13

Wir hatten das Dorf erreicht, doch sein sonst so schauriger Anblick war nun ganz anders, denn es glich einem Meer aus kleinen Lichtern. Es schien alles so... friedlich, ganz anders als sonst, aber wieso machte es einen so befremdlichen Eindruck auf mich? Die Meere der Lichter, die an denn zerfallenen Gebäuden hingen, das passte nicht. Friedlich, obwohl es kaputt war, aber was sollte das? Ich begann nachzudenken, auf der anderen Seite gab es oft so viele Lichter, gerade zur Weihnachtszeit, jedoch schien es nur noch um den Wert eines Geschenks zu gehen. Mir war bewusst wie sehr ich vom Thema abschwiff, aber weshalb mussten Geschenke viel kosten? Ich hatte Weihnachten gehasst, stets packte ich denselben Schmuck aus, ob Silber oder Gold, es bedeutete mir nichts, da es eigentlich kein Geschenk an mich war. Einmal hatte ich Helena einen kleinen Kissenbezug gestrickt. Zugegeben, er war nicht sonderlich schön, aber in einem Schaufenster hatte sie einen solchen für viel Geld gesehen. Ich war damals vielleicht zehn oder elf gewesen, aber schon dort hatte ich begriffen, dass Weihnachten nicht das Fest der Liebe war, sondern des Geldes. Der Bezug, in den ich so viel Mühe und Liebe gesteckt hatte, war später im Mülleimer gelandet.

»Was ist hier los?«, wandte ich mich an Tia, während wir durch die merkwürdig leeren Straßen schritten, wobei ich in weiterer Entfernung leise Musik spielen hören konnte, welche mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Melodie hatte ich sofort erkannt, sie stammte von der anderen Seite, jedoch wusste ich nicht mehr so ganz weshalb man sie spielte, da viele der Lieder nur zu besonderen Anlässen gespielt wurden.

»Ich dachte Rosy hätte es dir schon gesagt? Na ja, ist auch egal, das Fest zum Kriegsende, obwohl niemand hier wirklich feiert, du wirst verstehen was ich meine, wenn du es siehst.« Grausamkeit erschien mir das erste Schlagwort. Ich kannte die Geschichte nun in etwa, weshalb mir auch bewusst war, dass die Scotts somit mit ihrem Triumph prahlen wollten, um so den Menschen hier zu zeigen, dass sie sie für 'wertlos' hielten. Daran erkannte man wie krank sie waren, sich selbst für besser halten, obwohl sie sich zur Herrschaft gemordet hatten.

Angespannte Menschen, nicht einer durfte auffallen, alles musste perfekt sein. Es musste für das wenige Geld was sie hatten gegessen werden und tanzen mussten sie auch. Ich kannte die Bräuche, jedoch hatte ich sie auch schon früher für schlimm empfunden, iss viel, werde aber nicht dick, verliebe dich, aber am besten nur in einen einzigen und dann für immer, damit man nicht auffiel, trink Alkohol, damit du gesprächig wirst, aber trink nicht zu viel. Brauch für Brauch, Wiederspruch zu Wiederspruch. Ich war all diese Dinge gewohnt, aber warum führte man sie hier ein?

»Ich verstehe es so schon.«, murmelte ich und nahm die Musik immer lauter wahr, jedoch auch gezwungenes Gelächter, worin der Schmerz großen Anteil nahm. Es war wie auf der anderen Seite, nur das die Menschen dort sich so sehr an ihre Maske gewohnt hatten, dass sie nicht mehr daran dachten sie abzunehmen, aber war ich denn besser gewesen?

'Ja, das Beispiel mit den Masken ist gut. Du nahmst sie ab, sodass ich durchdringen konnte. Die Stimmen der anderen, zu Beispiel die Helenas, waren verstummt, sie sahen keinen anderen Weg.', meldete sich Freya in meinen Gedanken zu Wort. Ein harter Brocken, aber es stimmte. Die Perfektion wurde zur Normalität, es war immer dasselbe, kaum etwas veränderte sich, da sich keiner etwas traute. Ich nahm mich nicht davon aus, ich war selbst nicht besser, aber seitdem ich mich zurück erinnerte war alles dasselbe gewesen. Die Malereien, alle dieselben Farben und Muster, die Mode, alles dieselben Themen, der Klatsch, in dem jeder lästerte, obwohl er selbst nicht besser war. Was machte einen Menschen berühmt? Es war sein Talent, aber man durfte es erst preisgeben, wenn es perfekt war. Einer der größten Widersprüche, wenn man mich fragte. Kaum einer war mit einem ausgebauten Talent geboren, man musste es entdecken und lieben lernen.

»Da ist Jayden, kommst du mit oder willst du zu Rosy, bevor sie noch denkt du hättest eine Essstörung?«, scherzte sie etwas, als wir das erzwungene Fest im Lichtermeer erreichten. Ich wollte wirklich zu meiner Mutter, aber unser Gespräch war noch nicht beendet gewesen. Im besten Fall würden wir uns voneinander erzählen, aber ich glaubte eher an eine angespannte Atmosphäre.

»Ich gehe nachher zu ihr.«, versicherte ich ihr, als wir uns Jayden näherten. Erst nun fiel mir überhaupt auf wie angemessen alle gekleidet waren, selbst er trug ein helles Hemd, welches aber durch die Lichter dunkel wirkte. Mein Blick glitt hinüber zu den Bergen des unangerührten Essens, aber warum? Ich wusste, dass die Leute hier hungerten, also wieso aßen sie nicht einfach, wenn es ihnen scheinbar angeboten wurde?

'Es ist von den Scotts, denk nach was ich dir über die Labore erzählt habe.', meldete sich Freya zu Wort. Ich biss mir auf die untere Lippe, um meine Gedanken zu sammeln und das Wissen zusammenzufügen.

»Gab's Probleme?«, fragte Jayden und lächelte uns gequält an. Es war kaum zu beschreiben, es machte mich beinahe wütend ihn so sehen zu müssen.

»In etwa, aber Lynn wurde zur Chemikerin.«, begann Tia wieder zu scherzen. Ich sah hinüber zu der großen Anzahl von Soldaten, ob er auch hier war?

»Habt ihr ernsthaft Gras geraucht und mir nichts übrig gelassen?«, erwiderte er. Meine Augen versuchte jedes der vielen Gesichter unter den Helmen zu erkennen, ihn zu erkennen, aber was sollte es mir bringen? Ich konnte nicht mit ihm reden, man würde mich wegschicken.

»Ja, weil wir auch eine Drogenküche gefunden haben.« Mein Blick haftete wieder am Essen. Was wollte Freya mir sagen? Ich wusste, dass man ein paar Menschen dieser Seite mit in die Labore... Nein, das war zu grausam. Sie konnten das Essen unmöglich vergiftet haben, sie konnten sie nicht einfach von der Straße sammeln, wenn sie bewusstlos dalagen.

'Die Ausgangszeit, denk an sie.', half mir Freya gedanklich auf die Sprünge. Es dämmerte gerade, jedoch war die Sonne schon halb verschwunden, die Ausgangssperre würde bald eintreffen. Wenn sich also niemand um die Bewusstlosen kümmern würde, würden sie automatisch gegen das Gesetz verstoßen. Wie grausam konnten ein paar Menschen denn sein?

»Ich gehe mal zu Rosy, bevor sie noch explodiert, weil wir so lange weg waren.«, meinte Tia zu mir. Die beiden schienen noch ein paar andere Worte zueinander gesprochen zu haben, aber ich war noch immer in Gedanken. Wie konnte man so verachtend mit seiner eigenen Rasse umgehen? War ihnen der Begriff Menschlichkeit denn gar kein Begriff mehr? Die Scotts hatten uns so oft gesagt wie sehr ihnen das Wohl der Menschen am Herzen hing, aber es waren leere Worte, Lügen, die man ihnen einfach so abnahm. Konnte man es stoppen? Irgendwer musste der anderen Seite doch zeigen wer ihre Herrscher wirklich waren, aber wer?

»Madelyn Sophie Adams also?«, fragte er etwas scherzend in seinem viel zu förmlichen Hemd, nachdem Tia außer Sicht war. Gerade ihn konnte ich mir wirklich schlecht in einem Anzug vorstellen, er war einfach nicht der Typ für so etwas, weswegen er vermutlich auch sicherlich nicht zu der anderen Seite passen würde.

»Gefällt dir mein Name so sehr, dass du ihn immer zu sagen musst?«, witzelte ich zurück und grinste dabei ungezwungen. Das Feuer hatte sein sonst so dunkelblondes Haar in etwas Goldenes getönt, jedoch blieben seine Augen so verschlüsselt wie immer. Es hörte sich vielleicht komisch an, aber genau diese Eigenschaft interessierte mich an Menschen. Auf der anderen Seite war ich immer introvertiert gewesen, man fand mich sicherlich gruselig, aber ich wollte nicht mit Leuten reden, die allen anderen glichen. Man wusste sofort was sie dachten, wenn man ihnen in ihre verblendeten Augen blickte, wobei das kleine Adjektiv ebenfalls auf mich zugetroffen hatte, denn ohne Freya wäre ich noch immer dort.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass ein perfekter Mensch einen solchen Biss hat.« Ein schön verpacktes Kompliment, die Perfekten rückten immer raus mit der Sprache. Ich erinnerte mich nur höchst ungern daran wie Helena meine große, steinreiche 'Liebe' finden wollte, weshalb es dazu auch einige Feiern gab, auf die ich gezwungen wurde. Natürlich hatte ich niemandem je gesagt wie langweilig ich all dies fand, denn es war perfekt, dass jedes Mädchen es liebte teure Dinge zu tragen und sich möglichst schnell zu verlieben. Aber wie sollte ich einen Mann interessant finden, wenn er für mich wie ein offenes Buch war, in dem ich nur blättern musste, um Antworten zu finden?

»Ich wusste nicht, dass unperfekte Menschen über ein solches Wissen über die Perfekten verfügen.«, sprach ich so förmlich wie ich nur konnte, denn nun machte es mir sogar Spaß. Auf der anderen Seite hatten mir die Männer Komplimente gemacht, sagten mir wie hübsch ich doch sei, aber das sagten sie den Massen aus Schminke, die ich innerlich so gern von mir waschen wollte. Klangen diese Worte egoistisch oder gar überheblich? Sie waren positiv gemeint, denn all diese Masken, die ich über die Jahre tragen musste, hatten mich irgendwie zu einem Menschen gemacht, der ich innerlich nicht sein wollte. Hatte Freya Recht? Ich spürte wie all die Perfektion nach und nach von mir abbröckelte, mich langsam aber sicher aus ihren grausigen Fängen nahm.

»Man erzählt sich Vieles.«, erklärte er, wobei er meine Neugier erweckte, und sah in den sternenbedeckten Himmel.

»Von wem? Etwa von Rick?«, fragte ich, obwohl er mir nicht wie der beste Ansprechpartner vorkam.

»Nein, er ist der Grund für meine Verbannung.« Meine Augen weiteten sich etwas, als ich den Sinn des Satzes verstanden hatte. Er selbst kam von der anderen Seite? Hätte man es nicht erkennen müssen? Gut, bei Rick war es etwas ganz Anderes, aber Jayden schien so... er selbst zu sein, er verstellte sich nicht und versuchte nicht so zu sein wie alle anderen, was ihn nicht 'perfekt' machte.

»Was? Aber warum?«, begann ich begierig mit den Fragen, die mir auf der Zungen brannten, er hatte mein Interesse erfolgreich geweckt.

»Komm, ich weiß wie man ungesehen hier weg kommt.«, lächelte er ganz charmant und reichte mir seine Hand. Meine Mundwinkel zuckten etwas, Helena hätte mir den Hals umgedreht, wenn sie erfuhren hätte, dass ich seine Hand ergriffen hatte.

Wieso? Warum ausgerechnet er, Lynn? Ich musste zugeben, dass ich wirklich gespannt darauf war wie ihr Geschmack war, aber ich hätte mit Stil gerechnet. Natürlich meinte ich es nicht abwärtend, aber ich wusste was Männer wie er wollten. Ich überlegte wirklich zu versuchen die Kontrolle zu bekommen, auch wenn es nur für kurze Zeit andauerte. Ich kannte ihre tiefsten Gedanken, wusste wie sie empfand, bevor sie es überhaupt selbst bemerkte. Es mochte gruselig wirken, aber so war es nun mal. Sie mochte ihn, vielleicht sogar etwas mehr, aber war er wirklich gut für ihre erste Liebe, die sie im Geheimen sogar gesucht hatte? Es war klar, dass es nun geschah, wo Helena es ihr nicht mehr aufzwang, aber ich hatte gehofft, dass es jemand anderes wäre. Ich musste versuchen sie zu bewahren.

»Sollten die Soldaten nicht langsam schlau genug sein, um zu wissen, dass das Gebäude ein Loch hat?«, fragte ich und versuchte so leise wie nur möglich zu lachen, als wir durch das Loch der Ziegelsteinwand gelangt waren.

»Ich habe es vor ungefähr vier Jahren entdeckt, hier ist es viel interessanter als dort draußen.«, meinte er, als wir uns nebeneinander an die kalte Wand lehnten und einander ansahen. Ich versuchte wieder klare Gedanken zu fassen und das schwache Kitzeln in meinem Bauch zu ignorieren.

»Was hat das alles mit Rick zu tun?« Ob wir uns gekannt hätten, wenn man ihn nicht verbannt hätte? Helena kannte fast jeden, wie ich stets auf ihren 'kleinen' in unserem viel zu großen Haus erkennen musste, auf denen sie mir immer wieder Männer in meinem Alter vorgestellt hatte, mit denen ich dann belanglose Gespräche führen musste.

»Ich war damals gerade vier, aber Rick hat öffentlich über die Labore geredet, was denen natürlich nicht gefallen hat... da meine Mutter ihm erst davon erzählt hat, bekam sie ebenfalls die Strafe.« Ich hatte noch nie von verschwundenen Kindern gehört, aber es waren des Öfteren Nachbarn verschwunden, die man gerade erst am Tag davor noch gesehen hatte. Man ignorierte es natürlich, jedenfalls zwang Eric, mein Adoptivvater, mich stets dies zu tun, da es anscheinend nicht perfekt war zu hinterfragen.

»Und dann?«, fragte ich weiter nach und schlang die Arme um meinen Körper, da ich leicht fröstelte.

»Kinder werden nicht verbannt, da sie sofort adoptiert und ein paar der Erinnerungen entfernt werden, aber mein Vater und meine Mutter wollten es nicht, also haben sie es geschafft mich mitzunehmen.« Ich wollte fragen wie, aber es erschien mir unangemessen zu fragen, also versuchte ich angestrengt ein neues Thema zum Reden zu finden, da ich nicht zurück auf das Fest wollte. Ob man dasselbe mit mir getan hatte? Wie sonst sollte man es erklären, dass sich Freya an diese Seite erinnerte und ich mich nicht? Die Scotts waren unberechenbar, sie würden alles tun, um den Schein der Perfektion aufrecht zu erhalten.

»Wer sind deine Eltern?«, fragte ich stattdessen und versuchte dabei den Augenkontakt mit ihm zu erhalten. Er lächelte etwas, wobei ich seine Nähe etwas mehr zu spüren begann. Ich fragte mich wann Freya wohl wieder reden würde, sie war seit Kurzem wirklich still geworden, ich machte mir langsam Sorgen um sie, auch wenn wir Meinungsverschiedenheiten hatten.

»Das ist unwichtig.« Anscheinend war dies noch ein verbotenes Thema. Früher hätte ich aus Scham oder eher Zwang nicht eine solche Frage gestellt, da die Neugier wie eine Sünde behandelt wurde, wegen der man in der Öffentlichkeit gern als ein neues Gesprächsthema galt.

'Guck weg', hörte ich sie auf einmal energisch zu mir sprechen, was mich sogar ein wenig irritierte, wenn ich ehrlich war. Mein Kopf senkte sich beinahe sofort, sodass ich den Steinboden begutachten konnte. Wieso hatte ich überhaupt auf sie gehört? Ich hatte ihr oft genug gesagt, dass sie nicht die Entscheidende sein sollte, aber wäre es nicht komisch gewesen einfach wieder aufzusehen? Verdammt, was war denn bloß los mit mir? Seit wann machte ich mir überhaupt Gedanken über so etwas? Selbst auf der anderen Seite hatte ich dies nie getan, was vermutlich daran lag, dass die Bewegungen beinahe einstudiert worden waren.

Ich spürte wie seine warmen Finger ganz langsam und vorsichtig mein Kinn anhoben, so als würde er glauben ich wäre aus dünnem Glas, welches sofort zersprang, wenn man unachtsam damit umging. Seine Augen schienen mich zu durchbohren, so als ob sie bis in meine scheinbar gespaltene Seele hineinblicken konnten. Es faszinierte mich, doch einen klaren Gedanken fassen konnte ich trotz allem nicht, da ich bereits den leichten Druck auf meinen Lippen vernahm. Wenn ich ehrlich sein sollte, wusste ich kaum etwas mit diesem neuen Gefühl anzufangen.

Meine Lunge schien zugeschnürt zu sein, sodass mir das Atmen beinahe wie eine Last vorkam, hinzu kam dann noch meine Unwissenheit, jedoch spürte ich auch das Verlangen tief in mir. Eine ziemlich komische Zusammenstellung der Gefühle, aber etwas anderes in mir verspürte auch Wut, aber warum? Dieses Gefühl wie er mir einfach so über die Wange strich, ließ mich nur noch schwerer atmen. Nannte man das vielleicht ein Gefühlschaos? Ich hatte kaum solche Bücher gelesen, aber das wenige Wissen, was sich vermutlich jeder angesammelt hatte, beinhaltete immer ein Chaos der Gefühle. Ich legte meine Hände an seinen Hals und strich sanft über seine Haut, wobei ich irgendwie das Verlangen danach hatte sie mit kleinen Küssen zu bedecken. Ich begann mich an das neue Gefühl zu gewöhnen und es immer mehr zu genießen, doch dann ertönte plötzlich ein lauter Knall, den ich sofort als Schuss identifizierte und wir lösten uns mit weit aufgerissenen Augen voneinander.

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