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„Was ist denn mit Rue los?", fragt Wyn das zurück gelassene Mädchen, welches er noch nie zuvor hier gesehen hatte. Es überrascht ihn ein wenig, dass Rue Freunde hier zu haben scheint. Er hatte sie bisher immer nur alleine gesehen. Sie tat doch immer so auf Einzelgänger.
„Hi erstmal. Ich bin Wyn", erklärt er und hält ihr die Hand hin.
„Lyra", erklärt sie, schüttelt seine Hand allerdings nicht.
„Ich muss dann auch los", erwidert sie und macht sich auf den Weg, um ihre beste Freundin zu suchen.
„Rue, bist du da?", fragt Lyra vorsichtig, als sie an der Tür zu ihrem Zimmer klopft. Sie hatte sich erstaunlich gut zurecht gefunden und es hatte nicht lange gedauert, bis sie Rues Zimmer gefunden hat, auch wenn dieses Internat verdammt groß ist.
„Verschwinde", kommt es aus dem Inneren des Zimmers.
„Ich bin es, Rue. Lyra. Alles okay?", fragt sie und öffnet langsam die Tür. Sie sieht Rue in ihrem Bett liegen.
„Schon okay", sagt Rue jetzt und setzt sich mit einem Kissen gegen ihren Bauch gedrückt auf das Bett. Lyra setzt sich neben sie.
„Ich hab einfach nicht damit gerechnet, ihn dort zu sehen, okay?", versucht sie sich Lyra zu erklären.
„Aber es ist doch nah am Internat dran. Du hättest damit rechnen können, dass jemand aus dem Internat da ist"
„Habe ich. Aber nicht mit ihm"
„Du magst ihn, oder?", fragt Lyra und versucht es beiläufig klingen zu lassen.
„Was? Nein!" , protestiert sie.
„Es ist nur so. Wenn man mich nicht kennt, verbindet man das Ganze nicht mit meiner Mutter."
„Er aber schon?", fragt Lyra und Rue nickt. Lyra hat die richtigen Schlüsse gezogen.
„Weshalb?", fragt sie nun.
„Er hat mich schon ein paar Mal auf meine Mutter angesprochen, und auch wenn ich sie in dem Slam nicht explizit erwähne, weiß er es jetzt. Weil ich jedes Mal weggerannt bin, wenn er das Thema angesprochen hat", erklärt sie.
„Och, Rue", sagt Lyra und nimmt ihre beste Freundin in die Arme.
„Ich glaube, ich muss dich öfter besuchen kommen. Ich denke, wenn er kein völliger Blödmann ist dann wird er es verstehen. Aber du bekommst das schon hin. Du meisterst das. Das hast du schon immer, okay?", fragt Lyra.
„Okay", antwortet Rue.
„Ich hab dich lieb"
„Ich dich auch", erwidert Rue.
„Lyron, mein Freund. Wie geht es dir?", fragt Lyra auf einmal Rues Raben.
„Wenn ich dich schon nicht mitnehmen konnte, dann doch wenigstens meinen besten Freund. Immerhin habe ich ihn nach dir benannt", grinst Rue und scheint wieder ganz die alte zu sein.
Die beiden albern noch eine Weile rum, bevor Lyra wieder nach Hause muss.
„Ich bringe dich noch zum Zug", erklärt Rue, als Lyra sich ihren Mantel überzieht.
„Das ist wirklich nicht nötig"
„Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Immerhin bist du aus Hamburg angereist, nur um mich beim slamen zu sehen. Und dann vermassele ich es auch noch und haue ab"
„Du hast es nicht vermasselt!", stellt Lyra fest.
„Ich bin abgehauen", lacht Rue.
„Naja, okay. Ein bisschen. Nächstes Mal machst du es besser"
„Werde ich. Wenn du mich dann wieder besuchen kommst", lächelt Rue und die beiden treten aus dem Zimmer, als ihnen Wyn entgegen stolpert. Er hält einen Umschlag in der Hand.
„Rue, kann ich kurz mit dir reden?", fragt er.
„Ich kann gerade nicht. Ich muss Lyra zum Zug bringen, sonst verpasst sie ihn. Aber nachher, okay?", fragt sie wahrheitsgemäß.
„Okay", erwidert er und verschwindet in den Fluren des Internates. Rue bringt ihre Freundin zum Bahnhof und verabschiedet sich mit einer Umarmung von ihr.
„Ich vermisse dich jetzt schon wahnsinnig", erklärt diese.
„Ich dich auch. Ohne dich ist es kaum auszuhalten", lacht Rue. „Komm mich bald wieder besuchen, okay?", fragt sie noch, bevor Lyra in den Zug steigt.
„Ich verspreche es", grinst diese und Rue winkt dem Zug, lange nachdem er schon nicht mehr zu sehen ist. Nun ist sie wieder alleine. In ihrem neuen Leben. Dann erinnert sie sich wieder an Wyn und denkt darüber nach, was Lyra gesagt hat. Kann es sein, dass Rue ihn wirklich mag? Sie nimmt ihr Skateboard aus der Hand und fährt zurück zum Internat. Im Fahren zündet sie sich eine Zigarette an. Als sie am Internat ankommt, tritt sie die Zigarette davor aus und schmeißt sie in den Mülleimer. Sie geht in ihr Zimmer und macht Musik an. Sie versucht sich an einem neuen Gedicht. Sie hat schon lange nicht mehr geschrieben und dies wollte sie ändern. Zum nächsten Mal sollten sie ein kurzes Gedicht in den Kreativen Schreibkurs mitbringen, dass sie bisher noch nicht geschrieben haben und ein altes. Das alte hatte sie sich schon herausgesucht. Nun versuchte sie sich einige Stunden an einem Neuen, bevor sie es endgültig aufgibt. Heute würde sie es zu keinem guten Ergebnis mehr zustande bringen. Wyn kommt an diesem Tag nicht noch einmal vorbei. Es ist ihr aber auch herzlich egal. Inzwischen hatte sich ihre Wut wieder in ihrem Bauch angestaut. Nachdem sie es zu keinem Ergebnis bringt, beschließt sie noch einmal in die Buchhandlung zurück zu kehren. Ihren Rückzugsort. Vielleicht würde sie es hier zu etwas zustande bringen.
Als sie dort ankommt, begrüßt der Buchhändler sie mit großen Augen.
„Rue, wo warst du? Du hast den ersten Platz gemacht", erklärt er ihr.
„Was-? Ehrlich?"; fragt sie und kann es kaum fassen.
„Ja, aber du warst nicht da", erklärt er und sie wird enttäuscht. Dann hat wohl jemand anderes den Platz bekommen. Der zweite ist zum ersten geworden. Der hat sich wahrscheinlich wahnsinnig gefreut. Dies würde ihr bestimmt nicht noch einmal passieren. Sie würde sich nicht noch einmal so von ihren Gefühlen leiten lassen.
„Darf ich mich dort hinsetzen und versuchen, ein bisschen zu schreiben?", fragt sie.
„Wenn du danach noch ein Buch mitnimmst", zwinkert Harry ihr zu.
Sie setzt sich mit ihrem Notizbuch auf das Sofa, auf dem sie auch immer gelesen hatte, seitdem sie hier ist. Tatsächlich fällt ihr auf der Stelle etwas ein und sie schreibt es in ihr kleines Notizbuch.
„Rue?", fragt nach einer Weile eine Stimme.
„Was?", fragt sie gereizt. Sie ist mitten im Schreibfluss und kann jetzt nicht aufhören.
„Ich kann nicht. Das siehst du doch", erklärt sie schnauzend. Sie hatte keinen Nerv sich nun mit Wyn auseinander zu setzen.
„Lass mich in Ruhe, klar?", fragt sie.
„Okay, aber ich habe etwas für dich", erklärt er.
„Kannst du behalten. Ich brauche nichts von dir"
„Von wem handelt dein Gedicht?", fragt er aus der Luft heraus.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", erklärt sie und steht auf, um aus der Buchhandlung zu rennen. Ihr steigen Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, weshalb Wyn sie nicht einfach in Ruhe lassen kann. Sie wüsste nicht, was ihn ihr verschissenes Leben angeht. Sie hätte niemals mit diesem Gedicht an diesem Wettbewerb teilnehmen dürfen. Er würde sie nie wieder in Ruhe lassen. Sie beschließt noch einmal hineinzugehen und ihm ihre Meinung zu geigen. Als sie hereinkommt, ist ihr Bauch voller Wut.
„Weißt du was, Wyn? Was geht dich mein beschissenes Leben eigentlich an? Ich habe dich doch von Anfang an spüren lassen, dass ich keine meiner Lebenszeit mit dir verschwenden will. Keine einzige Sekunde. Warum fragst du mich solche Sachen? Es ist mein Leben, nicht deines. Wir sind keine Freunde und werden es auch nie sein. Lass mich verdammt noch einmal in Ruhe, okay? Und verschwinde endlich aus meinem Leben. Es geht dich nichts an, von wem dieses Gedicht handelt. Ich hatte dich nicht eingeladen. Ich wollte nicht, dass du jemals davon mitbekommst. Ich werde dir deine beschissene Frage nicht beantworten. Und jetzt verschwinde endlich aus meinem Leben!", geigt sie ihm die Meinung. Er schaut sie an, sie sieht keine Emotionen in seinem Gesicht. Null. Sie weiß das erste Mal in ihrem Leben nicht, was Wyn fühlt oder denkt. Das einzige, was er macht, ist aus dem Laden zu verschwinden. Mit der Wut lässt es sich wenigstes gut Schreiben.
„Rue, was war das denn?", fragt auf einmal der alte Mann.
„Es tut mir Leid. Ich kann Wyn einfach nicht ab"
„Er ist mein bester Kunde"
„Tut mir Leid, wenn ich ihn verjagt habe"
„Dir geht es nicht gut, oder?", fragt er nun liebevoll und nimmt sie in den Arm. Das ist das einzige, was Rue gerade in diesem Moment gebrauchen kann. Eine Umarmung. Dieser Mann erinnert sie so sehr an ihre Mutter, was sie noch trauriger macht. Sie beginnt zu weinen und der Mann streicht ihr über den Rücken.
„Ist schon gut, Süße. Alles wird gut"
„Nichts ist oder wird jemals wieder gut werden. Sie ist tot", weint Rue.
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?", fragt er.
„Rue schüttelt den Kopf"
„Ich schon", sagt er. Ohne, dass Rue danach gefragt hätte, erzählt er ihr von seinen Vorstellungen.
„Ich glaube, die Verstorbenen kommen in den Himmel. Dort treffen sie alle geliebten Menschen, die schon gestorben sind, wieder. Sie leben ein Leben, ohne Sorgen und schauen sich uns manchmal an. Sie haben Spaß, essen Kuchen an ihren Geburtstagen und spielen Fußball auf einer großen Wiese. Ich wette, sie ist auch dort oben und schaut gerade auf uns runter. Sie beschützt dich und es wird ihr sehr wehtun, dich so zu sehen. Sie wird es nicht ertragen können, dass sie der Grund ist, weshalb es dir so schlecht geht", erwidert er. Sie löst sich langsam aus seiner Umarmung und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Was würde Sie wollen, was ich tue?", fragt sie den alten Mann.
„Das kann ich dir nicht sagen, meine Liebe. Dabei kann ich dir nicht helfen. Das musst du ganz von alleine herausfinden", erklärt er Rue. Sie verlässt die Buchhandlung mit einem guten Gefühl. Ein wenig hat der alte Mann sie beruhigt. Ihrer Mutter geht es jetzt so viel besser, dort oben. Auf einmal tauchen Bilder vor ihrem Gesicht auf und sie muss stehen bleiben. Sie sieht nichts mehr, außer den Erinnerungen.
„Dad, wie geht es ihr?", fragt Rue ihren Vater.
„Schlecht. Immer schlechter. Wir können nichts mehr für sie tun"
„Was haben die Ärzte gesagt?", fragt Rue mit Tränen in den Augen.
„Ihr Zustand verschlechtert sich. Sie gehen nicht mehr davon aus, dass es besser wird. Sie geben ihr zwei bis drei Tage. Dann ist es vorbei"
Rue treten Tränen in die Augen. Sie kann sich kein Leben ohne ihre Mutter vorstellen. Sie sitzen unterm Weihnachtsbaum und weinen um ihre Mutter, die noch auf der Erde ist. Sie weinen, weil sie wissen, dass sie sterben wird und sie nichts dagegen tun können.
„Kann ich sie noch einmal sehen, bevor-", fragt Rue, doch kann den Satz nicht zu Ende sprechen.
„Wir werden zu ihr fahren, Süße"
Ihr Vater kann sich noch beherrschen. Er hat noch keine einzige Träne geweint und Rue hat ihn auch noch nie weinen gesehen. Sie ist sich sicher, dass es bald das erste Mal sein wird. Sie wollte nicht, dass ihr Papa weint. Noch weniger wollte sie, dass ihre Mutter diese Erde verlässt. Als die beiden im Krankenhaus ankommen, lächelt ihre Mutter Rue entgegen. Sie hat keine Haare mehr, ist blass und sieht auch sonst schlecht aus.
„Ich liebe dich, Rue. Das darfst du niemals vergessen. Ich liebe dich und Dad", ist das letzte, was ihre Mutter sagt, bevor sie die Augen für immer schließt. Rue schreit. Rue weint. Rues Vater ist leise, umarmt seine Tochter und versucht sie zu trösten. Danach geht er aus dem Raum. Rue weiß, dass er weinen wird. Rue hält noch die warmen Hände ihrer Mutter, als die Ärzte kommen.
„Nehmen Sie sie mir nicht weg", weint sie. In diesem Moment verblassen die Bilder und Rue muss sich die Tränen aus dem Gesicht wischen. Die Bilder scheinen, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Sie hasste diesen Tag. Sie hasste ihn so sehr. Nachdem sie wieder klar sehen kann, geht sie weiter. Sie holt eine Zigarette aus ihrer Tasche und zündet sie an. Nimmt einen Zug, beruhigende Wirkung. Nachdem sie die erste aufgeraucht hat, raucht sie die zweite. Vor dem Internat drückt sie die Zigarette aus und schlurft auf ihr Zimmer, wo sie sich ins Bett legt und die Kissen auf ihren Kopf drückt, um sich vor der Welt zu verkriechen. Wieso konnten die Ärzte ihre Mutter nicht retten?
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