Die Lektion ist aber mal schief gelaufen
Gleich am nächsten Morgen schreibt Mutter mich krank. Sie spricht es nicht einmal mit mir ab. Sofort bekomme ich es nicht mit, es dauert ein wenig, fast zwei Stunden, bis ich es realisiere. Es regt mich auf, doch so wirklich kann ich es mir nicht verübeln. Diesmal bin ich nämlich zwar nicht zu spät ins Bett gegangen, aber dafür gleich zwei Stunden früher aufgestanden.
Ich musste meine Prognosen umschreiben und meine Daten anpassen. Daten mit denen ich meine, Jakes Verhalten nun nahezu perfekt Vorhersagen zu können. Im Grunde einfach durch eine genauere Version von dem was ich ohnehin schon seit Jahren tue. Was wir alle eigentlich tagtäglich tun. Andere anhand von Stereotypen klassifizieren.
Ein Beispiel: Badboys tragen Lederjacken und generell einfach eine Menge Schwarz. Jake trägt auch eine Lederjacke und eine Menge Schwarz. Ergo ist Jake ein Badboy.
Das wäre ein klassisches Urteil. Doch wenn ich mir die Lederjacke ansehe, kann ich euch noch viel mehr sagen als das.
Ich kann euch sagen, dass er sich gut um seine Sachen kümmert. Dass es ihm mehr auf Qualität als Quantität ankommt. Dass es ihn nicht stört aus der Masse herauszustechen. Und daraus lese ich wiederum ab, dass er kaum Freunde hat und die wenigen, die er doch dazu zählt, alle aus dem Internet kommen.
Das Spiel kann ich immer so weiter spielen. Es weiter und weiter in die Länge ziehen, bis ich anhand seiner Jacke seine Freizeitaktivitäten und sogar eine handvoll seiner Verhaltensmuster vorhersagen kann.
Die Fanfiction, die ich am Wochenende gelesen habe, hat auch etwas geholfen. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass ich den Texten während des Lesens Daten entnommen habe.
Danke halbfotographisches Gedächtnis, du bist mir wie immer eine große Hilfe.
Jedenfalls anhand der Plots dieser Geschichten konnte ich genau ermitteln, welches Verhalten für welche Art von Badboy typisch ist. Einer mit einer tragischen Vergangenheit wird sich anders als jemand verhalten, der die Nummer nur abzieht, um seinen Eltern eins auszuwischen.
Jake ist definitiv Typ angepisst mit dem System, aber generell harmlos wenn nicht provoziert. In Fiction gibt es ein paar grundlegende Punkte, die einen ans Ziel begleiten. Mein Wissen über sie könnte mir vielleicht noch nützlich werden.
Hier mal eine mögliche Liste:
Der Badboy fängt einen Kampf mit jemanden an, weil sich der Hauptcharakter nicht verteidigen kann. Meistens geht es dabei um sexuelle Belästigung oder typisches Mobbing.
Ein Lerndate, weil der Badboy schon wieder einen Test vermasselt hat, ist auch möglich.
Ein Treffen mit der Familie, die alle ein Haufen Engel sind und sein Verhalten nur für eine Phase halten oder überhaupt nichts davon wissen. Und - vergesst die Listenform - alles endet damit, dass er eine andere küsst oder sonst ein ‚Missverständnis' aufkeimt. Ach und davor lernt man noch irgendwann von seinem versteckten Talent – zumindest wenn man auf die Statistik hört. Sexappeal bezahlt halt keine Rechnungen.
Ich stelle mich breit auf und ziehe alles in Erwägung. Keine Chance, werde ich Jake die Oberhand gewinnen lassen. Wenn - falls er mich verarschen will, bin ich darauf vorbereitet.
Aber egal, ich langweile euch bestimmt zu Tode. Wo war ich? Ach ja.
Ich hätte sofort draufgekommen müssen, stattdessen folge ich jedoch unbehelligt meiner Morgenrutine. Ich stehe auf wie gewohnt, mache Frühstück, ziehe mich an und als die Zeit kommt, die Wohnung zu verlassen, kann ich es nicht. Meine Schlüssel sind weg und die Tür ist zugesperrt.
Sooft ich die Türklinke auch betätige, das Schloss springt nicht auf. Einmal, vehement drücke ich sie noch nach unten, bevor ich die Schuhe mit den Knöcheln von meinen Füßen streife und die Wohnung durchsuche. Ich gehe all ihre üblichen Plätze durch, suche in der Kaffemaschine, im Kühlschrank, hinterm Spiegel, unterm Couchtisch - nirgends werde ich fündig. Erst als ich schon dabei bin aufzugeben, stoße ich auf den kleinen gelben Zettel. Beinahe schon versteckt, schielt er aus den offenen Seiten meines Deutschbuchs hervor, das auf meinem Schreibtisch ruht.
‚Nutz die Zeit zum nachdenken', steht darauf in ihrer kritzeligen Handschrift geschrieben. Mein erster Gedanke ist 'unfair'. Mein zweiter ebenso. Verdammt noch einmal, ich habe Schule. Was wird denn jetzt aus meiner perfekten Anwesenheit? Ich hab dieses Jahr noch keinen Tag gefehlt. Nicht eine Stunde habe ich versäumt. Und ja, ich weiß, dass die Anwesenheit nicht wirklich ins Gewicht fällt – Jake ist der beste Beweis dafür, er wäre sonst schon vor Ewigkeiten von der Schule geflogen – aber dennoch regt es mich auf. Sie hat einfach über meinen Kopf hinweg entschieden.
Plötzlich kommt mir ein Einfall. Wir haben einen Balkon und wohnen im ersten Stock. Ein Balkon, der sich gerade einmal 1.20, 1.40 über dem Boden befindet und nicht abgesperrt ist. Man öffnet die Tür mit einem Hebel, keinem Schüssel. Im Grunde also der perfekte Weg in die heimliche Freiheit. Wenn ich mich beeile komme ich sogar noch pünktlich vor dem ersten Klingeln an.
Ich schwinge mir die Schultasche über die Schultern und gehe raus auf den Balkon. Die Tür lehne ich hinter mir nur an, denn das Haus, in dem sich unsere Wohnung befindet, steht im Hinterhof eines anderen Hauses komplett abgeschottet. Wir lassen die Balkontür in den meisten Sommernächten auch sperrweit offen stehen. Es wird also nicht passieren. Die Mathematik steht hinter mir.
Mit mehr Glück als Können schwinge ich ein Bein über das Geländer. Das andere Bein will jedoch nicht so wirklich folgen. Jedes Mal wenn ich es versuche, verliere ich die Balance und drohe mit demselben Talent von der Stange zu fallen, wie man es von mir im Sportunterricht kennt. Reckstangen und ich sind wirklich keine Freunde. Ich wirke vermutlich wie ein zappelnder Fisch.
„Was-?" Es kichert hinter mir. Die Stimme kommt immer näher in schnellen Schritten bis Jake in mein Sichtfeld triff. „Was machst du da?", fragt er um einiges Schadenfroher, als die Situation verlangt.
„Das gleiche könnte ich dich Frage, du-" Meine Stimme bricht mit einem hohen Quietscher ab. Endlich habe ich genug Schwung aufgebracht. Zu viel Schwung sogar. Ich fliege förmlich über das Geländer und zack knallt es mich auf dem Boden. Hätte zumindest so sein müssen. Der Aufprall kommt, aber deutlich leichter als erwartet. Statt auf dem Boden lande ich direkt in Jakes Armen.
"Na hallo, holde Meid." Schon wieder dieses dämliche Grinsen. "Ich glaube du bist gerade für mich gefallen."
Ich könnte ihm den Kopf abreißen, gebe mich aber mit einem Augenrollen zufrieden.
"Der Spruch funktioniert nur auf Englisch und jetzt lass mich runter." Ich zapple mit den Beinen, um meinen Standpunkt klar zu machen, doch Jake lacht nur.
"Aber kleine Häschen wie du muss man doch tragen, besonders wenn sie so frech sind und aus ihrem Käfig krabbeln", neckt er und damit ist meine Toleranzgrenze für seinen Blödsinn heute auch schon erreicht.
"Jake, runter."
"Liam, bei Fuß." Unbeeindruckt hebe ich eine Augenbraue. Anders als er kriege ich die Bewegung auch hin. "Was? Zählen wir keine Hundekommandos auf?"
"Nein, tun wir nicht und jetzt lass mich endlich runter." Mein Ton ist bissig, befehlshaberisch und fast schon petulant, um sich den Begriff aus dem Englischen einfach mal zu borgen.
"Na wenn du unbedingt willst." Seine Arme fallen mit einem Mal weg. Meine Hände winden sich rasch um seinen Hals, in demselben Moment als seine Arme wieder um mich fallen. Er lacht. "Aw, Häschen gefällt es doch wie eine Prinzessin herumgetragen zu werden. Schade das ich keine Kamera parat habe."
Er wackelt herausfordernd mit den Augenbrauen und es ist nicht das erste Mal, dass ich mir wünsche, mehr von seiner launischen Art abzubekommen. Die launische Art, die ihn ruhig und glotzend irgendwo in einer Ecke stehen lässt und ein genervtes 'tch' von seinen Lippen zerrt, wann immer ihn wieder etwas aufregt. Krieg ich den Kerl von vor zwei Jahren zurück? Der, der sich zu schade wäre mich anzugreifen, in meiner Nähe zu sein oder mich überhaupt zu beachten? Bitte?
Ganz ehrlich, wäre ich damals nur nicht zu den Spinden runtergegangen. Wäre ich doch nur nicht länger in der Klasse geblieben oder hätte ich mich nur entschieden mit Hausschlapfen nachhause zu gehen. Dann hätte ich ihn nie beim Rauchen erwischt, mich nie darüber aufgeregt und hätte seine Aufmerksamkeit nie auf mich gezogen. Ich hab ihn einfach ein paar Mal zu oft zum Lachen gebracht. Bin zu interessant für einen unbedeutenden Lehrerliebling gewesen - seine Worte nicht meine.
Ich verdrehe die Augen und irgendetwas in meinem Blick bringt ihn dazu mich endlich abzusetzen. Vielleicht hat er aber auch einfach nur etwas Mitleid mit mir. Nachgiebigkeit im Anblick von Wut kennt er ja nicht. Eigenschüchtert hab ich ihn mit meinen zusammengezogenen Brauen also definitiv nicht. Vielleicht bin ich ihm auch einfach schon zu schwer gewesen. Bei weitem die beste Version des Geschehenen.
"Also Erdbeershake, willst du mir erzählen, warum du deine Wohnung über den Balkon verlässt oder gehört das einfach zu deinem Schulweg dazu?"
Ich rücke meine Schultasche wieder zurecht und mache mich auf den Weg zu dem Eingang des Hauses, das unseres von der Straße abgeschirmt. Jake befindet sich nur einen halben Schritt hinter mir.
"Meine Mutter möchte nicht, dass ich heute die Schule besuche. Sie hat mich krankgemeldet. Ich korrigiere jeglich ihren Fehler."
"In dem du über den Balkon die Wohnung verlässt?" Er klingt so ungläubig, dass es fast schon an eine Beleidigung grenzt.
"Wie bist du überhaupt hier reingekommen?", frage ich ihn. "Ohne Schlüssel lässt sich die Tür nur von innen öffnen."
Er zuckt mit den Schultern, ich kann es förmlich spüren.
"Ich hab einfach rumgeklingelt. Ist wirklich keine Raketenwissenschaft." Er stoppt. Sowohl seine Füße als auch seine Schritte kommen zum Stillstand. "Häschen, dir ist schon klar, dass du jetzt nicht in die Schule kannst, oder?"
"Was redest du da? Natürlich kann ich das."
Ich muss ihn nicht ansehen um zu wissen das er seinen Kopf schüttelt. "Du bist krank gemeldet, ziemlich sicher für den ganzen Tag. Einfach so aufzutauchen - es macht kein gutes Bild. Nimm den Tag doch einfach so, wie er ist. Betrachte ihn als extra Ferientag oder so - ein Geschenk für deine harte Arbeit."
Ich verkneife mir ein Seufzen. Irgendwie hat er schon recht. Nicht mit den ganzen Geschenk und Ferientag Blödsinn, das ist reiner Schwachsinn, aber mit dem unangemeldet in der Schule auftauchen Ding. Es sei denn Mutter hat mich wegen Kopfschmerzen entschuldigt, werde ich nicht so einfach auftauchen können. Und ich kenne sie, sie wird sich eine bessere Ausrede einfallen haben lassen. Vermutlich eine Lebensmittelvergiftung. Wenn ich auftauche, obwohl ich eigentlich auf der Toilette festsitzen müsste, kann ich meiner Glaubwürdigkeit wohl gleich ade sagen.
Ich drehe mich um und mache kehrt zum Balkon, zumindest versuche ich es. Jake fedelt eine Hand durch meinen Rucksack und bringt mich ruckartig wieder zum Stehen.
"Du denkst jetzt nicht ernsthaft daran den Rest des Tages in der Wohnung zu verbringen." Ich verschränke herausfordernd die Arme, ein stilles 'Doch' förmlich in Leuchtbuchstaben auf meine Stirn gestempelt. Jake seufzt, beinahe schon so als würde er mich trotz meines hohen IQs dumm nennen. "Wann kommt deine Mutter heute nachhause?"
Das kommt unerwartet. Ich rechne nicht mit der Frage und antworte deshalb sofort.
"Heute? Zwischen 22 und 23 Uhr irgendwann. Sie hat ein Seminar, ein paar Bundesländer von hier entfernt."
Jakes Griff wandert zu meinen Schultern. Er dreht mich um wie eine einfache Schaufensterpuppe.
"Um die vierzehn Stunden also bevor jemand nach dir sucht. Mehr als genug Zeit für etwas Spaß."
Ich blinzle, warte sogar eine Sekunde um zu sehen ob ich mich verhört habe, dann aber: "Wie bitte?"
Spaß. Spaß schlägt er mir vor. Als ob für all das nicht nach dem Studium Zeit wäre. Als hätten wir nichts besseres zu tun. Als wäre seine Art von Spaß besser, nur weil sie verlangt das Haus zu verlassen. Nein, Spaß kann ich auch noch haben, wenn ich Richter geworden bin. Wenn ich mich durch einen Studienzweig geboxt habe, in dem die Studenten dafür bekannt sind Seiten zu schwärzen, sie sogar komplett aus den Büchern zu reißen oder deine Arbeit zu löschen. Spaß kann ich dann auch noch haben, richtigen Spaß. Jetzt ist Spaß aber lernen und lernen Spaß.
Nicht das er das je verstehen würde. Jake lebt im hier und jetzt. Hat er schon immer getan. Denk nur an den Moment und scheiß auf die Zukunft. Sauf dir das Gehirn aus dem Schädel und schade deinen Organen – wir sind ja jung.
Meine Ohren klirren allein bei dem Gedanken so viel Zeit zu verschwenden. Wir sind schon siebzehn. Wenn wir uns jetzt nicht ranhalten, enden wir irgendwann allein und verlassen in der Gosse. Dann landen wir miese Jobs und verschwenden unser Leben vor der Glotze, da jeder zusätzliche Aufwand wie die reinste Folter klingt.
Vierzehn Stunden habe ich bis Mutter zurückkommt, da könnte ich zumindest mal beginnen eine neue Sprache zu lernen oder über dreißig Kapitel in irgendeinem Fach vorlernen. Und Jake will, dass ich diese Zeit verschwende. Das ich sie mit unnötigem Kram vollstopfe, an den ich mich in ein paar Jahren sowieso nicht mehr erinnern werde.
Es ist immer dasselbe Prinzip. Du kannst ein Eis essen gehen – was dir auf Dauer nichts bringt, dessen Geschmack du schon in ein paar Stunden vergessen haben wirst – oder du tust was für deinen Erfolg. Lernst oder machst deine Hausaufgaben.
"Spaß", wiederholt Jake und mit einem Mal nehmen die Sekunden wieder eine normale Länge an. "Du weißt schon Freude, Vergnügen, etwas anderes machen als den ganzen Tag zu lernen."
Ich verschränke meine Arme vor der Brust und mache eine Schritt zurück. "Lernen ist Spaß, du ungebildeter Neandertaler."
„Mag ja so sein in deiner verdrehten Welt, aber Erdbeershake, du hast es versprochen – wenn ich sage wir gehen raus, dann gehen wir raus. Ein ‚nein' ist diesmal keine Option." Und man sieht wie zufrieden, wenn nicht sogar glücklich, ihn diese Tatsache macht.
Es lässt mich sogleich technisch werden, denn genau genommen hab ich nie etwas unterschrieben. Mündliche Verträge zählen nicht, nicht ohne Aufnahme. Genau das sage ich ihm auch, doch er kontert mit einem simplen ‚Also ist dein Wort nichts wert? Und das nachdem du sogar eine Filmliste für eine Lehrerin geschrieben hast, die sich a) nicht mehr erinnern konnte dich je darum gebeten zu haben und b) nicht mal etwas damit angefangen hat'.
Und so muss ich mich geschlagen geben. Denn anders als Mutter es ausmacht, ist es nicht gerade leicht Wort zu brechen. Einmal ‚Ja' gesagt, gibt es kein zurück mehr. Man hat durchzuziehen – sonst gewinnt nur der innere Schweinehund. Etwas Disziplin muss man haben, auch wenn es mich gerade mehr als sonst etwas nervt. Vierzehn Stunden muss ich nun wegen einer unüberlegten Antwort verschwenden.
„Und was beinhält dieses Date?" Denn wir wissen ja alle, dass es das ist, was er will.
Die Chancen stehen nicht sonderlich gut für ihn. Ich werde die nächsten Stunden mit Sicherheit entweder verachten oder schon in einer Woche vergessen haben. Ja, die eine Stunde ist nett gewesen. Diese Wahrheit kann ich gerne zugeben. Ich neige nicht dazu mich selbst zu belügen. Illusionen kann ich mir auch von jemand anderem machen lassen.
Ich hatte Spaß in der Bibliothek. Mir ist aber auch klar, dass es mir an Verständnis von all den Neandertalern fehlt. Ich bin wie ein Superhirn unter Schimpansen, allein und isoliert durch meinen Verstand. Natürlich regt es meine Endorphine an, wenn einer der Primaten sich an einem Gespräch mit mir versucht.
Doch die Wahrheit ist, dass ich aufpassen muss, mich von seinem Aussehen nicht blenden zu lassen. Fair werde ich dennoch versuchen mich zu verhalten. Ich bin ja kein Unmensch. Leicht wird es aber gewiss nicht werden.
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