesen Kurs.
Als Rue noch ihr Gedicht in ihren Rucksack packen will, läuft sie in jemanden hinein.
„Entschuldigung", sagt sie und will den Zettel wieder aufheben. Als sie aufblickt, sieht sie Wyn, der ihren Zettel schon aufgehoben hat und in der Hand hält.
„Das ist sowieso das, was ich von dir wollte. Mich entschuldigen"
„Okay", antwortet er.
„Ja. Es tut mir Leid, dass ich so ausgerastet bin. Ich reagiere nicht gut, wenn man mich auf das Thema anspricht. Ich hätte nicht so reagieren dürfen. Mir geht es momentan einfach nicht so gut, und ich rede auch nicht gerne darüber"
„Ich wusste gar nicht, dass du dazu fähig bist"
„Wozu?", fragt Rue nachdenklich.
„Dich zu entschuldigen"
Das trifft Rue hart. Sie versucht sich bei ihm zu entschuldigen und er bringt bloß blöde Kommentare. Sie musste sich nicht mit diesem Idioten abgeben. Nachdem er den Satz ausgesprochen hat, setzt Rue sich wieder in Bewegung. Sie zeigt ihm den Mittelfinger und verschwindet. Sie würde sich nie wieder bei Wyn entschuldigen. Sie schmeißt ihren Rucksack wütend in ihr Zimmer. Das Gemecker ihrer Zimmernachbarin ignoriert sie. Sie kramt eine Zigarette aus ihrer Jackentasche und zündet sie noch im Gehen an. Sollte sie doch jemand erwischen und sie rausschmeißen. In diesem Moment ist ihr alles egal. Automatisch steuert sie auf die Buchhandlung zu. Der Buchhändler begrüßt sie freundlich. Rue bekommt zu spüren, wie sie zu Wyn ist, nimmt aber nicht wahr, dass er ihr Verhalten spiegelt.
„Kann ich mich setzen und ein bisschen schreiben?", fragt sie. Inzwischen hatte sie sich ein wenig beruhigt. Harry konnte immerhin nichts dafür, dass Wyn ein Arschloch ist.
„In meinen Räumen bist du immer willkommen", lächelt er und zeigt auf einen der großen Schreibtische. Sie kommt jedoch nicht dazu, auch nur ein einziges Wort in ihr Notizbuch zu schreiben, denn Wyn schwebt die ganze Zeit in ihren Gedanken. Nachdem ihr selbst nichts einfällt, beschließt sie, sich der neuen Hausaufgabe zu widmen.
„Hast du ein paar Gedichtbände hier?", fragt Rue in die Stille hinein. Der Buchhändler nickt und verschwindet eine Weile, bis er mit zwei dicken Bänden wieder hineinkommt.
„Danke", lächelt Rue. Das Schreiben hat ihr schon immer geholfen. Sie sollten sich ein Gedicht aussuchen, welches schon geschrieben wurden ist und nicht von einem selber ist und dazu ein Gegengedicht verfassen. Als sie ein Gedicht sieht, welches ihr gefällt, kommen ihr sofort einige Ideen und sie beginnt, diese auf das Papier zu kritzeln. Wyn ist aus ihren Gedanken gedrängt wurden. Sie schmiert eine Weile rum, bis sie die richtigen Worte gefunden hat und trägt es dem alten Mann vor.
„Ich mag es", lächelt er. Sie beschließt, es später in dem Kurs vorzutragen und kauft noch ein Buch, bevor sie verschwindet. Ihre Wut hat sich ein wenig gelegt. Das Schreiben hat schon immer geholfen, wenn es Rue schlecht ging.
„Du beginnst, Wyn Konkurrenz zu machen", ruft er ihr noch hinterher.
„Lass mich bloß mit dem Idioten-", will sie gerade noch entgegnen, als sie Volle Kanne in ihn hineinläuft. Sie rennt davon, bevor er noch etwas erwidern kann. Sie verkriecht sich in ihrem Zimmer und liest ein Buch. Heute geht sie nicht zum Abendessen. Sie hat keinen Hunger und noch weniger will sie Wyn sehen. Am nächsten Tag sieht sie ihn im Unterricht, versucht ihm aber größtenteils aus dem Weg zu gehen.
„Ich hab noch etwas für dich", erklärt er. Sie merkt erst nicht, dass sie gemeint ist, weshalb sie nicht darauf reagiert.
„Rue", versucht er es noch einmal. Seine Stimme ist sanft.
„Ich habe noch etwas für dich", versucht er es noch einmal und hält ihr einen Umschlag hin.
„Du kannst es behalten. Von dir will ich nichts haben", erklärt sie. Zu ihrem Glück klingelt es in diesem Moment. Rue war noch nie so schnell aus einem Kurs verschwunden, wie aus diesem. Nachdem die Schule endgültig vorbei ist, treibt es Rue Mal wieder in den Buchladen.
„Es wartet jemand auf dich", erklärt der Buchhändler ihr. Als sie ihn fragend ansieht, zeigt er auf den hinteren Teil der Buchhandlung. Als sie um die Regale biegt, sieht sie ein vertrautes Gesicht.
„Bitte laufe nicht wieder sofort weg", ist das erste, was Wyn zu ihr sagt. Seine schulterlangen Haare sind zu einem Zopf zusammen gebunden und er hat seine Gitarre in der Hand.
„Was willst du?", fragt sie genervt und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Ich habe etwas für dich", sagt er und legt die Gitarre nun neben sich, um aufzustehen und auf sie zuzukommen. Sie sieht erneut den Umschlag, den er in seiner Hand hält.
„Und es tut mir Leid. Ich hätte niemals so reagieren dürfen. Ich war einfach verletzt, weil du so ausgerastet bist. Mich hat zuvor noch nie jemand so angeschrien", lacht er.
„Kann ich den Brief haben, oder ist der nicht für mich?", fragt sie nun.
„Achso, ja. Hier", sagt er und übergibt ihr den Brief. Danach setzt er sich wieder auf das Sofa und betrachtet sie, wie Rue den Umschlag öffnet. Es ist kritzelige Schrift, es muss schnell geschrieben wurden sein.
„Wir waren von Ihnen begeistert. Sie sind der erste Platz, doch da Sie nicht mehr anwesend sind, haben wir ihr Preisgeld einem guten Freund von Ihnen mitgegeben. Der Buchhändler hat es bestätigt. Wir hoffen, das Geld kommt bei Ihnen an und sie freuen sich. Vielleicht wollen sie noch einmal an einem Wettbewerb teilnehmen. Wir würden uns sehr freuen, denn sie haben großes Talent", liest sie. Nachdem sie auch das Geld von über hundert Euro aus dem Umschlag holt, läuft sie auf Wyn zu und umarmt ihn.
„Danke, dass du es entgegen genommen hast", sagt sie kühl.
„Jetzt kann ich endlich mein Skateboard reparieren"
„Ernsthaft?", grinst er. „Das ist das Erste, woran du denkst?"
„Ja", sagt sie.
„Wirklich. Danke, dass du ihn angenommen hast. Ich hätte das Preisgeld über Board geworfen. Wie kann man so bescheuert sein und einfach abhauen", fragt sie sich.
„Wenn man so einen bescheuerten Freund hat, wie ich es bin", erwidert er.
„Es tut mir Leid, dass ich dich immer wieder nach demjenigen frage, von dem du gesprochen hast. Ich gebe dir Zeit. Du kannst es mir erzählen, wenn du bereit dazu bist. Aber du musst es nicht erzählen, okay?", fragt er.
„Manchmal kann ich hartnäckig sein, wie eine Nuss. Und ich merke nicht, wie ich die Leute um mich herum verletzte. Deshalb möchte ich mich noch einmal entschuldigen.", erklärt er.
„Ich verzeihe dir", erklärt sie lächelnd.
„Magst du mir etwas auf deiner Gitarre vorspielen?", fragt sie und zeigt auf das Instrument, was am Boden des Sofas liegt.
„Wenn Harry damit einverstanden ist", sagt er und schaut den alten Mann an. Dieser nickt. Es ist sowieso gerade niemand anderes da, denn es stören konnte und er wollte den beiden den Moment lassen.
„Endlich habt ihr euch wieder vertragen. Das war ja nicht auszuhalten", lacht dieser. Nachdem Wyn das Lied gespielt hat, fragt Rue ob er und Niv bald Mal wieder einen Auftritt haben würden. Sie würde auf jeden Fall kommen und die beiden anfeuern.
„Wenn du magst, können wir mal raus schauen. Ich glaube, Niv macht gerade Straßenmusik", erklärt Wyn.
„Echt?", fragt Rue mit großen Augen. Sie würde sich niemals trauen, einen ihrer Slams auf der Straße vorzutragen.
„Echt. Er will sich ein bisschen Geld für das Studium dazu verdienen"
„Dann lass uns rausgehen"
„Aber nicht, ohne vorher ein Buch zu kaufen", grinst Wyn.
„Welches hättest du denn gerne?", fragt Harry.
„Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens"
Unmerklich zuckt Rue neben ihm zusammen. Kaum einer merkt es, nur Harry nimmt das Zucken wahr.
„Willst du auch eines?", fragt Harry, doch Rue schüttelt den Kopf. Sie war noch beim letzten Buch, welches sie gekauft hatte.
„Ich will dir ja nicht deinen besten Kunden wegnehmen", grinst Rue, die sich nun wieder völlig gefangen hat.
Die beiden treten nun nach draußen in die Kälte. Sie können Niv direkt von der Buchhandlung stehen sehen und es sind einige Leute stehen geblieben, um Niv zu lauschen. Einige haben schon Scheine in die Fischermütze gelegt.
„Magst du tanzen?", fragt Wyn nach einer Weile. Erst ist Rue ein wenig unsicher, doch dann nimmt sie Wyns Hand und die beiden tanzen fröhlich zu der Musik, die Niv spielt. Die beiden lachen viel und Wyn beginnt, mitzusingen. Nach einer Weile, als er Rue hin und her gewirbelt hatte und sie schon einen Schwindelwurm bekommt, stellt er sich zu Niv dazu. Er holte nun seine Gitarre raus, die er, bevor die beiden angefangen haben zu tanzen, bei Niv abgelegt hatte. Die beiden legten nun richtig los und es bleiben immer mehr Leute stehen, um den beiden zuzuhören.
In dem Moment, in dem die beiden verschwinden, taucht Raven auf und bleibt eine Weile vor Niv stehen. Sie dreht sich im Kreis und tanzt. Sie hat noch ihre Reitsachen an. Trotzdem strahlt sie heller, als jeder Stern am Himmel. Als sie jedoch anfängt mitzusingen, bleibt niemand mehr stehen, denn nun klingt es nicht mehr gut.
„Raven", lacht Niv. „Du vertreibst meine Kunden"
„Aber ich hab Spaß. Ist das nicht das Wichtigste?", fragt sie lachend.
„Aber ich brauche auch das Geld", lächelt Niv.
„Ich geh ja schon", schmollt sie.
„Warte. Raven, ich bin in einer halben Stunde fertig. Magst du dann vielleicht etwas mit mir unternehmen?", fragt er grinsend.
„Immer", lächelt sie und verschwindet tanzend in Richtung Internat. Nach einer halben Stunde kommt sie umgezogen zurück. Niv ist inzwischen dabei, seine Sachen zusammen zu räumen. Sie hat inzwischen die Reitersachen ausgezogen und einen Mantel an. In den Haaren hat sie ein grünes Band.
„Du siehst schön aus", begrüßt Niv sie, als sie erneut vor ihn tritt.
„Danke", lächelt sie und hilft ihm inzwischen, die Sachen einzupacken.
„Sie müssen dort rüber. Ins Auto"
„Ich muss dir unbedingt was erzählen. Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen"
„Wollen wir ins Cafe gehen?", fragt Niv sie.
„Zu Muffins sage ich nie Nein. Das weißt du doch", grinst sie und die beiden gehen auf das Cafe neben dem Lieblingsort ihres besten Freundes zu. Die beiden werden schon von der alten Dame begrüßt. Dieses Cafe wäre nicht das Gleiche ohne die beiden. Eigentlich waren sie einmal in der Woche hier zusammen, doch in letzter Zeit hatten die beiden viel um die Ohren, weshalb sie sich weniger gesehen haben.
„Ich hab dich vermisst"
„Ich hab dich auch vermisst"
„Das Übliche bitte", grinsen die beiden und schon nach einigen Minuten kommt ihre Bestellung an den Tisch.
„Was gibt es neues in Königshausen?", grinst Niv. Dies ist sein Spitzname für das Internat.
„Ich habe eine Neue im Zimmer. Total ätzend"
„Lass mich raten. Ihr Name ist Rue?"
„Woher weißt du das?"
„Ich durfte sie auch schon kennenlernen. Mein bester Freund scheint sie leider gern zu haben"
„Sie hat mich aus meinem Zimmer geschmissen. Aus meinem eigenen Zimmer, nachdem sie gerade einmal fünf Stunden dort gewohnt hat"
„Okay, das ist neu", lacht Niv nun.
„Und sie hat einen Raben", erklärt Raven.
„Echt?", fragt er.
„Ja, deshalb hat sie mich rausgeschmissen. Weil ich meinte, dass ich mit ihm nicht auf einem Zimmer leben will. Sie denkt jedenfalls, ich wär die totale Zicke. Wie eigentlich jeder, außer dir und Wyn. Jeder, außer dir" , korrigiert sie sich noch.
„Wyn denkt nicht, du seist eine Zicke"
„Ohne ihn wären wir gar nicht befreundet"
„Ja, aber ich bin nicht gerade seine beste Freundin."
„Aber ihr kommt klar miteinander"
„Mehr oder weniger"
„Hauptsache wir beide haben uns"
„Hauptsache wir beide haben uns", wiederholt Raven das Gesagte.
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