10
Stille, angespannte Stille, die sich im gesamten Raum ausbreitete. Ich spürte wie sie mich musterte, wie ich nach Ähnlichkeiten zu suchen, jedoch senkte ich meinen Kopf, da ich ihr genaues Abbild in meinem Kopf trug. Diese blauen Augen, diese Augen, die einerseits so rein, aber auch nicht perfekt wirkten, undefinierbar. Die schmale Nase, gefolgt von den Konturen im Gesicht, sie stimmten überein. Ich fragte mich weshalb es mir nicht aufgefallen war, hätte ich es nicht spüren müssen? Immerhin war ich doch ihre Tochter, hätte ich es nicht spüren müssen?
»Lasst uns allein.«, wies sie nun Jayden und Rick monoton an. Ich vernahm das leichte Zittern meines Atems, welches mein Gefühlschaos weiterhin untermalte. Ich wollte einerseits weinen, obwohl ich noch nicht einmal wusste, ob ich traurig oder glücklich war, vielleicht langes aber auch daran, dass Rick so schnell mit der Sprache herausgerückt war, sodass ich mich kaum vorbereiten konnte. Ich wusste kaum damit umzugehen, meine Gedanken lagen im vollkommenden Chaos, sodass nicht einer klar wurde, um mir zu zeigen was genau hier vor sich ging.
»Setz dich, ich will mir die Wunde mal ansehen.«, sagte sie nun das erste Wort zu mir, nachdem die anderen beiden den Raum verlassen hatten. Es war als hätte ich meine Zunge verschluckt, als ich mich auf den knarzenden Holzstuhl setzte. War es denn so schwer ein Wort zu sagen? Mir schwirrten tausend Fragen im Kopf herum, wobei sie sich alle unterschieden und alle dringend zu sein schienen. Wer war mein Vater? Wieso hatte man mich ihr genommen? Warum war mein Vater nicht bei ihr? Sie nahm sich einige Utensilien von der kleinen Anrichte neben mir, ein paar der Dinge erkannte ich sogar, da es die Medizin der anderen Seite war, die Medizin für die diese Seite ausgerottet wurde.
»Ich benutze sie ungern, aber es heilt am schnellsten.«, beantwortete sie mir meine umgestellte Frage, während sie mich vor mich setzt. Wollte ich diese Substanzen überhaupt weiterhin benutzen? Sie halfen, aber waren sie all das Leid wert? Als ich zehn war, hatte man bei mir Lungenkrebs festgestellt, es wäre ohne diese Spritze eine Tragödie gewesen, da es ja nicht perfekt war eine lebenserhaltende Sauerstoffflasche hinter sich herzuziehen, aber die Impfung ließ ihn verschwinden. Aber warum mussten für solch ein Wunder erst tausende ihr Leben lassen? Hätte ich es damals gewusst, dann... nein, ich war zehn, ein viel zu erwachsenes Kind, welches sich wie eine Frau benehmen musste, aber immer noch ein Kind, welches Träume von der ganzen Welt hatte, die es nie preisgeben durfte. Ich wollte schon früher weg, raus aus der Mauer, in die radioaktiv verseuchte Gegend, wie man es uns sagte, obwohl dies eine Lüge war. Unser Land war riesig gewesen, die Mauer umfasste nur ein paar Hektar, jedoch reichten diese, um so viel Leid zu bringen.
»Das wird eine Narbe, ich habe noch etwas Salbe, wenn du-«
»Nein, ich will sie behalten.«, unterbrach ich sie schon. Narben waren nie perfekt gewesen, aber vielleicht wollte ich sie gerade deshalb, aber vielleicht auch um mich für den Mord zu bestrafen.
'Es was kein Mord, sondern Verteidigung. Eigentlich kann er froh sein, dass du ihn getötet hast, ansonsten hätte Rick mit seinem Hass darum gekümmert. Du hast ihm ein gnädiges Ende geschenkt, was er nicht verdient hat.' Ich zog etwas die Luft ein, sie hatte Recht, Rick hätte ihn womöglich gefoltert, ihm jeden Finger einzeln abgeschnitten, sodass er um den Tod gebettelt hätte. Aber was hatte mir das Recht gegeben über sein Schicksal zu entscheiden? Ich war keine Gottheit, sondern ein Mensch. Meine Gedanken waren fern von der Wirklichkeit abgeschwiffen, während meine leibliche Mutter sich um meine Wunde kümmerte, wobei ich schon das unangenehme Brennen spürte und sich die Wunde langsam schloss. Die Salbe hätte weitaus mehr geholfen, das Mittel, mit dem sie meine Wunde eingerieben hatte, kümmerte sich nur um die schlimmsten Schäden.
»Wer ist mein Vater?«, rückten auf einmal die Fragen aus mir heraus. Sie erstarrte auf einmal, hielt das Fläschchen fest umschlossen und zog scharf die Luft ein.
»Ich hätte gedacht, dass du mit anderen Fragen beginnen würdest, mit leichteren.«, murmelte sie vor sich hin. Tief im Innern wusste ich es bereits, jedoch verscheuchte ich es immer wieder aus meinen Gedanken.
»Lebt er noch?«, hackte ich leise nach, wobei sie mit zusammengekniffenem Mund den Kopf in den Nacken legte.
»William... aber um das wirklich zu erklären, muss ich am Anfang beginnen.«, sprach sie und gab mir dann Zeit, um es zu verdauen. Ein Soldat... ein nicht loyaler Soldat, der mir immer wieder geholfen hatte, obwohl er sein eigenes Leben dabei aufs Spiel gesetzt hatte. Aber wie sollte ich das alles verstehen?
»Wir lernten uns ein paar Jahre vor der Mauer kennen... du hättest deine Großeltern sehen müssen, er ist zwar ein Soldat, aber das hat die Sache für sie nicht besser gemacht. Als ich merkte, dass es nicht nur diese Kinderliebe war, wollte ich weg... mit ihm. Natürlich war es nicht gern gesehen, da dein Großvater lieber mich auf seinem Platz haben wollte als Miranda, ein Grund mehr für ihren Hass auf mich. Man hatte mir mit Enterbung gedroht, aber was wollte ich mit Geld oder Ruhm? Es macht einen abhängig, also habe ich nachts meine Sachen gepackt und bin mit deinem Vater gegangen soweit wir konnten, bis über die Grenze hinweg, bis wir hier ankamen. Ich beschloss mich in der Politik zu engagieren, während er hier im Dorf half. Irgendwann heirateten wir dann und ich wurde schwanger. Alles schien so perfekt als du erst da warst, wir wurde endlich zu einer richtigen Familie... dann fand er uns, Bryan drohte deinem Vater. Er musste zurück, um dort als Soldat zu dienen, da man dich ansonsten verletzen würde...«, sie stoppte, biss sich auf die Unterlippe. Ich senkte meinen Blick, wie gern ich mich an diesen Abschnitt meiner Kindheit erinnert hätte, ich wollte keine Fragen in diese Richtung stellen, ich spürte wie sehr sie dies verletzte. Jedoch fühlte ich auch dieses Entsetzen, ich redete mir ein, dass es falsch war, eine Lüge, jedoch ergab es Sinn. Mirandas Worte, die Worte meiner... Tante, sie ergaben endlich Sinn. Aber was machte mich gefährlich? Weshalb hätte man mich wie einen Vogel in einen Käfig gesperrt?
'Du hast innerlich danach geschrien frei zu sein, spürst du sie denn nicht? Die Freiheit?', klärte Freya mich auf. Ich tauchte tief in mich ein, erforschte mein Inneres. Ich war nicht mehr die Alte, nicht mehr der kleine Vogel in einem zu kleinem Käfig, ich hatte meine Flügel ausgebreitet, jedoch war ich noch nicht bereit zu fliegen, den Duft der Freiheit zu genießen.
»Warum habt ihr beide unterschiedliche Nachnamen, wenn ihr geheiratet habt?", stellte ich eine weniger schlimme Frage an sie.
»Du hießt einmal Lancaster, aber als dein Vater weg musste, habe ich einen anderen Namen angenommen, damit man uns nicht allzu leicht finden kann.« Schlau, aber die Scotts würden sich durch so etwas nicht aufhalten lassen, sie hatten überall ihre Spione
»Warum hast du mich nicht gesucht?«, platzte es nun aus mir heraus, jedoch fragte ich mich andererseits auch, ob sie nicht auch Fragen an mich hatte... es würde wohl ein längeres Gespräch werden, immerhin waren zwanzig Jahre im Leben eines Menschen nicht wenig. Ihr leises Aufseufzen riss mich aus meinen Überlegungen. Ich wollte sie nicht verletzen, aber die Fragen sehnten sich nach ihren Antworten.
»Ich wollte, aber dann kam die Mauer, Soldaten bewachten auf einmal jeden Quadratmeter... Ich wollte nicht suchen, da ich dachte, dass du hier nicht glücklich geworden wärst. Was kann dir diese Seite bieten? Sieh dir Tia und Jayden an, sie rennen der Lüge nach einem Ende hinterher, setzen ihr Leben aufs Spiel. Ich wollte dich in Sicherheit wissen.«, erklärte sie mir. Erst jetzt wagte ich es mir in ihre Augen zu sehen, deren Farbe mit meiner fast identisch war. Sicherheit, dieses Wort hatte mir so lange gefallen, aber nun fragte ich mich, ob ich überhaupt jemals in Sicherheit gewesen war. Natürlich war ich nicht wütend auf sie, aber war die Perfektion sicher für mich gewesen?
Ich spürte erst jetzt wie sehr sie mich dazu gezwungen hatte ein anderer zu sein, jemand der ich nie sein wollte. Ich hatte mich im Geheimen damals oft selbst gefragt, ob ich allein war. War ich die Einzige, die diese Stimme hatte? War ich die Einzige, die an der Perfektion scheiterte? Ich hatte mir diese Frage immer mit ja beantwortet, doch nun hinterfragte ich. Weshalb zum Beispiel gab es manchmal plötzliche Todesfälle von jungen Leuten? Es war nicht normal, unsere Medizin war zu weit fortgeschritten. Man sagte uns dann, dass derjenige zu spät gemerkt hatte, dass er krank war, aber das war unmöglich.
Ich erinnerte mich noch genau daran wie man in der Nacht den Nachbarsjungen mit einer riesigen Wunde am Kopf hinausgetragen hatte. Man sagte sich, dass er homosexuell wäre, nicht perfekt. Ich wusste, dass es stimmte, er hatte seinen Freund oft bei sich gehabt, wenn seine Eltern arbeiten waren, ich konnte das Abbild von meinem Fenster aus sehen, doch hatte nie ein Wort darüber verloren. Erst jetzt begann ich diesen Jungen zu bewundern. Er hatte sich umgebracht, um sich von diesem grausigen Perfektionismus zu befreien, denn seine Seele war nicht gespalten, er war immer er selbst gewesen, also konnte ihm keine Stimme diese Seite zeigen.
»Wer hat dir von dieser Seite erzählt? Niemand weiß von ihr.«, zerrte sie mich erneut aus den Gedanken. Ich durfte ihnen nicht weiter verfallen, aber wie sollte ich ihr nun antworten? Ich konnte ihr nicht von Freya erzählen, sie würde mich für verrückt halten.
»Ich weiß nicht genau... ich hatte oft denselben Albtraum, in dem sich hinter der Mauer Dinge abspielten, ich wurde neugierig.« Sie schien die Lüge zu schlucken, auch wenn ich mich schlecht fühlte. Lügen war nicht perfekt, da musste ich der anderen Seite Recht geben, obwohl sie selbst auf Lügen aufgebaut war.
»Also ist dieser ekelhafte Perfektionismus nie durchgedrungen... Bei wem hast du gelebt?« Nun wurde es leichter.
»Helena und Eric Price, er ist Politiker, ich glaube dank ihn kannte Rick mich.«, erklärte ich, wobei sie mit zusammengepressten Zähnen nickte.
»Ich kenne Helena, sie war eine gute Freundin von Helena. War es schlimm?« Ich schluckte etwas, aber es musste ja so sein, Miranda hätte sich nicht mit irgendwem zufrieden gegeben.
'Sie hat sich jemanden komplett verblendeten gesucht, damit nur die Hälfte deiner Seele bleibt.', schien es Freya plötzlich aufzufallen, doch mir schwebten sofort neue Fragen im Kopf herum. Eine halbe Seele?
'Das ist ganz leicht, es gibt deine und meine Hälfte, eine gespaltene Seele, jedoch war es Helenas Aufgabe mich aus dir zu verbannen, damit du genauso verblendet bist wie sie.' Also passierte dies wirklich mit den Menschen dort? Sie wurden sich selbst beraubt, als wären sie die Marionetten der Diktatoren, die die Fäden fest in den Händen hielten.
»Ich weiß es nicht... Ich denke ja, aber es ist komplex.«, versuchte ich ihr zu erklären, wobei sie mich von oben und unten musterte.
»Du wirst es bald wissen, etwas in dir klammert sich an die Perfektion, das ist normal, Rick ging es genauso, aber es wird bald aufhören. Wir werden morgen weiterreden, aber jetzt solltest du schlafen gehen, Tia wollte noch etwas von dir.«
Ich senkte meinen Blick, die Erinnerungen begannen komplett zu werden, das Gesicht unserer Mutter war nun nicht mehr verschwommen. Für einen Außenstehenden mochte dieses Gespräch merkwürdig sein, jedoch war Lynn nie wütend gewesen, vielleicht bewunderte ich dies sogar an ihr, diese wundervolle Reinheit, aber wie lange würde sie bleiben? Sie hatte getötet, aber das ließ diese Tugend noch lange nicht verschwinden, sie hatte es nicht grundlos getan. Die Soldaten töteten und wählten sich ihre Gefangenen wahllos aus, was Lynn zu einer Retterin machte. Ihre Gedanken waren nun im Chaos, ich spürte die Fragen und wie sie nun ihren Stammbaum Stück für Stück verknüpfte. Ich war anders, wir waren mit den Scotts verwandt, man sollte meinen, dass ich mich zügeln könnte, aber ich war vor Hass und Wut beinahe explodiert. Aber wie sollte dies miteinander in Verbindung gebracht werden? Ich spürte immer mehr wie sich der Riss in unserer Seele heilte, die Grube schloss sich, aber wie konnte meine Wut und ihre Ruhe miteinander verbunden werden?
---
Im nächsten Kapitel gibt es einen kleinen Stammbaum, um eventuelle Verwirrungen zu bekämpfen ;)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top