Kapitel 17
„Wie hast du mich gefunden? Und warum bist du ...?" Schnell schlug ich die Tür mir zu und stopfte Jacke und Rucksack in die Fußablage, wo sich augenblicklich eine Pfütze bildete.
„Dein Schulweg ist ziemlich offensichtlich. Und bei dem Wetter konnte ich dich nicht länger als nötig herumspazieren lassen", erklärte Micha. Mit einem resignierten Blick auf mich fügte er hinzu: „Das hat jetzt aber auch nichts mehr geholfen."
„Und ob das was geholfen hat!", protestierte ich und streckte meine klammen, schneeweißen Finger erleichtert der Autoheizung entgegen. Wie gut, dass zwischen der zweiten und dritten Stunde eine Zwanzig-Minuten-Pause war. Das Micha extra losgefahren war, nur um mich abzuholen!
Der Gedanke wärmte mich von innen, und augenblicklich hörte ich auf, am ganzen Körper zu zittern.
„Wie waren deine beiden ersten Stunden?", fragte ich, und fühlte mich beinahe so, als würde ich mit einem Schüler plaudern.
„Ganz nett. Ich war halt müde", antwortete Micha, der nicht im Geringsten müde wirkte. Keine Augenringe verunzierten sein Gesicht, und es war beinahe unverschämt, wie gut er mal wieder aussah. „Und, bist du heute morgen gut aus dem Bett gekommen?"
„Ich bin zwar aus dem Bett gekommen, aber ich hab auf dem Fußboden weitergeschlafen", gestand ich, was Micha zum Lachen brachte.
Kurz darauf saß ich mit trockenen Klamotten, und sogar trockenen Haaren (ich hatte meinen Kopf unter den Handtrockner gehalten) im Deutschunterricht und träumte vor mich hin.
Alles in allem war meine Stundenleistung eher schlecht, aber als wir den Auftrag bekamen, eine romantische Kurzgeschichte fertig zu schreiben, brachte ich die beste literarische Leistung meines bisherigen Lebens zu Papier.
Und da mich die Lehrerin zwang, vorzulesen, konnte meine mündliche Note für die Doppelstunde nicht allzu miserabel ausgefallen sein.
Müde aber überglücklich spazierte ich mit Mia in die Pause und verkroch mich mit ihr in unsere Regen-Ecke.
„Na, wie war Ju-Jutsu gestern?", fragte sie.
Ich lächelte selig.
„Sturmfreie Bude?", fragte Mia in einem so anzüglichen Tonfall, dass ich mich vor Schreck an meiner Pizza verschluckte.
Es war inzwischen Mittag geworden und wir verbrachten unsere Mittagspause beim Italiener, den wir dank Mias Schirm halbwegs trocken erreicht hatten.
Mit einem Schluck Wasser spülte ich die Pizza herunter und atmete betont langsam ein und aus, was sich jedoch aufgrund meines rasenden Herzens als schwierig erwies.
„Lena, Lena, das ist die Gelegenheit!", frohlockte meine Freundin, und ich war mehr als nur froh, dass außer uns kaum Gäste hier waren.
„Was für eine Gelegenheit?", röchelte ich, obwohl ich mir nur allzu gut vorstellen konnte, was Mia meinte.
„Nicht vergessen: Lass dir erst hoch und heilig schwören, dass er dein Freund sein will, bevor du ... zu intim wirst", riet sie mir mit einem schelmischen Grinsen. „Ich kann dir heute auch gerne noch etwas über Verhü..."
„Micha ist nicht so ein Kerl!", fiel ich ihr ins Wort.
„Alle Kerle sind solche Kerle", entgegnete Mia trocken.
Ich habe ein Déjà-Vu, dachte ich. Vielleicht hatte ich aber auch einfach in letzter Zeit zu viel über das Thema geredet.
„Ich bin aber nicht so ein Mädchen", sagte ich leise, und noch während die Worte über meine Lippen huschten, wusste ich, dass sie wahr waren. Sosehr ich auch verliebt war, und so schön es sich auch anfühlte, Micha zu berühren – ein Kuss war schon ein fremdes Universum, und alles andere konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Alles andere wollte ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen.
Als ich nach Kunst nach hause kam, hatte der Regen zum Glück nachgelassen, und nachdem ich mir drei paar trockene Socken und zwei Wollpullis angezogen hatte, wurde mir wieder warm.
Der ganze Tag war furchtbar anstrengend gewesen, und am liebsten hätte ich mich einfach auf mein Bett fallen gelassen und geschlafen, aber dafür musste ich noch zu viele Hausaufgaben bis morgen erledigen.
Kaum zu fassen. Schließlich hatte ich morgen nur Bio und Englisch, aber die beiden Lehrer hatten es gut mit uns gemeint.
Fluchend versuchte ich Diagramme über Fischpopulationen auszuwerten und las das nächste Kapitel des Englisch-Buchs. Dabei drohten meine Gedanken immer wieder, abzudriften, aber ich zwang sie jedes Mal konsequent zu den Buchstaben auf den Seiten zurück.
Danach begann ich mit der Zusammenfassung, wurde jedoch von der Klingel unterbrochen.
Erschrocken sah ich auf die Uhr, fiel beinahe vom Stuhl und stolperte Richtung Haustür.
Oh mein Gott, wie hatte die Zeit so schnell verfliegen können? Ich war noch nicht einmal dazu gekommen, zu Abend zu essen!
Plötzlich knurrte mein Magen ganz fürchterlich, mein Herz überschlug sich, mein Kopf brummte, aber als ich die Tür öffnete, wurden all diese Gefühle abrupt durch ein Lächeln ersetzt.
„Hallo Micha", begrüßte ich ihn. „Ich hab schon wieder die Zeit vertrödelt."
„Hallo Lena." Sanft schloss Micha mich in die Arme. „Na, wie geht's?"
„Gut", sagte ich, konnte das Grinsen jedoch immer noch nicht von meinem Gesicht wischen. „Ich hab nur ein bisschen Hunger."
„Noch nichts zu Abend gegessen?", fragte Micha entgeistert.
Ich nickte.
„Wir haben noch ein paar Minuten", sagte er und scheuchte mich zurück ins Haus. „Sind deine Eltern da?"
„Nein", antwortete ich. „Die sind auf einem Konzert."
Micha folgte mir in die Küche, wo ich mir schnell zwei Scheiben Brot schmierte. Immer, wenn ich mich nach ihm umsah, schien er das Haus zu mustern, aber ich wurde den Verdacht nicht los, dass er eigentlich mich ansah.
„Was hast du eigentlich den Nachmittag über gemacht, dass du sogar das Abendessen vergisst?", fragte Micha mich, als ich mir mein Ju-Jutsu-Kram schnappte und mit ihm das Haus verließ.
„Hausaufgaben", erklärte ich und zog die Tür hinter mir zu.
„Sehr vorbildlich", lobte Micha grinsend.
Ich langte in meine Jackentasche, um abzuschließen, und erstarrte.
„Was ist?"
„Mein Schlüssel!", rief ich panisch aus und durchforstete hektisch all meine Taschen. Aber eigentlich war mir bereits klar, dass ich ihn innen in der Tür stecken hatte. „Das darf nicht wahr sein!"
„Naja, deine Eltern kommen ja heute Abend wieder", tröstete Micha mich, aber seine Worte lösten die entgegengesetzte Reaktion aus.
„Nein, kommen sie nicht! Argh! Sie übernachten bei Oma!", jammerte ich und warf mich gegen die Tür, was natürlich nichts brachte. „Oma! Ich ruf Oma an!"
Dann wurde ich endgültig totenbleich. „Mein Handy ist auch drinnen."
„Hier." Micha reichte mir sein eigenes Handy, aber ich winkte ab.
„Ich kann die Telefonnummer nicht auswendig."
„Ich fahr dich nach Ju-Jutsu bei deiner Oma vorbei", bot Micha sofort an.
„Das willst du nicht", sagte ich trocken und schwang mich auf den Beifahrersitz. „Das ist über eine Stunde Fahrt. Ich übernachte einfach bei Mia."
„Klingt nach nem Plan." Erleichtert ausatmend ließ Micha sich ins Auto sinken und ließ den Motor an.
Während ich mein Brot mampfte, erzählte Micha von seinem Tag, und ich warf hin und wieder ein paar undeutliche Kommentare ein.
Dann hatten wir die Kampfsporthalle erreicht, und ich sah die ersten bekannten Gesichter mit geschulterten Sporttaschen darauf zusteuern.
Erst als wir gemeinsam auf die Halle zuliefen, fiel mir auf, wie sehr ich mich in den letzten Tagen verändert hatte. Statt in Michas Gegenwart keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können und jedes Mal einem Herzrasen zu erliegen, fühlte ich mich neben ihm auf einmal pudelwohl.
Warm, glücklich, aber immer noch bei klarem Verstand.
Beim Schuhe Ausziehen im Vorraum stützen wir uns jeweils auf der Schulter des anderen ab, wobei wir und alle Mühe gaben, den anderen zu Fall zu bringen.
Schließlich saßen wir beide lachend auf dem Boden und ein Mädchen, das ich nur flüchtig vom Sehen kannte, stieg irritiert über unsere Beine, um in die Halle zu gelangen.
„Micha, mach dich nicht so breit! Hier kommt ja keiner mehr durch", zog ich ihn auf.
„Werd nicht frech, Kleine", drohte Micha, wobei er mich am Kragen packte und gegen die Wand drückte.
„Argh! Nicht handgreiflich werden!", protestierte ich lachend, doch meine Befreiungsversuche waren nicht von Erfolg gekrönt.
Links neben mir die Treppe, hinter mir die graue, leicht poröse Wand, die ich eigentlich lieber aus einer gewissen Entfernung betrachtete. Vor mir Micha, mit einem fiesen Grinsen auf den Lippen und funkelnden Augen, die mein Herz höher schlagen ließen.
Große starke Hände fixierten meine Schultern an der Wand, mein Körper stand in Flammen, und es hatte sich noch nie so gut angefühlt, unterlegen zu sein.
Eigentlich hatte ich meinen Spaß daran, Kerlen zu zeigen, dass Mädchen nicht immer hilflose Prinzessinnen waren, aber in Michas Armen schien es beinahe verlockend, eine Prinzessin zu sein.
Mein Gott!, dachte ich, aber auch dieser letzte Gedanke versank in Michas dunklen, tiefgründigen Augen. Unbemerkt hatten sich meine Lippen leicht geöffnet, sodass ich im besten Falle wie eine Heldin aus einem tiefromantischen Liebesfilm aussah, im schlimmsten Falle jedoch wie ein Karpfen.
Micha schien nur die Heldin aus dem Liebesfilm zu sehen, denn im nächsten Moment kniete er über mir. Meinen Oberkörper presste er immer noch gegen die Wand, meine Beine waren zwischen seinen Knien eingeklemmt, seine Nase streifte meine.
Gerade überlegte ich mir, ob ich meinen Enkeln wirklich erzählen wollte, dass mein erster Kuss in einem dreckigen Treppenhaus stattgefunden hatte, als die Eingangstür aufschwang und einer unser Kampfsportkollegen erschien. Augenblick erstarrte er mit dem ersten Fuß auf der Treppe, aber Micha reagierte geistesgegenwärtig, nahm mich in den Schwitzkasten und schüttelte mich spielerisch.
„Wie war das mit dem Breitmachen?", fragte er mich neckend.
„Ich nehm's zurück!", jammerte ich, immer noch zu durcheinander, um mich zu wehren.
„Hi ihr zwei." Grinsend und deutlich erleichtert kam der Mann die Treppe hinaufspaziert.
„Rein mit dir", sagte Micha und hielt mir galant die Tür auf.
„Ganz der Gentelman", zog ich ihn auf, und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, als er mir sanft die Hand auf den Rücken legte, um mich hineinzuschieben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top