23

Am nächsten Wochenende schlafen Raven und Rue aus. Als Rue aufwacht, sitzt Raven schon in ihrem Bett und blättert in einem Buch.

"Guten Morgen", lächelt Rue sie an und streckt sich. In diesem Moment versteckt Raven das Buch unter ihrer Decke.

"Oh, Guten Morgen. Hab gar nicht gemerkt, dass du wach bist"

"Ich bemerk es auch noch nicht so richtig", scherzt Rue.

"Alles okay?", fragt Rue nach einer Weile, weil Raven sich immer noch nicht vom Fleck bewegt hat.

"Ja", erwidert sie.

"Wirklich?"

"Ja, alles okay. Kann ich mitkommen?", fragt sie.

"Klar, ich hab richtig Hunger. Pass auf, dass ich dich auf dem Weg nicht anknabbere" , erklärt Rue, doch in Ravens Gesicht regt sich noch immer nichts. Sie scheint völlig in Gedanken zu sein.

Beim Essen treffen die beiden Wyn.

"Findest du nicht auch, sie ist heute irgendwie seltsam?", fragt sie Wyn, als Raven gerade etwas Nachschlag von dem Müsli holt.

"Irgendwie schon. Ich glaube sie hat der Ausflug mit den Hunden ziemlich fertig gemacht. Wenn du für sie da sein willst, dann würde ich mit ihr zu ihrem Pferd gehen. Dabei bekommt sie immer gute Laune. Und wenn sie reden will, also wenn sie bereit ist, dann wird sie dies auch tun. Du musst bei ihr einfach nur abwarten. Meint zumindest Niv" , sagt er schulterzuckend und beißt noch einmal von seinem Marmeladenbrot ab.

Als die drei mit dem Essen fertig sind, beschließt Rue ihre Freundin tatsächlich zu Fragen.

"Magst du mich vielleicht heute mit zu deinem Pferd nehmen? Du gehst doch heute dort hin, oder?", fragt Rue.

"Ja, ich gehe heute hin. Kannst gerne mitkommen" , erklärt sie immer noch völlig emotionslos.

"Danke. Wann gehts los?", fragt Rue ein wenig aufgeregt. Sie hat noch nie auf einem Pferd gesessen.

"Eine Stunde. Wir treffen uns vor dem Zimmer, okay?", fragt sie. Rue nickt und verschwindet.

"Ich mache mir ehrlich sorgen um sie", erklärt Rue nach einer Weile ihrem Freund.

"Wir können nichts tun, wenn sie uns nichts sagt. Und Niv ist für sie da. Er wird sich kümmern"; verspricht ihr Wyn. Nachdem sie nach dem Frühstück noch einige Zeit mit Wyn im Aufenthaltsraum verbracht hat, fällt ihr auf, dass sie ihre Freundin völlig vergessen hat. Sie rennt sofort nach oben und reißt die Zimmertür auf.

"Scheiße, es tut mir so-", will sie sich erklären, doch ihre Freundin sitzt auf dem Boden und weint.

Sie ist total blass und kriegt keine Luft mehr. Sie atmet ständig ein und aus, aber es fühlt sich nicht an, als wenn sie Luft bekommen würde. Der Schweiß läuft ihr an der Stirn entlang und sie krümmt sich, als wenn sie sich gleich übergeben würde.

"Scheiße ist alles okay, Raven?" , fragt sie, doch bekommt keine Antwort.

"Ich höre deinen Herzschlag ja bis Indien"

"Fuck", flucht Rue, weil sie nicht weiß, was sie tun soll.

"Ruf Niv an, ich hab ne Panikattacke", quetscht Raven nun heraus.

Rue hört auf ihre Freundin und ruft Niv an, der innerhalb von weniger Minuten an Ravens Seite sitzt und ihr hilft, sich zu entspannen. Bei ihm sieht alles so einfach aus. Er redet mit Raven und gibt ihr etwas zu trinken. Er ist total ruhig und meistert die Situation total. Rue hätte niemals gewusst, wo sie anfangen soll oder wie sie helfen soll. Nach einer Weile, die die drei gewartet haben, geht die Panikattacke vorüber.

"Danke, dass du gekommen bist" , sagt Raven nach einer Weile.

"Immer" , erwidert Niv.

"Wie kann ich das nächste Mal helfen?", fragt Rue, immer noch etwas aufgeregt.

"Ich hab mich total hilflos gefühlt" , gibt sie zu.

"Am besten immer erst einmal Niv anrufen"

"Und was, wenn der nicht drangeht? Ich würde gerne selbst helfen"

Die beiden setzten sich mit Rue zusammen und erklären ihr, wie sie sich das nächste Mal zu verhalten hat. Nachdem Raven sich wieder beruhigt hat, scheint alles wie immer zu sein. Niv und sie verschwinden, um zu ihrem Pferd zu gehen.

"Darf ich noch mitkommen?", fragt Rue vorsichtig.

"Klar", lächelt sie. Die drei gehen gemeinsam zu Ravens Pferd und quatschen eine Weile.

Als Niv nach einer Weile weg ist, beginnt Rue sich zu fragen, weshalb Raven diese Panikattacken hat und überlegt, ob sie sie darauf ansprechen soll. Wyn meinte zwar, sie solle warten, bis Raven bereit dazu ist, aber ihre Neugier siegt am Ende, obwohl sie selbst auch nicht gerne auf den Tod ihrer Mutter angesprochen wird, kann sie sich einfach nicht zusammen reißen.

"Du Raven?", fragt sie nach einer Weile vorsichtig, als sie gerade das Pferd bürstet.

"Ja?", fragt Raven.

"Darf ich dich fragen, weshalb du diese Panikattacke hattest?", fragt sie.

"Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung, was der Auslöser war", erklärt sie.

"Hä?", fragt Rue, die keine Ahnung von Panikattacken hat.

"Manchmal kennst du den Auslöser dieser Panikattacke, und manchmal eben nicht. Es ist einfacher, sie zu beenden, wenn man den Auslöser kennt"

"Also hattest du schon mehrere Male Panikattacken?"

"Ja, seit ein paar Jahren habe ich immer mal wieder eine"

"Das tut mir Leid"

"Danke, aber du kannst ja nichts dafür" , erwidert Raven.

"Weißt du denn, wann du deine erste Panikattacke hattest?", fragt Rue, doch nun bemerkt sie, wie Raven sich verkrampft, weshalb sie sich gleich darauf entschuldigt und Raven ihren Freiraum lässt.

"Ich müsste Mal eben für kleine Mädchen", erklärt sie und verschwindet, damit Raven einen Moment allein sein kann. Rue hatte es zu weit getrieben. Sie hätte niemals erwartet, dass Raven ihr überhaupt so viel erzählt.

Nachdem die beiden bei dem Pferd von Raven waren geht es ihr wieder viel besser und die beiden unternehmen noch etwas gemeinsam. Sie wollen einen Ausflug in die Stadt machen.

"Standest du schon einmal auf einem Skateboard?", fragt Rue grinsend.

"Auf dieses Ding kriegst du mich niemals drauf!" , protestiert Raven.

"Wieso nicht?"

"Weil das total gefährlich ist und ich nicht vorhatte, heute zu ster-"

"Du wirst dir schon nichts brechen. Komm schon, reiten ist doch sogar viel gefährlicher", grinst Rue und versucht ihre Freundin zu überreden, bis sie es tatsächlich schafft, dass Raven auf dem Skateboard steht.

"Ich will sofort wieder runter. Das fühlt sich total unsicher an"

"Du hast auch echt nicht die richtigen Schuhe an", lacht Rue. Raven hatte schicke Schuhe an. Ihr Style ist generell sehr schick. Sie trägt Schuhe, als wenn sie auf ein Mädcheninternat ginge.

"Komm, ich halte dich an der Hand. Genau, so. Und jetzt mit dem anderen Bein Anlauf nehmen"

"Anlauf nehmen?"

"Ja, also so schieben. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll", sagt Rue lachend.

"Ich nehme kein Bein von diesem Ding, solange ich hier drauf stehe. Du kannst mich gerne schieben, aber zu mehr kriegst du mich nicht. Eigentlich ist es schon ein Wunder, dass ich überhaupt hier drauf stehe", sagt sie und Rue zieht sie ein Stück.

"Okay, dann erlöse ich dich nun von deinem Leid", lacht sie und hält ihre Freundin fest, sodass diese wieder herunter kommen kann.

"Da kriegst du mich nicht noch einmal drauf. Das eine Mal hat gereicht. Wie kannst du dieses Ding nur so toll finden?"

"Wir sind eben grundsätzlich verschieden"

"Aber wir haben eins gemeinsam. Wir lieben Kuchen. Lass uns doch in das Cafe da setzen und einen Kaffee trinken. Hast du Lust?" , fragt Raven.

"Zu Kuchen sag ich nie Nein" , grinst sie.

"Und ich brauch echt ne Pause" , grinst nun auch Raven und die beiden betreten das kleine Cafe.

Die beiden setzten sich in einer der Ecken und bestellen sich etwas zu Trinken.

"Ich hab dich echt unterschätzt." , gibt Rue nach einer Weile zu.

"Wie meinst du das?", fragt Raven.

"Man sollte nie auf die Gerüchte der anderen hören. Du bist eine total coole Person. Und ich bin gerne deine Freundin" , erklärt sie.

"Die Gerüchteküche im Internat ist ne Sache für sich", sagt Raven und verdreht die Augen.

"Wie sind deine Gerüchte eigentlich entstanden?" , fragt Rue vorsichtig.

"Wegen dem Gerücht mit dem Drogen wäre ich fast von der Schule geflogen, dabei habe ich noch nicht einmal einen Joint angefasst"

"Und wie kommen die Leute dann darauf?", fragt Rue. "Bei mir haben die Gerüchte ja wenigstens noch ein wenig Sinn gemacht. Aber was Gemeinsam haben wir immerhin schonmal. Wir wären beide wegen Gerüchten fast von der Schule geflogen" , sagt Rue grinsend.

"Darauf bin ich nicht stolz"

"Es gibt viel zu viele Gerüchte über mich, die die Leute glauben"

"Was denn? Also einige habe ich mitbekommen, aber wieso ist es den bei dir so schlimm gewesen?"

"Naja, es gab da eine Gerücht, dass ich mit allen schlafen würde, sobald sie mich darum bitten würden. Jungs als auch Mädchen. Was natürlich nicht stimmt. Für mich gibt es nur einen Jungen auf der Welt"

"Niv?", fragt Rue.

"Ja" , lächelt Raven. "Und ich weiß, dass das Gerücht über dich und Wny nicht stimmt"

"Na wenigstens zwei Leute, die mir glauben"

"Irgendwie hat das ganze jetzt dich erwischt, was mir echt Leid tut. Ich weiß, wie ätzend das Ganze sein kann"

"Ist schon okay. Ich kann das ab"

"Es ist trotzdem scheiße. Je mehr Gerüchte umher gehen, desto weniger kannst du es am Ende ab"

"Ich musste auch erst lernen, mich davon zu distanzieren"

"Ich galt als die Zicke. Und als wenn ich alles dafür tun würde, um meine Ziele zu erreichen, Bestechung war dabei und sonst was noch alles. Die Leute haben sich irgendwelche Sachen ausgedacht, die überhaupt nichts mehr mit meiner Person zutun hatten"

"Die Leute kannten dich nicht"

"Eben. Sie kannten mich zu null Prozent. Sie kennen mich heute noch zu null Prozent. Niemand weiß, dass ich Mal zwei kleine Zwillingsschwestern hatte"

"Was?", fragt Rue.

"Deshalb bin ich auf das Internat gekommen. Weil meine beiden kleinen Schwestern ums Leben gekommen sind. Meine ganze Familie, bei einem Brand. Und ich hasse mich dafür, dass ich überlebt habe"

"Raven" , sagt Rue und streicht ihrer Freundin sanft über den Arm.

"Du kannst dich nicht dafür hassen. Du bist doch nicht Schuld daran"

"Aber wieso hat es sie alle getroffen? Ich wünschte, es hätte mich allein getroffen. Dann wär mein ganzes Leben nun nicht so beschissen"

"Das kann ich dir nicht beantworten. Aber dein Leben ist nicht beschissen. Du hast Niv, dem du alles bedeutest. Und du hast sogar eine neue Freundin gefunden, die dein wahres Ich kennt. Ich bin immer für dich da, okay?", fragt Rue.

"Okay", erklärt Raven und fasst sich wieder.

"Lass und Kuchen essen" , erklärt sie, als wenn nichts von dem, was eben passiert ist, passiert wäre.

"Das mit deiner Familie tut mir wirklich Leid", versucht Rue das Thema noch einmal abzuschließen, doch Raven reagiert nicht mehr darauf. Sie widmet sich komplett ihrem Kuchen.

Als die beiden aufgegessen haben und bezahlt haben, haben sie ein paar Stunden gequatscht und es ist draußen schon dunkel geworden, sodass die beiden zurück zum Internat müssen. Sie ziehen sich ihre Mäntel über und machen sich auf den Weg.

"Ich fand den Tag heute echt schön. So etwas sollten wir öfter machen", erklärt Rue auf dem Weg.

"Ich mag dich und ich bin froh, dich als meine Freundin bezeichnen zu können" , lächelt Raven sie an.

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