#Chemiker

"Entweder oder", murmle ich leise vor mich her, während ich das große Schild betrachte. Der Pfeil, der nach links zeigt, weist den Weg zum Campus Middelheim. In die andere Richtung geht es zum Campus Groenenborger.

Auch wenn ich mir noch etwas uneinig bin, wende ich mich nach rechts . Dabei renne ich beinahe ein Mädchen, das ihre Bücher fest an ihre Brust presst, um. "Sorry", rufe ich ihr erschrocken entgegen, während sie einfach weiterläuft.

Irritiert sehe ich ihr einen Augenblick hinterher, bevor ich den Weg betrete, den das Mädchen vor wenigen Sekunden erst verlassen hat. Um mich herum erstreckt sich eine riesige Wiese, die so grün ist, dass ich annehme, dass es sich um Kunstrasen handelt. Die Büsche, die nach einem bestimmten Muster gepflanzt wurden, sind akkurat zurechtgeschnitten.  

Lächelnd nehme ich jedes Detail meiner Umgebung auf. Die bunten Knospen, die sich bereits an den Pflanzenstängeln am Wegrand gebildet haben. Das Efeu, das an dem Gebäude, das auf der linken Seite in Sicht kommt, wächst. Die Bänke aus Holz, auf denen einige Studenten ihre Mittagspause verbringen.

Ein Schild, das noch relativ neu aussieht, erweckt als nächstes meine Aufmerksamkeit. "Hier wordt de grootste bibliotheek voor geesteswerenschappen gebouwd." Bevor ich versuche, den restlichen Text zu entziffern, erinnere ich mich daran, weshalb ich eigentlich hier bin. Also setze ich mich wieder in Bewegung.

Der Geruch, den man aus Krankenhäusern kennt, steigt mir immer tiefer in die Nase, während ich durch das Untergeschoss des Gebäudes irre. Der rote 'Faculty of Science' - Schriftzug an der Wand verrät mir, dass ich mich auf jeden Fall auf dem richtigen Campus befinde - zumindest hoffe ich das. Doch ich habe keine Ahnung, wo sich nun die Labore befinden. 

Anstatt jemanden zu fragen, ob er mir helfen kann, philosophiere ich lieber darüber nach, weshalb das 'U' von 'University of Antwerp' rot ist und von einem blauen Strich, der wie eine Welle aussieht, geziert wird. Möglicherweise möchte die Universität damit verdeutlichen, dass Antwerpen eine Hafenstadt ist.

"Where are you?", lese ich die Nachricht, die mich aus meinen Gedanken aufschrecken lassen hat. Da ich mir diese Frage in den letzten Minuten schon häufiger gestellt habe, verfasse ich sofort eine Antwort. "I think i got lost."

"Lost In Japan", kann ich mir die zweite Nachricht nicht verkneifen. Wahrscheinlich wird der Belgier den Witz überhaupt nicht verstehen. Doch der Songtitel wäre mir noch ewig durch den Kopf gekreist, wenn ich ihn nicht aufgeschrieben hätte.

"Any clue where you're standing? I'll pick you up", bietet er mir zu meiner Überraschung an. Bevor ich ihm auf umständliche Weise beschreibe, wo ich mich befinde, schicke ich ihm ein kurzes Video von meiner Umgebung. "On my way...", erreicht mich wenige Minuten später die nächste Nachricht.

Also bleibe ich stehen und sehe mir ein Bild, das scheinbar ein Periodensystem darstellen soll, an. Meine Augenbrauen hochziehend frage ich mich, ob diese Universität nicht lieber den künstlerischen Zweig hätte einschlagen sollen. Aber vielleicht mögen es die Chemiker auch einfach gerne bunt.

Als das Quietschen von Sportschuhsohlen durch den Gang hallt, drehe ich mich um. Angestrengt versuche ich den Hustenreiz zu unterdrücken, nachdem ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckt habe. Die Hände in seiner Hosentasche vergraben, schlendert der Blondhaarige in aller Seelenruhe auf mich zu.

Doch als wäre es nicht genug, dass sich das schwarze T-Shirt über seine muskulöse Brust spannt, trägt er auch noch einen weißen Laborkittel. Der Kragen ist ein wenig unordentlich und es kribbelt in meinen Fingern, diesen zu richten. Über seinen linken Wangenknochen zieht sich ein dünner Streifen Ruß und die Schutzbrille steckt locker in seinen Haaren.   

"That's...", lasse ich meinen Mund mindestens eine Minute zu lange offen. "What?", lacht der Junge leise, während er seinen Kopf fragend zur Seite neigt. "Nothing", zucke ich schnell mit meinen Schultern, damit ich ihm nicht noch erzähle, dass er heiß aussieht. Grinsend drückt er mir einen kurzen Kuss auf meine Wange. Wahrscheinlich weiß er eh, was ich denke. 

"Come with me. We shouldn't leave my lab partner alone for so long", behauptet der Sportler, während er unsere Finger miteinander verschränkt. "Sure, without you he's already in despair." Direkt nachdem ich zu Ende gesprochen habe, kann ich mir ein lautes Lachen nicht verkneifen und es ist beinahe unmöglich, wieder aufzuhören.

"So you doubt that i'm always in control?", zieht er seine Augenbraue herausfordernd in die Höhe. Meinen nächsten Lachanfall hinunterschluckend mustere ich ihn für eine Sekunde. Seine Kieferknochen sind so markant, dass er vollkommen ernst erscheint. Nur die kleinen Fältchen um seine Augen herum verraten mir, dass er sich einen Spaß daraus macht.

"Zero doubts", flüstere ich schließlich. Denn er ist immer derjenige, der die Kontrolle hat. Schmunzelnd dreht sich der Blondhaarige so, dass er im Rückwärtsgang vor mir her läuft. "I appreciate your honesty", befeuchtet er seine Unterlippe, während er genau im richtigen Moment vor einer Treppe stehen bleibt.  

Hoffend, dass ich nicht rot anlaufe, verpasse ich ihm empört einen Schlag gegen seine Schulter. Doch der Belgier lässt lediglich ein amüsiertes Lachen verlauten. "Ready for today's training session?", wackelt er dann mit seinen Augenbrauen, "we have to go to the third floor and there's no elevator."

Grinsend trete ich näher an den Jungen heran, um meine Lippen auf seine zu legen. Überrascht, aber dennoch bereitwillig, erwidert er sofort den Kuss. Beinahe lasse ich mich dazu hinreißen, meinen Plan fallen zu lassen und den Moment zu genießen. Doch bevor er mich an meiner Hüfte näher zu sich heranziehen kann, löse ich mich von ihm und renne die Treppe nach oben.   

"The loser owes the winner something", rufe ich ihm über meine Schulter hinweg zu, als ich das erste Podest erreicht habe. Dass ich mich dabei nicht hinlege, grenzt an ein Wunder. "Cheater!", echot seine Stimme durch das Treppenhaus, während seine Schuhsohlen das altbekannte Quietschen von sich geben und mir somit mitteilen, dass sich der Sportler in Bewegung gesetzt hat.

Als mich der Blondhaarige kurz vor dem Ziel überholt, dringt ein unverständlicher Laut aus meiner Kehle. "Scheiße", fluche ich ohne nachzudenken auf Deutsch, nachdem ich mich einfach auf dem halbwegs sauberen Boden niedergelassen habe. Meine Lunge brennt und mein Herz rast. Weshalb ich dachte, dass ich gegen ihn gewinnen könnte, wird für immer ein ungelöster Fall bleiben.

"Ja, scheiße", wiederholt der Junge, während er sich lachend neben mich setzt. Die Tatsache, dass er ebenfalls auf Deutsch geredet hat, lenkt mich beinahe von meinem Erstickungsanfall ab. "What do i owe you?", möchte ich möglichst schnell in Erfahrung bringen. "I'll come up with something good - i promise", ergreift er grinsend meine Hände, um mich wieder in die Höhe zu ziehen, "but now we should really go to the lab."

"Bachelor of Chemistry, huh?", stütze ich mein Kinn mit meiner Hand ab, während ich auf einem Hocker sitze und die beiden Studenten aus sicherer Entfernung beobachte. Ein Reagenzglas über den Bunsenbrenner haltend wirft mir der Belgier einen kurzen Blick zu. "The job of a chemist doesn't suit me?", fragt er amüsiert nach. 

"I never said that", schüttle ich meinen Kopf. "I rather think that it suits you really well. Especially the lab coat", sehe ich ihn möglichst unschuldig an. Doch wirklich lange kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. "Shut up", fordert er mich grinsend dazu auf, still zu sein. Dann greift er nach einem Kugelschreiber und notiert etwas auf einem Blatt Papier.

Früher in der Schule hat mir das Fach Chemie eigentlich immer Spaß gemacht. Wir durften viel mehr Versuche durchführen als die restlichen Kurse. Allerdings war das Schreiben der Protokolle ein riesiger Nachteil an der ganzen Sache. Die Auswertungen der chemischen Reaktionen hatten nämlich mehr mit Raten als mit Verstand zu tun. 

Nachdem die beiden Jungen eine Zeit lang auf Niederländisch diskutiert haben, schrauben sie ein wenig an ihrem Versuchsaufbau herum. Doch ich habe schon lange den Überblick verloren, worum es eigentlich bei ihrer Aufgabe geht. Meinen Kopf schief legend warte ich darauf, dass noch etwas Spannendes passiert. Aber es kommt nicht einmal zu einer winzigen Verpuffung.

"Bedankt", nickt der Blondhaarige seinem Studienkollegen zu, als dieser ihm den Laborkittel abnimmt und in einen Spind hängt. Danach positioniert sich der Sportler gegenüber von mir und stützt sein Kinn ebenfalls auf seinen Händen ab. Schmunzelnd sieht er mich einfach nur an und wartet scheinbar darauf, dass ich mich aus meiner Starre löse.

"You don't need them anymore, i suppose", schnappe ich mir seine Schutzbrille, die wie vorhin in seinen Haaren steckt. "How do i look?", strecke ich meine Zunge heraus, nachdem ich mir die Brille aufgesetzt habe. "Like a professional chemist", grinst mich der Belgier an. Da mein Kopf für die Brille zu schmal ist, rutscht sie mir plötzlich von der Nase.

Reflexartig strecken wir  beide unsere Hände aus, um die Schutzbrille aufzufangen. Dadurch, dass ich näher dran bin und die Brille bereits wieder in meinen Händen halte, hat der Junge zu viel Schwung. Sein Gesicht schwebt nur wenige Zentimeter vor meinem. "More professional than you?", will ich wissen, während ich meinen Blick über seinen Mund wandern lasse.

"Mhm", murmelt er lediglich, bevor er sich nach vorne beugt und seine Lippen auf meine legt. Seine Fingerspitzen fahren kaum merklich über meine Wange, bis er sie schließlich in meinen Haaren vergräbt. Jede einzelne Sekunde von den wenigen, in denen er mich küsst, genieße ich. "Shall we go?", lehnt der Blondhaarige seine Stirn an meine, während ich meine Augen langsam wieder öffne. "Yup", nicke ich kurz angebunden - was ihm ein Lachen entlockt.

Nachdem er seine Schutzbrille weggeräumt und seinen Rucksack unter einem Tisch hervorgezogen hat, stellt er sich hinter mich. Automatisch muss ich lächeln, als er seine Arme um meine Taille schlingt und seine Lippen an meinen Hals legt, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. "Antwerp's waiting for you."

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