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Das ist sie – die letzte Kiste, um von Rues altem Leben in ihr beschissenes neues zu ziehen. Die letzte Kiste, die sie packt, um sich von immer von diesem Ort zu verabschieden. Sie packt den letzten Gegenstand – einen Teddybären, denn sie damals von ihrer Mutter zur Geburt bekommen hat, in die Kiste.

„Bist du fertig?", fragt ihr Vater sie und Rue nickt.

„Es ist das Beste so. Für uns beide", erklärt er ihr.

„Ich weiß", lügt sie.

Es ist nicht das Beste für die beiden von diesem Ort wegzugehen. Zumindest nicht für Rue. Nachdem er gegangen ist, beschriftet sie noch die letzten Kartons und zündet sich schließlich eine Zigarette an. Ihr Vater hatte ihr verboten, in ihrem Zimmer zu rauchen, aber sie tat es trotzdem immer wieder. Rue öffnet das Fenster und steckt ihren Kopf hinaus. Irgendwie wird sie dieses alte Leben vermissen.

„Rue, wir müssen los", ruft ihr Vater und sie drückt noch schnell die Zigarette an der Außenwand aus. Ihr Vater würde es nicht gerne sehen, wenn er sie beim Rauchen erwischen würde – schon gar nicht, wenn die Neuen bald einziehen würden. Das Rauchen war schon immer eine schlechte Angewohnheit gewesen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie damit angefangen hatte. Rue hasste die Neuen. Sie nehmen ihr das Zuhause weg. Den einzigen Ort, an dem sie sich sicher fühlt. Sie schmeißt die Zigarette aus dem Fenster und nimmt den letzten Karton in die Hand, um ihn ebenfalls zum Auto zu schleppen. Rues Vater sitzt schon auf dem Sitz, als Rue noch einmal ins Haus geht. Sie möchte sich von dem Haus und ihrem Zimmer verabschieden. Sie kann verstehen, weshalb ihr Vater das Haus verkauft hat. Aber sie hätte für alle Ewigkeit in diesem Haus wohnen wollen. Sie hasst die Vorstellung von ihrem neuen Zuhause jetzt schon, obwohl sie es noch nicht einmal gesehen hatte. Ihr Vater hatte es für sie ausgesucht.

Sie sieht sich noch einmal in ihrem Zimmer um. So leer ist es noch nie gewesen – noch nicht einmal bei ihrem Einzug. Sie schultert ihren Rucksack, an dem ihr Skateboard klebt und in die andere Hand nimmt sie den letzten Gegenstand. Ihren Raben in seinem Käfig.

„Das ist das letzte Mal, dass wir dieses Zimmer verlassen. Schon irgendwie traurig. Ich werde all das hier vermissen", verabschiedet Rue sich von dem Raum. Sie geht noch einmal durch das ganze Haus, um sich davon zu verabschieden. In jedem Raum kommen tausend Erinnerungen hoch. Manchmal muss sie lächeln. Als sie ins Wohnzimmer kommt, kommen ihr die Tränen. Es fällt Rue deutlich schwerer, als ihrem Vater. Er ist froh, dieses Haus und die Last, die darin schwebt, los zu sein. Er will all seine Erinnerungen an die schrecklichen Zeiten hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Ein besseres Leben.

„Rue, jetzt komm endlich. Wir haben nicht ewig Zeit", ruft ihr Vater von der Haustür aus. Sie geht aus dem Haus hinaus. Langsam, schlurfend. Es würde Rue nicht stören, wenn sie zu spät kommen würde. Sie hatte sowieso keinen Bock auf dieses bescheuerte Internat. Sie hasste es, dass ihr Vater sie einfach so abschob. Am liebsten würde sie zu spät kommen und aus diesem Grund sofort wieder verabschiedet werden. Sie hatte gehört, dass auf dem Internat strenge Regeln herrschten- angeblich um die Talente ihrer Schüler zu fördern. Einen Rauswurf, ohne überhaupt angekommen zu sein wäre verlockend gewesen, doch Rue wollte ihrem Vater nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten. Er hat genug Probleme. Er lächelt Rue schief an und sie geht hinaus, um sich neben ihn zu stellen. Sie stehen gemeinsam vor dem Haus, vor ihrer Vergangenheit. Die beiden schauen noch ein letztes Mal in den Flur und er zieht die Tür zu, um sich für immer zu verabschieden.

„Steig ein", sagt er und sie steigt mit ihrem Raben auf den Rücksitz. Rue will nicht neben ihrem Dad sitzen. Sie will nicht, dass er sah, wie sie um das Haus trauert. Denn es machte ihn ein wenig stolz, dass er es endlich geschafft hatte, es zu verkaufen und abschließen zu können.

„Es tut mir Leid", sagt er, als er Rue im Rückspiegel erblickt.

„Ist schon okay. Du musstest das tun", erwidert sie und streicht sich schnell eine Träne aus dem Gesicht. Es fällt ihr schwerer, als gedacht, sich von dem Haus zu verabschieden

„Ich wusste, wie sehr es dir wehtut und habe es trotzdem getan", erklärt er Rue.

„Ich werde damit schon irgendwie fertig", antwortet sie.

„Es ist unfair. Du musst all deine Freunde hinter dir lassen. Ich habe das einfach so entschieden. Rue, es tut mir wirklich Leid", entschuldigt er sich noch einmal. Erst jetzt, nachdem es zu spät ist, erkennt er die Folgen. Er würde es nicht rückgängig machen, weshalb seine Entschuldigung sinnlos ist.

Durch Rues Tränen realisiert er erst, was er ihr durch den Verkauf des Hauses genommen hat. Ihr Zuhause. Rues Rückzugsort. Alles, was sie noch von ihr hatte. Rue wurde nicht oft emotional. Nur bei diesem einem Thema kamen ihr immer die Tränen.

„Du musstest es tun, Dad. Ich hoffe, wir bekommen deine Probleme nun in den Griff", erklärt sie lächelnd. Es ist ihr unangenehm darüber zu sprechen.

„Vielleicht brauchen wir beide einfach einen Neuanfang", erklärt er.

„Ich bestimmt nicht", denkt Rue, spricht es aber nicht laut aus. Sie hätte nichts dagegen gehabt, bei ihren Freunden zu bleiben und sich in ihrer Trauer zu ertränken. Obwohl sie es an dem anderen Ort ebenso tun könnte. Wahrscheinlich ist es an einem anderen Ort noch leichter, weil Rue nicht mehr das Gefühl haben wird, in ihrer Nähe zu sein.

Nach einigen Stunden Fahrt kommen die beiden in Königsfelde an. Ihrem neuen Zuhause. Und sie hasst es vom ersten Moment an. Rue schaut aus dem ersten Fenster und fragt sich, was an diesem Königsfelde so besonders sein soll. Alle betonten immer, wie wunderschön Königsfelde sein sollte, doch sie hasst es vom ersten Moment an. Sie sieht nur die schmutzigen Ecken, den Ekel und die Hässlichkeit. Und dann parken die beiden vor Rues neuem Zuhause, wohin ihr Dad sie schickt. Einem stinkenden Internat.

„Soll ich dir die Koffer auf dein Zimmer bringen?", fragt er liebevoll. Rue weiß, dass er es bloß lieb meint, ist aber trotzdem patzig.

„Wenn du mich allein lässt und ich alleine wohnen soll, dann kann ich wohl mein beschissenes Gepäck auch alleine schleppen", erwidert sie.

„Rue", sagt er sanft.

„Was?", fragt sie schnippisch.

„Es tut mir so unendlich leid. Aber ich brauche jetzt erst einmal ein bisschen Zeit für mich, um mich zu finden und mit all dem fertig zu werden"

„Als wenn du dazu nicht schon genug Zeit gehabt hättest", sagt sie leise. Ihr Vater kann dies zum Glück nicht hören.

„Ich liebe dich und das weißt du hoffentlich. Ich komme dich bald besuchen, okay?", fragt er. Sie nickt und er nimmt seine Tochter in den Arm. Rue liebt ihren Vater, aber manchmal hält sie ihn für einen Arsch. Er schiebt sie einfach in dieses Internat, um sich um sich selbst zu kümmern. Seitdem es passiert ist, ist er nicht mehr er selbst gewesen. Keinen einzigen Tag. Sie hofft, dass es ihm besser gehen wird, auch wenn er sie dafür abschieben muss.

„Soll ich dir wirklich nicht helfen?", fragt er.

„Nein. Ich finde mein Zimmer schon selbst", erklärt Rue distanziert.

„Dann gehe ich jetzt wohl. Kommst du klar?", fragt er. Rue rollt mit den Augen.

„Ja, Dad"

Nachdem er sich umdreht und gehen will, läuft sie noch einmal auf ihn zu und umarmt ihn ein letztes Mal.

„Ich hab dich lieb und werde dich vermissen, okay?", fragt Rue ihn.

„Ich hab dich auch lieb und werde dich auch vermissen, okay?", fragt er seine Tochter und erwidert ihre Umarmung, bevor er die Stufen des Internates wieder hinunter geht und sich ins Auto setzt, um für alle Ewigkeit wegzufahren und Rue im Stich zu lassen. Noch nie hat Rue ein Abschied so sehr wehgetan, wie dieser hier. Naja, fast. Ein Abschied war noch schlimmer, als dieser. Als sie an diesem Abschied denkt, steigen ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie sieht ihren Vater hinterher und erst als sein Auto am Horizont nicht mehr zu sehen ist, starrt sie auf ihre dunkelroten Doc Martens. Nun steht sie in diesem riesigen Gebäude, ganz auf sich allein gestellt. Allein gelassen.

„Alles okay?", fragt eine Stimme plötzlich hinter Rue.

„Alles bestens", antwortet sie bissig. Sie hatte nicht vor, sich beliebt zu machen. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden. Rue lässt ihren Koffer und ihren anderen Kram mitten im Raum stehen und geht erst einmal hinaus, um eine zu Rauchen. Der Junge kommt mit nach draußen.

„Rauchen ist hier verboten", erklärt er.

„Mir scheiß egal.", antwortet Rue. Sie hatte nicht vor, Freunde zu finden.

„Ich bin Wyn"

„Interessiert mich einen scheiß Dreck", sagt sie und fragt sich, weshalb sie überhaupt mit diesem Wyn redet.

„Du hast deine Koffer mitten im Weg stehen lassen. Soll ich dir helfen, dein Zimmer zu finden?", fragt er freundlich.


Nun ignoriert sie ihn und nimmt noch einen Zug.

„Bist du neu?", startet er einen weiteren Versuch. Was für eine blöde Frage. Wenn Rue beschissenes Gepäck dabei hat und es mitten im Schuljahr ist, wird sie wohl nicht aus dem Urlaub kommen. Sie unterlässt einen Kommentar in diese Richtung und nimmt noch einen Zug der Zigarette. Als sie weiterhin nicht auf seine Fragen eingeht, ist er ebenfalls still. Sie raucht die Zigarette zu Ende und tritt sie auf dem Boden aus. Dann dreht sie sich um und schleppt ihr Gepäck die vielen Stufen hinauf. Sie hatte keine Ahnung, wo die Zimmer liegen, geschweige denn wo ihr eigenes Zimmer sein sollte. Außerdem hatte sie auch keinen blassen Schimmer, weshalb sich niemand um sie kümmerte. Es musste schließlich eine Schulleiterin geben. Sie zieht die Sachen über den Flur und schaut sich um. Es kommen ein paar Schüler auf sie zu und kichern. Sie hasst Menschen, eindeutig.

„Brauchst du doch Hilfe bei der Zimmersuche?", fragt Wyn, der wieder aufgetaucht ist.

„Ziemlich uncool übrigens, die Zigarette einfach so liegen zu lassen"

„Zeig mir mein Zimmer und lass mich danach in Ruhe, okay?"

Er läuft mit Rue durch das halbe Internat und zeigt ihr das Zimmer. Das Internat ist verflucht groß und sie ahnt schon, dass sie sich nicht so leicht zu Recht finden würde, wie in Hamburg. Trotzdem hatte sie keinen Bock auf Wyn, der immer noch in der Tür steht.

„Was machst du noch hier?", fragt Rue.

„Wie wäre es mit einem Danke?", fragt er grinsend. Sie fragt sich, weshalb dieser Kerl so gute Laune hat. Er ist die ganze Zeit am Dauergrinsen, was ihr tierisch auf die Nerven geht. Sie bricht sich einen Dank ab und knallt die Tür hinter sich zu.

„Und, war das jetzt so schlimm?", fragt er durch die Tür.

„Verschwinde", faucht sie und betrachtet ihr Zimmer. Eine Seite, die wohl ihre sein wird, ist frei. Auf der anderen Seite ist alles eingerichtet und ihre Mitbewohnerin scheint gar nicht so übel zu sein. Vielleicht würde sie doch Freunde finden. Es steht ebenfalls ein Skateboard in dem Zimmer. Sie beginnt ihre Sachen auszupacken, als auf einmal jemand hineinkommt. Das würde Rues Mitbewohnerin sein. Doch als die Tür sich öffnet, kommt ein Junge hinein, denn sie sofort anmacht.

„Was zur Hölle willst du in meinem Zimmer?", faucht Rue ihn an.

„Moment Mal. Das ist MEIN Zimmer", sagt er. „Aber ich hätte nichts dagegen, mit dir in einem Zimmer zu wohnen", sagt er grinsend.

„Arschloch", sagt Rue und packt ihre Sachen, so schnell es geht wieder ein.

„Wyn. Ich hasse dich", sagt Rue, denn er steht lachend vor der Tür.

„War doch lustig"

„War es nicht"

„Kannst du mir jetzt mein echtes Zimmer zeigen? Obwohl ich dir eigentlich gar nicht mehr vertrauen sollte", erklärt sie ihm.

„Komm mit. Der Mädchentrakt ist dort hinten", erklärt er. Rue verdreht die Augen. Was ein Klischee.

„Danke", bedankt sie sich dieses Mal ehrlich. Denn es ist ein Mädchenzimmer. Durch und durch. Mit einer Tusse, die darin wohnt. Überall auf dem Schreibtisch liegen Schminksachen und Rue erkennt nun schon, dass das Mädchen scheinbar eine Reit-Tussi ist. An der Tür stehen Reitstiefel und ein Reithelm hängt auf einem der Haken. Die Seite von dem Mädchen ist total ordentlich. Lange würde Rues Hälfte nicht ordentlich sein und wahrscheinlich würde ihre Zimmernachbarin sich total darüber aufregen.

„Kann ich nicht vielleicht doch lieber mit dem Kerl in einem Zimmer wohnen?", fragt sie Wyn.

„Ich freu mich auch, dass du meine neue Mitbewohnerin wirst", stellt sich das Mädchen vor. Sie hasst alles an diesem Internat. Alles.

„Das ist-", will Wyn sie vorstellen, doch Rue hat ihm ihren Namen noch gar nicht verraten.

„Brauchst du nicht zu wissen. Ich bin sowieso bald wieder weg. Ich habe nicht vor, lange hier zu bleiben", erklärt Rue den beiden.

„Freut mich auch, dich kennenzulernen. Das kann ja ein Spaß werden", rollt sie mit den Augen und dreht sich wieder zu ihrem Bett, ohne ihren Namen zu nennen. Nun rollt Rue ihr Koffer in das Zimmer und setzt ihren Raben auf ihren Schreibtisch.

„Der bleibt auf deiner Seite", sagt sie und hält sich die Nase zu. Rue hatte offenbar recht mit ihrem Vorurteil. Eindeutig Tusse.

„Er stinkt nicht. Du hast nur zu viel in deinem hässlichen Parfüm gebadet", erklärt Rue ihr. Das Mädchen sprüht sich nun noch einmal demonstrativ mit dem stinkenden Parfüm ein.

„Ich sehe schon, ihr kommt klar", sagt Wyn und bekommt sein Grinsen immer noch nicht aus deinem Gesicht. „Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben"

„So schnell kannst du gar nicht schauen, wie ich hier den Abgang mache"

„Ich hasse es. Ich hasse es. Ich hasse es", schreibt sie ihrer besten Freundin aus Hamburg.

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