Damit habe ich nicht gerechnet

Es ist Montag. Mutter ist am Wochenende wieder mal nicht wirklich anwesend gewesen. Wie immer habe ich mich also in meine Bücher vergraben. Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mein alter Wattpad-Account dabei wieder Verwendung gefunden hat. Ich bin einfach neugierig gewesen. Außerdem ist es eine billige Variante, um mein Englischvokabular aufzustocken.

Ich bin etwas später als sonst schlafen gegangen, eine ganze Stunde, um genau zu sein. Doch das ist nicht weiter schlimm, montags stehen ohnehin fast nur Nebenfächer auf dem Programm.

Kurz gesagt: Ich rechne mit einem recht entspannten Tag.

Die Sonne scheint, als ich die Tür hinter mir abschließe. Das Wetter ist so angenehm, dass mir der Fußweg nicht wirklich etwas ausmacht. Zumindest für die ersten zwei Minuten.

Parallel zum Bürgersteig verläuft eine kleine Steinmauer, auf der oft kleine Kinder balancieren. Sie geht mir gerade einmal bis zur Hüfte. Als ich also Schritte hinter mir höre, Sohlen, die nicht Asphalt, sondern Backstein treffen, rechne ich fest mit einem Volksschulkind.

Stattdessen taucht Jake neben mir auf. Unverschämt schlendert er - ein siebzehnjähriger - über die Mauer und springt über die Lücken, die die Hauseingänge kreieren. Das ein Kerl mit einem Motorrad sich so etwas traut? Krass. Aber Jake kann es sich ja leisten. Er könnte vermutlich auf einem dieser Kinderkletterparcours auf den Spielplätzen rumkraxeln und die gesamte Schule würde ihn noch immer für mysteriös und gefährlich halten.

Dennoch: So viel Selbstvertrauen würde ich auch gerne mal haben.

"Morgen, Häschen. Du siehst müde aus. Nicht gut geschlafen?"

Ich bleibe stehen und überkreuzte meine Arme. "Dir ist schon klar, dass das nicht funktionieren wird."

Er grinst und beugt sich zu mir hinab. "Wir werden sehen, Erdbeershake. Die drei Wochen haben gerade erst begonnen."

Na klar werden wir das. Es ist lächerlich. Ich weiß nicht mal, wieso ich mich auf das hier eingelassen habe. Vielleicht als eine kleine Challenge? Immerhin, wenn meine Noten Jake überleben, was soll ihnen dann sonst je etwas anhaben können? Aber um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung. Das 'Ja' ist mir entwichen, bevor ich es überhaupt realisiert habe. So instinktiv, als hätte Mutter mich gefragt, ob ich eh brav gelernt habe.

"Ach komm, ignorieren ist unfair. Was hast du am Wochenende gemacht? Selbst eine Leiche sieht wacher als du aus."

"Gelernt. Gelesen." Das übliche halt. Kurz mal gekocht und die Wohnung aufgeräumt.

"Okay, etwas eintönig." Jake schnalzt die Zunge. "Wenigstens irgendwas Spannendes gelernt?"

Wieder halte ich mich kurz. "Langweilige Themen sind oft leicht zu durchschauen. Ich verschwende nicht viel Zeit mit ihnen." Eine Pause. "Wenn das dein Versuch ist, nett zu sein, lass es. Ich verschwende auch nicht gerne meine Zeit mit Erklärungen, die ohnehin nur auf taube Ohren fallen." 

"Taube-? Ach Häschen, du weißt doch, dass ich dir gerne zuhöre. Ich komme zwar nicht immer mit, aber ist das denn wirklich so wichtig?"

Ich verdrehe meine Augen. Nein, es ist nicht wichtig. Diese Pingeligkeit kann ich mir nicht leisten. Dennoch regt es mich auf. Ich sollte nicht dauernd in diesen Dingen zurückstecken müssen, nur weil ich besser als die meisten bin.

Jake seufzt. "Na gut. Themenwechsel. Was hast du heute gefrühstückt?" 

Diesmal kann ich wirklich keine längere Antwort geben. Ich zucke mit den Schultern. "Nichts."

"Nichts?"

"Keine Zeit gehabt."

"Aber du bist doch derjenige, der-" 'immer wie ein Bulldozer frisst?', nehme ich an, das er sagen wollte. Und er würde damit nicht einmal falschliegen. Mein Gehirn braucht Treibstoff, um zu funktionieren, so wie alles andere auch. Aber dennoch: ist ja nicht so, als würde ich verhungern. Mein Spind ist randvoll mit Nüssen gefüllt. Ich werde einfach zwei, drei, sechs Dosen essen und - tada! - ich funktioniere wie immer.

Genau das sage ich ihm auch. Vehement schüttelt Jake den Kopf.

"Na-ah, keine Chance. Komm, erste Stunde ist Religion - Freistunde - ich weiß, dass du abgemeldet bist. Die extra Lernstunde kannst du locker sausen lassen. In der Siebten tauchen die Aufsichtslehrer eh nicht mehr auf."

Ich schlinge meine Finger um die Träger meines Rucksacks und ziehe ihn näher an mich. "Das kannst du vergessen. Ich bin schon verplant."

"Ach und womit?"

"Ethik. Unsere Schule bietet das Fach zwar nicht an, aber der Jahresstoff ist grob online einzusehen."

"Du lernst für ein Schulfach, das es nicht gibt und nicht benotet wird? Was? - Gibst du dir auch selbst Hausaufgaben auf?"

Ich verdrehe meine Augen. Mit zusammengebissenen Zähnen nicke ich.

Jake schnaubt und springt endlich von der Mauer herab. "Nun gut, dann sehen wir uns später, 160er." Zwei Finger heben sich zu seiner Stirn zum Salut. Er zwinkert mir noch zu und dann dreht er um und verschwindet. Einfach so. Ich bin ihn noch nie so schnell losgeworden. Jetzt wäre es nur gut zu wissen, wie genau ich das angestellt habe. Die Taktik würde ich gerne wiederholen.

Ohne weitere Ablenkungen ist die Schule schnell erreicht. Mit einer Packung Nüsse in der Hand schließe ich die Bibliothek auf - die zuständige Professorin hat mir vor Jahren den Schlüssel zugesteckt. Sie weiß, dass ich mich benehmen kann.

Mit drei Büchern breite ich mich auf meinem üblichen Tisch aus. Das Diktiergerät meines Handys läuft und zeichnet meine Worte für später auf. Eine nette Technik, die mir Zeit beim Lernen spart. So muss ich meine Notizen nur einmal statt zweimal schreiben.

Ich picke durch die Nüsse und lasse die Zeit vergehen. Drei Kapitel arbeite ich durch, ehe sich die Tür zur Bibliothek öffnet. Ich hebe meinen Kopf, um die Professorin zu grüßen, etwas verwirrt, da sie an einem Montag normalerweise nie so früh auftaucht. Mein Lächeln verschwindet, als mein Blick Jake trifft.

Was-? Die Worte ersticken in meiner Kehle.

"Hey, Erdbeershake! Noch Hunger?" Winkend hält er ein weißes Sackerl in die Höhe. Ich habe kaum Zeit zum blinzeln, da schwingt er sich auch schon in den leeren Platz neben mich. Das Sackerl landet auf dem aufgeschlagenen Buch vor mir.

"Ähh", beginne ich, Skepsis vermutlich mehr als deutlich in meinem Gesicht zu sehen. "Ist das vergiftet?" Ich würde es ihm nämlich zutrauen. So was von. Wären Liebestränke real, wäre, was auch immer in dem Sackerl ist, bestimmt damit getränkt.

"Ja, Liam. Weil das auch die beste Art wäre, dich umzubringen. In einer Schule voller Kameras und in einem Raum, in dem nur ich dir gefolgt bin. Einen schnelleren Weg in den Knast gibt es kaum."

Während er spricht, öffnet er das Sackerl und stellt einen Pappbecher und eine Papiertüte mit dem Ströcklogo vor mich. Bei sich macht er das Gleiche. Meine Bücher schiebt er dabei immer weiter weg, bis sie fast auf der anderen Seite des doch eher großen Tisches landen.

"Komm", sagt er. "Iss. Um die Uhrzeit ist das meiste im Laden noch warm."

"Essen ist in der Bibliothek verboten", versuche ich mich rauszureden. Doch Jake tippt nur einen Finger gegen die leere Dose Cashewnüsse auf dem Tisch, ein stilles 'Du hast es versprochen' in seinem Blick und schon muss ich mich geschlagen geben. Die Chancen, das die Professorin so früh auftaucht, sind ohnehin gering.

Vorsichtig greife ich zum Pappbecher. Ganz ehrlich, ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich gleich das Zeitliche segnen werde. Mit einem gedanklichen 'Ich vermache all meine Bücher an Phoebe' nehme ich einen zögerlichen Schluck und blinzle. Es ist kein Kaffee. Es schmeckt nach - ist das weißer Tee? Ich nehme einen weiteren Schluck. Ja, weißer Tee. Definitiv.

Fragend drehe ich mich zu Jake. Woher-?

Er zuckt mit den Schultern und grinst mich leicht an. Wüsste ich es nicht besser, würde ich 'zögerlich' sagen.

"Nach der Mittagspause hast du immer eine Tasse dabei und ich hab eine gute Nase", rechtfertigt er sich. Ich nicke nur leise, auch wenn seine Erklärung nur wenig Sinn macht. Er ist gewiss kein Teetrinker. Wo will er die Mischung bitte schon mal gerochen haben? Ich kann seinen Kaffee ja schon trotz geschlossenes Deckels riechen, so stark nimmt er ihn.

Schließlich öffne ich auch die Papiertüte und sehe einen Heidelbeermuffin. Eine Muffinsorte, die ich nur vom Ströck esse. Genauso wie ich bei Schokomuffins immer die vom Felber bevorzuge. Ich blinzle. Woher hat er das bitte gewusst? Das Einzige, was ich immer in der Schule esse, sind Nüsse, Butterbrote, Gemüse und Obst. Dinge, die das Oberstübchen fit halten.

Fragend richtet sich mein Blick auf Jake, doch der vermeidet jeglichen Augenkontakt. Seine ganze Konzentration scheint auf dem Marillenkuchen zu liegen, den er sich einverleibt.

Ich tue es ihm gleich und Stille kehrt mal wieder zwischen uns ein. Doch nicht für lange. Jakes Aufmerksamkeit widmet sich den aufgeschlagenen Seiten der Bücher. Er mustert den Text, kann ihn vermutlich gerade noch so lesen. Dann:

"Glück: die goldene Regel", liest er den Titel vor. "Klingt interessant." Er zögert - Mr. Regeln sind mir egal, ich mach, was ich will, zögert - vermutlich das erste Mal in seinem ganzen Leben. "Vielleicht kannst du mir ein bisschen was darüber erzählen?"

Ein seichtes Lächeln zieht an meinen Lippen. Ich verstecke es hinter dem Pappbecher und schon das zweite Mal in vier Tagen entlockt er mir ein 'Ja.' Genau wie beim ersten Mal weiß ich nicht genau, warum ich zustimme. Ich erkläre Leuten so selten gerne etwas. Meine Mutter, meine Freunde - niemand hat mir je richtig zugehört, wenn die Themen ins Wissenschaftliche wanderten.

Doch als ich die restliche Stunde damit verbringe, den Stoff zusammenzufassen, erwische ich mich dabei, wie ich lustige Anekdoten einschleuse und versuche, das Thema so unterhaltsam wie möglich rüberzubringen. Ich will, das es ihm gefällt. Brauche es mehr, als ich wusste. Jedes Mal, wenn er eine Frage stellt, weitet sich mein Lächeln. Zur Veranschaulichung zeichne ich sogar ein paar Diagramme und Konstrukte auf meinen Arm. (Keiner von uns hat Papier dabei.) Als auf mir kein Platz mehr frei ist, krempelt Jake seine Lederjacke hoch und hält mir seinen Arm entgegen. Die andere Seite folgt bald darauf.

Erst am Abend, als ich die einstündige Aufnahme zum Notizschreiben abspiele, merke ich, dass sie unser gesamtes Gespräch aufgezeichnet hat. Mein Blick fällt hinab auf meinen Arm, wo die Diagramme und Kritzeleien der ersten Stunde noch immer verweilen. Bevor ich mich hinterfragen kann, speichere ich die Aufnahme auch schon auf meinem Laptop ab.

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