Seine Schwester ist besser

Er bringt mich zu sich nachhause. Ein knapper fünfzehn Minuten Weg. Praktisch ums Eck also.

Gleich als erstes, noch bevor der erste Schritt zu ihm überhaupt gesetzt ist, landet mein Rucksack wieder auf dem Balkon. In anderen Worten: Ich habe nichts bei mir. Weder mein Handy, meine Schlüssel noch sonst irgendetwas. Nicht einmal meinen Ausweis habe ich dabei.

Jake meint, dass ich ihn ohnehin nicht brauchen werde. Öffentliche Verkehrsmittel stehen nicht auf der Agenda und auch Clubs lassen sich nicht auf seiner ToDo Liste finden. Allzu sehr scheint er mich also nicht foltern zu wollen. Den Sternen sei dank für zumindest diesen kleinen Segen.

Ein ist klar, ich kann mir gut tausend Möglichkeiten vorstellen um fünfzehn Minuten mit Jake totzuschlagen. Tausend Möglichkeiten, die weder in Leichenschändung oder sonst einem derartigen Desaster enden würden. Ein Gespräch über die Versagnisse der Gesellschaft - Jakes Worte. Mir ist durchaus bewusst das ‚Versagnisse' nicht im Duden steht. Nur um das klarzustellen. Jedenfalls gehört ein Gespräch über die Versagnisse der Gesellschaft nicht zu der tausendoptionigen – was eigentlich auch kein Wort ist, aber egal - Liste.

„Ich meine wir können ja nicht alle so sein wie du und Bücher statt Beine öffnen." Eine kurze Pause. „Oder Münder, je nachdem wie mans bevorzugt." Meint er es doppeldeutig mit den Mündern? Keine Ahnung, vermutlich schon. Da mir ein mehr oder weniger angedeuteter Aufruf zur Diskussion jedoch mehr als der simple Ersatz von Sex durch Oralsex gefällt, stelle ich mich einfach ein wenig naiv.

Obwohl nein, wenn ich Bücher mit Münder ersetze, lässt das nur mich versaut klingen. Der Aufruf ist gestorben. Bei der Satzstellung funktioniert er nicht. Hätte er doch nur gesagt ‚Wir müssen Bücher statt Beine öffnen' und dann den Blödsinn angehängt, dann hätte ich mir seine Worte tatsächlich zu einem Diskussionsaufruf drehen können.

„Und das hat jetzt genau was mit der Sache zutun?", frage ich.

„Na das man nichts anderes von uns erwarten kann. Alle richtigen Hangoutspots sind tot und wir leiden noch immer unter demselben Schulsystem wie die Spiegel-wirs von vor hundert Jahren."

Ich lasse meine Augen kurz über Jake wandern, über die zerrissen Jeans und die Lederjacke, die er so gut wie nie auszieht. (Ernsthaft, ist er mit dem Ding verwachsen?) Und während mein Blick so wandert, kann ich nur denken: Ja, bei Leuten wie ihm hat das System wirklich versagt. Es sollte strenger sein.

Als ich ihm das sage, entfernt sich unser Gespräch so weit von einem tatsächlichen Gespräch, dass ich nicht einmal noch Ansatzweise sagen kann, was irgendeiner von uns sagt. Sätze und Argumente wiederholen sich andauernd in einer immer wiederkehrenden Schleife. Sein Standpunkt ist im Grunde ‚Schule schlecht, Regeln scheiße'. Richtig klischeehaft. So auf ‚Warum soll ich irgendwelchen Autoritäten folgen, wenn die sich sowieso nicht für mich interessieren?' und das klassische ‚Die schaden sowieso nur mehr als sie helfen'. Typisches ‚wir müssen aus dem System ausbrechen' Gerede.

Ganz ehrlich, ich blende das meiste davon aus. Mutter und ich sind definitiv Team Regeln. Ohne Regeln geht es nicht. Vielleicht kapiert Jake das auch irgendwann mal.

Jeder Teil jedoch, der in mir hofft, dass dieses vorlaute Hin und Her mir die heiß ersehnte Stille meines Zimmers einbringen wird, wird rasch zerschmettert. Jake gefällt unser nicht-Gespräch. Er lacht. Findet das Ganze lustig. Als würden wir nur zanken wie ein altes Ehepaar. Auch das sind nicht meine Worte. Augenverdrehend hab ich das immer wieder mal ein paar Schüler murmelte hören. Insbesondere am Anfang, als Jake und ich mehr Feinde waren anstelle der halbwegs instabilen-stabilen Frenemies-Kombination, der eine versucht den anderen andauernd zu Daten, von heute. Den Freundteil in Frenemy würde ich dabei jedoch sehr wage auslegen. Jake nicht, das ist mir bewusst. Er hält uns für so etwas wie neckende Besties.

Warum ich nichts dagegen sage? Zumindest nicht direkt? Es lässt die anderen Schüler einen deutlich großen Bogen schlagen. Ist das manipulativ von mir? Ja. Interessiert es mich? Nein. Und vielleicht auch weil ich ihn an manchen Tagen halbwegs, etwas, ein wenig leiden kann. Aber nur ein wenig und das habt ihr auch nicht von mir. Es hätte mich in der Stalkerabteilung auch deutlich schlechter treffen können. Zumindest ist es keiner dieser Sportler, der mir wie ein Chihuahua nachdackelt. Ich bin generell gegen Gewalt, aber bei so einem hätte ich mich nur schwer beherrschen können. Die sind mir einfach zu dumm.

Schließlich, endlich sind die fünfzehn Minuten rum und wir stehen vor dem richtigen Gebäude. Es ist schön. Sowohl von innen als auch von außen, stelle ich schnell fest. Kein Graffiti. Scheint wohl nichts Jakes Ding zu sein. Zugetraut hätte ich es ihm alle Male.

Es ist ein schönes, stinknormales Gebäude. Beige Fassade und braune Altbaufenster. Die Hohen, die Art, die sich in Fensterscheibe eins, Platz für eine kleine Pflanze und Fensterscheibe zwei gliedert. Der Flur ist auch in Ordnung, keine Fliegen oder so. Die Fliesen sind etwas kitschig, das braun, gelbe, grüne Muster schon eine Spur zu viel des Guten, aber was will man machen. Einen Lift gibt es nicht. Eine absolute Frechheit für ein Gebäude mit sechs Stöcken, wenn ihr mich fragt.

Mehr als etwas außer Atem komme ich im vierten Stock an. Jake ist nicht einmal ansatzweise rot. Klar, sein Körper ist es ja auch gewohnt.

Er lehnt sich oben gegen das Geländer, während ich die letzten drei Stufen bezwinge. Sein dämliches Grinsen ist so breit wie eh und je.

„Am deiner Kondition müssen wir wohl noch arbeiten."

„An deinem Charme aber auch." Und dann nur um ein Arsch zu sein füge ich hinzu: „Sowie an deiner Anwesenheit, deinen Noten, deinem Kleidungsstil." Jake verdreht jedoch nur die Augen und führt mich den Gang entlang. Nummer 22.

Wir betreten die Wohnung mit einer halben Umdrehung des Schlüssels. Es wundert mich nicht sonderlich. Natürlich sperrt Jake die Tür nicht richtig zu. Er schließt sie einfach hinter sich.

Das erste was ich beim eintreten bemerke sind nicht die Möbel, nicht die Wände, nicht einmal die Zimmer an sich, es ist das Licht. Eingeschaltetes Licht.

Es bringt mich kurz aus dem Konzept. Soweit ich weiß, arbeiten seine Eltern beide um die Uhrzeit unter der Woche. Und seine Schwester, ja, sie ist jünger, aber auch sie sollte sich gerade in der Schule befinden. Dritte Klasse Gymnasium, Jake beschwert sich immer, das sie ihm wegen Mathe andauernd Löcher in den Bauch fragt. Ein Fach, das er überhaupt nicht leiden kann. (Aber in dem er unerwartet gut ist.)

Ich hoffe nicht, dass sie es ist. Schuleschwänzen ist keine Angewohnheit, die sie von Jake übernehmen sollte. Doch ein Blick den Vorraum entlang, beweist das sie es doch ist.

Die Schuhe landen bei der Eingangstür. Jake ruft so laut in die Wohnung hinein, dass die Kleine durch ein simples ‚Hallo' fast aus dem Sofa fällt.

Sie sieht jung aus. Sehr jung. Logisch betrachtet ist sie vermutlich zwölf, vielleicht auch dreizehn Jahre alt. Aber sie wirkt deutlich jünger. Sie ist klein. Mini beinahe.

Allem voran ist sie definitiv Jakes Schwester. Es ist so offensichtlich, dass ich sie sofort auf der Straße erkannt hätte ohne sie je davor kennengelernt zu haben. Die beiden könnten sich kaum ähnlicher sehen.

Die Hauptmarker sind alle gleich. Haare, Augen, Gesichtsstruktur. Doch es ist nicht nur das. Irgendetwas an ihrem Auftreten ist so grundlegend Jake, das es fast schon erschreckend ist. Genauso würde man ihn sich als Kind vorstellen, nur halt in männlich. Irgendwer in dieser Familie besitzt wohl sehr durchsetzungsfähige Gene.

„Was machst du denn schon wieder hier?", ruft sie Jake entgegen. Genauso forsch wie man nur von jemanden in ihrem Alter erwarten kann. Dreizehnjährige haben es wirklich am schwersten. Das Lebensjahr hat mich damals fast komplett in den Wahnsinn getrieben. Alles ist ohnehin schon so kompliziert und dennoch belächeln die Leute einen. Sogar sechsjährige werden ernster genommen. Ja, ich bin froh, dass ich das Alter schon hinter mir habe.

„Zwischenstopp!", ruft er genauso laut zurück. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass das hier zur Norm gehört. Die armen Nachbarn. Er verliert kein anderes Wort und verschwindet prompt hinter einer von vielen Türen. Typisch.

Selbst gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich auf die andere Seite des Couchtisches. Direkt gegenüber von seiner Schwester. Auf den Boden. Es lässt mich sympatischer wirken. Weniger herrisch und weckt Vertrauen. Psychologische Kriegsführung, Baby! Funktioniert immer.

„Hey", beginne ich mit einem Lächeln. „Ich bin Liam."

Sie blickt von ihren Zetteln zu mir. „Ich weiß, wer du bist. Die Wände sind dünn und Jake führt gerne Selbstgespräche." Eine Pause. „Millie, übrigens."

„Oh, ich weiß", entgegne ich ihr mit einem verschmitzten Lächeln. „Schweigen ist eine Tugend, die Jake auch in der Öffentlichkeit nicht zu meistern versteht." Ich deute auf die Zettel, die den Couchtisch bedecken. „Mathe, oder?"

Sie nickt. „Divisionen mit Kommas, Geometrie, 'Prüfe die Antwort'-Aufgaben. All der Kram halt."

Ich summe und schnappe mir einen ihrer Schmierzettel zusammen mit einem herumliegenden Kugelschreiber. Sogleich beginne ich mit dem aufschreiben. „Reiner Blödsinn, wenn du mich fragst. Ist das Schuleschwänzen nicht Wert", sage ich nebenbei. Ein Verhalten, das übrigens in der Familie zu liegen scheint. Ernsthaft, wie können ihre Eltern damit nur okay sein? Das grenzt ja fast schon an Vernachlässigung.

Millie zuckt mit den Schultern. „Wir haben morgen eine Schularbeit und davor zu viele Hausaufgaben. Hatte keine Zeit zum Lernen." Nicht das es einen Unterschied gemacht hätte, denke ich mir. Die Lehrmethoden, die in den Unterstufen angewendet werden, sind mehr als fragwürdig. Man lernt Dinge, die der Taschenrechner sowieso übernimmt und der Casio mit Leichtigkeit schafft. Und anstatt den einfachen Weg zu nehmen, den Stoff simple zu erklären und eine Brücke zu liefern, verkompliziert man es unnötig.

„Du und Jake..." Sie beißt sich kurz auf die Lippe. Ihre Finger tippen einen zufälligen Rhythmus mit prägnanten Schlägen auf das Sofa. „Seid ihr in sowas wie einer Beziehung? Manchmal – es kommt zumindest irgendwie so rüber."

Meine Hand stillt kurz. „Nein, sind wir nicht. Jake ist nicht mein Typ. Er hat zwar..." Ich führe den Satz nicht zu Ende, doch wir beide wissen, was ich sagen wollte. Millie setzt fort als hätte ich ihn beendet.

„Man merkt es. Von einem Tag auf den anderen hat er all seine Zigaretten ausgemistet. Ein glatter Heiratsantrag in seinem Buch."

Ihre Worte entlocken mir ein kleines schmunzeln. Der Tag. Ja, der Tag ist wirklich etwas gewesen.

Es ist schon eine Weile her, eine lange Weile, doch ich erinnere mich noch gut daran. Jeder würde das an meiner Stelle. Es geschieht nicht jeden Tag, das die Bulldogge der Schule, mit der man eigentlich kaum etwas zutun hat, einen gegen die Wand drängt. Langsam und bedrohlich. Mit fordernden Schritten, die einen Instinktiv zurückweichen lassen. Aber überraschender Weise hat er es nicht auf eine ‚ich will dir die Fresse polieren' Art, sondern auf eine ‚Wie wärs mit einem Kuss, Häschen' Art getan.

Wirklich jeder würde sich daran erinnern. Insbesondere nachdem man ihm vielleicht oder vielleicht auch nicht in einer Halle voller Schüler gesagt hat, dass er ein klischeehafter Fake ist, der sich zwar groß aufspielt, aber wenn es wirklich zählt, genauso ein Versager ist, wie das Mädel das die zweite Klasse so oft wiederholt hat, bis sie von der Schule geflogen ist.

Bevor ihr fragt, selbstverständlich habe ich ihn nicht geküsst. Logisch. Zugegeben rückblickend hat es schon irgendwie heiß ausgesehen, wie er sich über die Lippen geleckt hat, aber dennoch.

‚Wenn du so schmeckst, wie du riechst?', habe ich ihm damals entgegnet. ‚Da leck ich doch lieber über die Bordsteinkante.' Und es war nicht einmal gelogen. Er hat so nach Zigaretten gestunken, dass man durch den Geruch allein schon Kopfschmerzen bekommt hat.

‚Und wenn ich aufhöre?'

‚Falls ich je aus irgendeinem Grund zu viel Alkohol intus habe und so dicht bin, dass ich nur noch aus einem Auge sehe? Vielleicht.' Und das ist es gewesen. Ab dem nächsten Tag hat er die müffelnden Dinger nie wieder angerührt. Betrunken genug für einen Kuss bin ich bis jetzt jedoch noch nicht gewesen.

„Magst du ihn?" Ihre Stimme ist fast schon kleinlaut, als sie spricht. Zögernd. Jung. Jake an meiner Stelle hätte jetzt vermutlich etwas wie ‚Angst das ich ihn verletze?' in einem hämischen Ton gefragt, aber ich bin glücklicherweise nicht er.

„Wir sind Freunde." Lüge. „Wäre ziemlich schlimm wenn ich ihn nicht leiden könnte. Ich weiß nur nicht ob mehr eine so gute Idee ist." Auch gelogen. Ich weiß, dass es mehr als eine miese Idee ist. Freundschaft allein klingt schon anstrengend genug. Dürfte ich ihn dann überhaupt noch beleidigen? Ich kenne mich da nicht so aus. Was sagt die Norm?

Jedenfalls, ist mir durchaus bewusst, dass Lügen vielleicht nicht die sympathischste Herangehensweise an ihre Frage ist, aber was hätte ihr denn sonst sagen sollen? Für all das durcheinander ist sie noch viel zu jung. In ihrem Alter hätte ich das alles hier definitiv nicht begriffen. Da war ich gerade mitten in meiner Physikobsession. Meine Güte habe ich die Bücher damals verschlungen.

„Du wirst ihm nicht wehtun." Es ist wie eine Drohung formuliert, das ‚sonst' hängt still zwischen uns in der Luft. Es ist nicht gerade effektiv, denn jetzt mal ehrlich, was will sie mir schon anhaben können? Zudem vernichtet das leise ‚oder?' das ihren Worten nachhallt jeden restlichen Effekt. Aber sie hat muhm und das kann ich respektieren. Es erinnert mich irgendwie total an Jake.

„Keine Sorge", beginne ich, „ich werde keinen Schaden anrichten." Und diesmal sage ich sogar die Wahrheit. Jake wird schlimmsten Falls, falls er entscheidet mich zu verarschen, vielleicht eine schockierte Viertelstunde haben, während er verdaut, dass sein Plan gescheitert ist, aber mehr auch nicht. Ich werde ihm ja nicht gerade das Herz brechen. Milde Genervtheit seinerseits und ein Sieg für mich – mehr wird dabei nicht rauskommen.

Ich setze den letzten Punkt, bevor ich Millie den Schmierzettel zuschiebe.

„Hier. Alles was du für die Matheschularbeit wissen musst." Vielleicht sogar ein bisschen mehr, aber das muss sie ja nicht wissen und es ist ohnehin besser immer gründlich zu sein.

Millie blickt mir verdutzt entgegen. Der Schock, das ich all ihre Zettelchen auf eine Doppelseite zusammengefasst habe sitzt wohl tief. Wenn Jake tatsächlich so viel zuhause tratscht, wie sie sagt, weiß sie, dass der der Zettel legitim ist.

„Das nächste Mal lern einfach gleich im Unterricht mit einer positiven Einstellung mit und zögere deine Hüs nicht immer so lange raus. Schuleschwänzen mag ja cool wirken, aber frag Jake mal in ein paar Jahren, wie es ihn mit der Devise in Uni oder Job ergeht. Nicht gut, dass garantiere ich dir."

Ihre Mundwinkel ziehen leicht nach oben. Falls ihre Gestik der von Jake gleicht, bin ich zu ihr durchgedrungen.

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