6. Rastlosigkeit
Hongjoong hätte es mir eher sagen müssen, was genau er von Jiho erfahren hatte. So legten wir einige Tage später im Süden Islandes an und ich hatte noch keinen blassen Schimmer, was uns dort erwartete. Ebenso wie der Rest der Crew.
Die Gewässer waren ruhig, als wir uns der kleinen Insel genähert hatten und die Schatten, die in den zerklüfteten Klippen vor uns lauerten, mit Leichtigkeit als natürlich abtaten. In der Ferne waren hohe, eisbedeckte Berge zu sehen, weiße Leinwände hinter dem Gold des Herbstes.
Hongjoong war einer der wenigen, der die hübsche Aussicht nicht zu genießen schien, mehr so denn je. Als Künstler und Liebhaber von Musik und Poesie es stets seine Augen, die die Welt anders betrachteten, die Farben hörten und seine Finger aufriefen zu schaffen. Hongjoong wusste den Moment normalerweise immer zu schätzen.
Nicht dieses Mal.
"Behalte die See im Auge. Ich traue ihr heute nicht."
Ich wandte bemüht desinteressiert den Kopf, von wo ich mit Yeosang an meiner Seite die Insel vor uns betrachtet hatte, versuchte etwas in Hongjoong leises Gespräch mit Seonghwa hinein zu lauschen.
Sie waren beide angespannt, die Blicke fahrig.
"Denkst du nicht, es ist sicherer Yunho zu schicken und ihn hier zu erwarten?" Seonghwa beugte sich leicht zu Hongjoongs Haupt hinab, um zu sprechen, dämpfte seine Stimme weit genug herab, dass ich den Rest des Satzes nicht mehr hörte.
"Nicht, wenn das, was er gesagt hat stimmt. Wir können unmöglich wissen, wo der Eingang ist. Ich will es vermeiden Yunho alleine dorthin gehen zu lassen.", murmelte Hongjoong zurück, ließ die Augen wieder fahrig über die nahe Küste schleifen.
"Die beiden machen einen nervös, hm?"
Ich konzentrierte mich auf Yeosang an meiner Seite, bekam meine Haare achtlos vom Wind in mein Gesicht geschmissen, als ich versuchte ihn anzusehen. Die frische Luft roch nach Schnee, nach der unverwechselbaren Kälte des Winters.
"Du weißt, worum es geht?" Ich kam nicht umhin neugierig den Kopf schief zu legen, rätselnd in Yeosangs Augen zu starren, die ziellos gen Horizont gerichtet waren. Der Mann wusste es immer als erstes, wenn etwas auf dem Schiff verheimlicht wurde, kannte jedes kleine Geheimnis und Detail über einen jeden an Bord. Niemand wusste, woher Yeosang seine Informationen nahm. Ob es Patienten in Delirium waren, die blabberten, oder ob das Meer sie ihm zuwisperte wie es es bei Hongjoong tat, es blieb ein Rätsel.
"Wir suchen etwas.", gab er seine ominöse Antwort und ich strich mir das Haar aus dem Gesicht, rückte etwas näher, um sein Murmeln auch ja nicht misszuverstehen.
"Natürlich tun wir das. Wir suchen den Schatz. Von Hongjoongs Mutter. Um ihn zum Piratenköng zu machen." Ganz selbstverständlich, das war klar.
"Tsukiko."
Ich traf Yeosangs ruhige und gefasste Augen mit Verwirrung. Das Gespräch war ernst, die tiefe Stimme von einer nüchternen Distanz, die ich nicht von ihm gewohnt war. Weg war aller Schelm.
"Hast du je einen genaueren Blick auf die Karten geworfen, die wir dem Conte entwendet haben? Je geprüft, weswegen wir so lange an seinem Rockzipfel hingen?"
"Es sind Seekarten, Yeo. Ich bin kein Navigator und viel weniger noch ein Spezialist im Gedankenlesen." Der Wind brachte abermals mein Haar durcheinander, zerrte an meinen Gliedern wie als versuchte er mich ins Meer zu befördern. EIn Blick nach oben bestätigte meinen Verdacht sich rasch ballender Wolken. Über uns flatterte die schwarze Flagge aufgebrachter am Mast.
"Es sind die Seekarten der Roten Königin. Von Hongjoongs Mutter.", erklärte er sanft, wandte sich bereits zum Gehen um. Ich drehte mich mit ihm, hob etwas die Stimme, um ihm hinterher zu rufen.
"Aber das weiß ich doch. Hongjoong hat es uns allen laut verkündet, du warst dabei, als wir sie studierten!"
Yeosang drehte sich nicht mehr um, sondern hielt stur geradeaus, auf Jongho zu, der ihm bereits ungeduldig entgegen sah.
"Es gibt nur eine Karte, die zu dem Schatz führt, den wir suchen. Sie war unter anderen beim Conte." Damit schritt er die schwankenden Stufen zum Deck hinab, zog im Gehen seine Maske von seinem Hals über sein Kinn herauf.
Kurz starrte ich ihm verloren nach, fröstelte etwas im kalten Wind, bis mir das entscheidende Detail ins Auge fiel.
Wir segelten nicht nach den Karten des Conte. Wir segelten nach der Karte, die Jörmungandr uns vor langer Zeit aus dem Wasser geholt hatte, kurz vor Ragnarök. Wenn der Conte die eigentliche Schatzkarte gehabt hatte...
Mein Blick glitt zu Hongjoongs aufrechter Figur, klein neben Seonghwa, jedoch mit einer Ausstrahlung, die unmissverständlich klar machte, wer er war. Seine erhabene Gestalt stand stark gegen den ungeduldigen Wind, ließ keinen Raum für Diskussion und Zweifel offen.
Meine geflüsterten Worte verloren sich im Wind, nicht dazu bestimmt gehört zu werden. Die Kälte nahm sie wie ein Geheimnis zwischen ihr und mir von meinen Lippen.
"Was suchst du?"
Was taten wir so weit oben im Norden? Sicher, am Anfang hatte es für mich Sinn ergeben. Hongjoong selbst stammte aus Norwegen, warum also nicht sollte seine Mutter den Schatz in der Nähe ihrer Heimat verstecken?
Aber in Zusammenhang mit den Karten ergab es schon deutlich weniger Sinn. Der Crew wurde damals nur gesagt, dass wir von nun an nach dem Schatz suchten. Keiner außer Hongjoong und Seonghwa bekam die ursprünglichen Karten zu Gesicht. Sicher, niemand wusste von dem Unterschied zwischen dieser und jener, Hongjoong hätte uns problemlos eine ganz andere Karte vorlegen können und berichten sie sei die seiner Mutter. Obwohl wir in Wahrheit ein anderes Ziel verfolgten.
Mein Blick fand wieder etwas in den Fokus zurück, traf direkt auf Hongjoongs feurige Augen. Der Mann hatte sich in meine Richtung gewandt, nahm den brennenden Blick nicht von mir, während Seonghwa der Crew deutete ruhig zu bleiben.
Bei genauerem Hinsehen war ich zum Zentrum aller Interesse geworden, nicht wenige starrten mit schreckensgeweiteten Augen. Wooyoung hing sogar in Yunhos starken Armen, den Mund unter der Hand des Größeren erstickt.
Es herrschte Totenstille.
Hatte ich laut gedacht? Ein Geheimnis ausgeplaudert? Die See wurde immer wilder, warum tat niemand etwas? Die Segel mussten eingeholt werden und die Taue festgebunden. Wir sollten in einer Bucht Schutz suchen.
Über unser genaues Ziel konnten wir auch immer danach noch nachdenken.
Ich öffnete gerade den Mund, um einen neckischen Aufruf zur Arbeit zu ihnen hinüber zu werfen, als eine Stimme hinter mir sprach.
Kein gutes Zeichen.
Hinter mir war nichts. Nur Holzwände, wo das Schiff zur Kapitänskajüte wurde.
'Hinter mir' war auch relativ zu betrachten. Während die Stimme von hinten kam, so schien sie eigenartigerweise auch von oben zu kommen, sehr viel weiter oben. Sie musste irgendwo in der Luft hängen und ich kannte nichts und niemanden, der von der Luft aus mit mir sprechen würde.
Die Stimme war wie ein sanftes Flüstern, schien eins zu sein mit dem Rauschen der Wellen und doch schärfer. Einlullend zwar, aber intelligent genug, um Misstrauen zu wahren.
"Verzeiht mir die Frage, werte Dame... Aber hättet ihr womöglich einen Eimer oder ein Fass, das Ihr mir leihen könntet?"
Ich kannte das Säuseln nicht und versuchte aus den Augenwinkeln etwas zu erahnen, fand nur dunklen Himmel und grollende Wolken, die unnatürlich schnell näher kamen.
Mein Blick fand wieder den Hongjoongs, kalkulierte schnell das kalte Feuer in seinen Augen, wie er keinen Finger zu rühren wagte.
...Götterbrut?
"Welche Art von Fass benötigt Ihr? Wir haben kleine und große.", erwiderte ich vorsichtig nach hinten hin, wagte es weiterhin nicht mich umzudrehen. Genug von ihnen legten es genau darauf an. Auf einen Blickkontakt, der tödlich enden konnte.
Hongjoong blinzelte langsam, verwirrt. Er war verwirrt? Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich brauchte genauere Signale.
"Oh, ein Kleines genügt schon. Hier ist so viel Wasser zu schöpfen.", kicherte es fast verlegen, verschlagen noch dazu.
Gerade setzte ich an zu antworten, als mir die Worte im Hals stecken blieben.
Japanisch. Es hatte mich auf japanisch angesprochen.
Japanische Götterbrut war ein stetes Ringen mit dem Tod. Anders als eigenartige Geschöpfe, die einen konfus wie Tiere angriffen, waren unsere japanischen Freunde oft voller Verschlagenheit, fiese Seelen mit ausgefuchsten Gedanken.
Wir waren einmal einer kuchisake onna begegnet und eines der naiven Crewmitglieder hatte es gewagt sie hübsch zu nennen. Er starb an der Entzündung, die ihm buchstäblich das Fleisch vom Gesicht schmolz, das blutige Engelslächeln ein Bild, das mich bis heute jagte.
Dieses hier wollte ein Fass.
Und ein Fass sollte es bekommen.
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