GINGER, VODKA, LIME

Mit ruhiger Hand ziehe ich die Kontur meiner Lippen mit pfirsichfarbenen Liquid Lipstick nach und überprüfe meine Arbeit im Spiegel. Meine blauen Augen kommen unter dem verführerischen Wimpernschlag der neuen Wimperntusche super zur Geltung und meine Sommersprossen sind nur dezent mit Puder verdeckt.

„Wen willst du eigentlich beeindrucken, Charlie?", murmele ich deprimiert zu mir selbst und lasse den Lipstick in meiner Kosmetiktasche verschwinden. Normalerweise bin ich immer Feuer und Flamme, wenn es einen Anlass gibt, sich hübsch zu machen, aber nicht heute. Und das hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass ich die sechshundertdreiundzwanzigste Abfuhr von Semih bekommen habe, sondern eher wie ich sie bekommen habe. „Zwischen uns wird nie mehr sein als eine platonische, respektvolle, geschäftliche sowie freundschaftliche Beziehung", hat er gesagt, nachdem ich in einem Nebensatz erwähnt habe, dass Kinobesuche zu zweit nur funktionieren, wenn man davor zusammen Essen geht. Noch deutlicher kann man keinen Korb bekommen.

Ich verlasse die Damentoilette und werfe meine Kosmetiktasche auf den Tisch des kleinen Personalraumes, der mit einer Küche und einer gemütlichen Couch ausgestattet ist, bevor ich zur Lounge gehe. Auf der Suche nach Routine gehe ich hinter die Bar, prüfe, ob alle Kühlfächer mit Flaschen aufgefüllt sind, die Eiswürfelmaschine läuft und genügend Limetten, Zitronen und Orangen aufgeschnitten sind.

„Und du bist dir sicher, dass du für heute Abend nicht mehr Leute einladen willst?", sagt Titan. Ich höre ihn die Treppe heruntergehen, genau wie die Schritte einer weiteren Person, mit der er offensichtlich gerade spricht.

„Ganz sicher", erwidert Semih mit seiner dunklen Stimme und nur einen Moment später stehen beide in der Lounge.

Um nicht wie eine Puppe sinnlos und ohne Beschäftigung herumzustehen, beginne ich, einen Stapel Servietten in der Mitte zu falten und übereinanderzulegen.

„Es kommen nur die Stammgäste aus der Lounge und dem Studio, Sixten und Nika. Wäre eine große Party zu deinem dreißigsten Geburtstag nicht irgendwie angebrachter?" Titan verschränkt seine muskulösen Arme und der Stoff seines schwarzen Hemdes spannt gefährlich.

„Ich weiß nicht, was es groß zu feiern gäbe, außer dass ich wieder ein Jahr älter werde und mir die ersten grauen Haare wachsen", antwortet Semih und deutet schmunzelnd auf seine Schläfen. Ich verbringe genügend Stunden am Tag damit, ihn anzustarren, um unter Eid zu bezeugen, dass Semih keine grauen Haare hat. „Wir machen uns einen entspannten Abend und morgen bittet der volle Terminkalender um meine Aufmerksamkeit."

Schnaubend klopft Titan seinem Halbbruder auf die Schulter. „Du bist Pragmatiker durch und durch, Bro", sagt er, bevor er im Hinterzimmer verschwindet.

Semih schaut in meine Richtung und unsere Blicke treffen sich für den Bruchteil einer Sekunde.
„Du denkst an die Kosten-Erlös-Rechnung für das Studio? Wir müssen bald mit dem Monatsabschluss beginnen." Seine Stimme ist kühl und ruhig, Emotionen sucht man darin vergebens.

Mit einem erzwungenen Lächeln nicke ich ihm zu, bevor auch er den Raum verlässt und mich mit einem leichten Stich im Herzen zurücklässt. Ich atme tief aus und lege meinen Kopf in den Nacken. Warum tue ich mir das eigentlich an?

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Der Abend gestaltet sich genauso wie Semih es prophezeit hat: entspannt und keine große Sache. Ich weiß jetzt schon, dass mein dreißigster Geburtstag eine Eskalation sondergleichen wird. Aber Master Hamid ist eben ein anderer Typ Mensch, nämlich einer, der diesen Trubel nicht braucht und ihn genauso wenig will. Irgendwie bewundernswert.

„Ist alles okay?", fragt mich Nika, die mit einem Long Island Icetea auf der Couch neben mir sitzt und lässig die Beine überschlägt.

„Klar", erwidere ich schulterzuckend und nippe an meinem Drink. „Was soll sein?"

„Na ja, das ist dein fünfter Moscow Mule und jedes Mal, wenn Semih zu uns rüber guckt, reißt du so heftig den Kopf zur Seite, dass ich die Befürchtung habe, du könntest jeden Moment eine Nackenversteifung erleiden."

Frustriert fallen meine Schultern nach unten und ich stelle mein Getränk mit etwas zu viel Schwung auf dem Tisch ab, sodass ein Teil der Flüssigkeit überschwappt. „Du musst mir eine Frage beantworten, Nika."

Neugierig lehnt sie ihren Kopf zur Seite.

„Bin ich die hässliche Cousine mit dem Schielauge, mit der auf dem Schulball niemand tanzen will, und Semih ist der gutaussehende Schulschwarm, der zu nett ist, um mir zu sagen, dass mich ein männliches Wesen nicht einmal für Geld daten würde?"

Verwirrt blinzelt Nika ein paar Mal und verkneift sich dann ganz offensichtlich das Grinsen. „Ich glaube, da spricht gerade der Wodka aus dir."

„Es ist mein voller Ernst. Bin ich wirklich so unattraktiv und abstoßend, dass Semih partout jeden meiner Annäherungsversuche an sich abperlen lässt, als hätte er den Lotuseffekt?"
Nika kennt mein Gejammer über Semihs mangelnde Aufmerksamkeit zu Genüge, wird aber erstaunlicherweise nie müde, sich das anzuhören.

„Zweifle doch nicht gleich am großen Ganzen, Charlie", sagt sie aufmunternd und streichelt mir mit der freien Hand über den Rücken. „Du kennst Semih, er hat seine Prinzipien, an denen er festhält. Und vielleicht findet er eine Beziehung zwischen Chef und Angestellter egal welcher Art einfach unpassend."

Seufzend lehne ich mich nach hinten. „Also bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: Es akzeptieren und aufhören, gegen Wände zu rennen, oder ihn so heftig provozieren, dass er keine andere Wahl hat, als mit mir auszugehen", plappere ich und schnippe mit den Fingern, als mir eine fabelhafte Idee kommt. „Ich suche mir jetzt den schärfsten Typen in diesem Raum für Bodyshots!" Ich erhebe mich voller Enthusiasmus, werde aber nur Sekunden später von Nika an der Schulter wieder zurückgezogen und lande mit einem Ächzen erneut auf der Couch.

„Keine Bodyshots", sagt sie in einem bestimmenden Tonfall und ich unterdrücke mit Mühe ein Schmollen. „Aber du könntest es mal damit versuchen, ihn mit seinen Waffen zu schlagen." Sie lässt meine Schulter los und fährt sich durch ihre hellbraunen Haare.

„Wie meinst du das?", frage ich, bevor ich meinen Drink in einem Zug leere.

„Wenn Semih deine Annäherungsversuche konsequent ignoriert, dann nimm ihm den Wind aus den Segeln und sei die professionellste, objektivste und distanzierteste Buchhalterin und Empfangsdame, die es jemals gab. Gib ihm keinen Grund mehr, dich auf Abstand zu halten, und betrachte es als umgekehrte Psychologie."

Ich denke über ihre Worte nach und riskiere einen Blick zu Semih, der mit ein paar Stammkunden zusammen sitzt und einen ungewohnt entspannten Eindruck macht.
„Das klingt so bescheuert, dass es funktionieren könnte."

Nika hebt grinsend eine Augenbraue, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ihr Vorschlag von Erfolg gekrönt sein wird.

„Hast du dir so auch Sixten geschnappt?", frage ich neugierig, aber sie schüttelt den Kopf und schaut zur Bar, wo ihre bessere Hälfte sich mit einem Bier in der Hand mit Titan unterhält. Obwohl Semih für mich das unangefochtene Nonplusultra darstellt, muss man auf beiden Augen blind sein, um nicht anzuerkennen, dass Sixten fucking heiß ist.

„Nein, ich habe mich selbst so oft in die Scheiße geritten, bis sich sein akutes Helfersyndrom eingeschaltet hat. Als würde man einen verletzten Welpen retten wollen", erklärt sie und bringt mich damit zum Lachen.

Aber ihre Idee hat tatsächlich was – umgekehrte Psychologie. Ich bin an einem Punkt, wo mir jedes Mittel Recht ist.

„Ich brauche noch einen Drink." Entschlossen erhebe ich mich und lasse Nika in Ruhe an ihrem noch fast vollen Cocktail schlürfen.

An der Bar angekommen stelle ich dann ernüchtert fest, dass ich keinen Wodka mehr im Kühlfach habe, also muss ich wohl oder übel neuen holen. Seufzend drücke ich auf den Lichtschalter im Lager und strecke mich, um an eine der blauen Flaschen zu gelangen, die ordentlich nebeneinander im Regal stehen.

„Charlie?", tönt es hinter mir und ich zucke so heftig zusammen, dass mir beinahe die Flasche aus der Hand gefallen wäre. Ich wirble herum.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", sagt Semih, der lässig gegen den Türrahmen lehnt und sich durch die wuscheligen Haare fährt. Instinktiv muss ich ein verzücktes Seufzen unterdrücken.

„Alles gut", erwidere ich sofort und drücke den Wodka an meine Brust, als würde er mir irgendwie Halt geben.

„Ich hab heute Vormittag ein sehr schönes Geburtstagsgeschenk auf meinem Schreibtisch gefunden und wollte mich dafür bedanken."

„War doch nur eine Ausgabe von The Art of Alvin", murmle ich und spüre peinlicherweise, wie meine Wangen heiß werden, was definitiv dem Alkohol geschuldet ist. Im angetrunkenen Zustand benehme ich mich vor Semih immer wie ein Schulmädchen. Nichtsdestotrotz war es verdammt schwer, ein signiertes Exemplar dieses Buches von Semih Lieblingstattookünstler Alvin Chong zu finden. „Eigentlich wollte ich dir ja ein Mixtape schenken. Ich hab gehört, dass es damals, als du noch jung warst, total in war, sowas aufzunehmen. Dummerweise weiß ich nicht, wo man im Jahr 2019 einen Kassettenrekorder auftreiben soll", plappere ich einfach weiter und versuche damit irgendwie davon abzulenken, dass meine Augen an seinem Körper auf und ab wandern. Dieses Hemd steht ihm aber auch ausgesprochen gut.

„Würde ich jetzt auf die vierzig zugehen, würde der Teil mit ‚damals' sicherlich stimmen. Und außerdem ... wenn mich nicht alles täuscht, trennen uns beide auch nicht so viele Jahre?" Mit einem neckischen Funkeln in den Augen legt Semih den Kopf schief.

„Aber, aber, Master Hamid, du wirst doch jetzt nicht den Fehler machen und das Alter einer Frau schätzen?", säusele ich und bin mehr als dankbar, meine Schlagfertigkeit wieder gefunden zu haben.

„Ich brauche nicht zu schätzen." Die Überzeugung in seiner Stimme lässt mich stutzen.

„Ach ja? Und was macht dich so sicher?", frage ich neugierig.

„Ich kenne deinen Arbeitsvertrag."

Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, und schließe ihn wieder. Fuck, daran habe ich tatsächlich nicht gedacht und das, obwohl ich unter anderem auch die Lohnbuchhaltung des Alpha King betreue. Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen.

„Wie dem auch sei. Ich habe mich sehr darüber gefreut." Semih lächelt mich schief an und mein Herzschlag stockt, als er auch noch die Arme ausbreitet und Anstalten macht, mich umarmen zu wollen. Oh nein, Master Hamid, nicht mit mir. Mit Nikas Vorschlag im Hinterkopf trete ich einen Schritt zurück und greife nach seiner Hand, um sie förmlich zu schütteln. Direkter Körperkontakt ist bei Semih eine absolute Seltenheit und ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen, dass ich diese Chance nicht ergreife und stattdessen versuche, ihn ein bisschen zu irritieren.

„Sehr gerne, Master Hamid", erwidere ich und nicke ihm höflich zu, bevor ich mit der Flasche Wodka den Raum verlasse.

Sein verdutzter Gesichtsausdruck zeugt davon, dass er damit absolut nicht gerechnet hat.
Mit meinem sechsten Moscow Mule sitze ich ein paar Minuten später wieder bei Nika in der Lounge, mittlerweile haben sich Sixten und Titan zu uns gesellt und präparieren eine Wasserpfeife. Und passenderweise reden sie gerade über mein absolutes Lieblingsthema: Titans Singledasein.

„Du bist jetzt zweiunddreißig, solltest du nicht langsam an Kinderplanung und sowas denken?", wirft Nika in die Runde und erhält ein resigniertes Stöhnen als Reaktion. Semihs Halbbruder muss sich das schließlich bereits mehrmals am Tag von mir anhören und ich bin um einiges lästiger und nervtötender als Nika, wenn es darum geht, Titan vor Augen zu führen, dass er sich langsam aber sicher ein Weibchen anlachen sollte.

„Siehst du, Titan, ich bin nicht die einzige, die das sagt." Schmunzelnd nehme ich einen Schluck meines Drinks.

„Als Mann bin ich bei weitem nicht so sehr an biologische Prozesse gebunden wie du, meine Liebe", entgegnet er zwinkernd, sodass ich empört meine Dreads über die Schulter werfe. Warum erlauben sich heute alle, über mein Alter zu reden?

„Meiner biologischen Uhr geht es sehr gut, vielen Dank", erkläre ich ihm schnippisch und habe gleichzeitig eine Idee. „Ich sag dir was: Ich wette mir dir, dass ich die Handynummer von jeder x-beliebigen, sich in diesem Raum befindlichen Person in weniger als fünf Minuten bekommen kann. Such dir eine aus, und wenn ich es schaffe, dann darf ich dir Tinder auf dein Handy installieren." Überzeugt stelle ich mein Glas auf den Tisch und verschränke die Arme, während Nika und Sixten amüsiert in Titans Richtung schauen.

Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck lässt dieser seinen Blick schweifen und zuckt schließlich mit den Schultern.

„Meinetwegen", seufzt er ergeben und deutet unauffällig auf eine süße Blondine, die es sich zusammen mit ein paar anderen Gästen in einer Sitzgruppe in der Ecke bequem gemacht hat. Ich weiß genau, warum Titan sie ausgewählt hat. Ihr Name ist mir entfallen, aber ich weiß, dass sie eine Stammkundin von Anouk ist und eine absolute Zicke obendrein. Aber zum Glück unterschätzt Titan auch meine Hinterlist.

Mit erhobenem Haupt und einem breiten Lächeln gehe ich zur Gruppe, die sich eine Wasserpfeife teilt, und setze mich ungefragt neben die Auserwählte. Ihr bitchiger Blick spricht Bände.

„Hey, ich bin Charlie", stelle ich mich fröhlich vor und bemerke sofort, dass sich mich von oben bis unten abschätzig mustert. „Ich will gar nicht lange stören, aber mein Boss und ich haben eine Wette laufen, und wenn ich in drei Minuten mit deiner Nummer zurückkomme, dann darf ich etwas tun, was mir sehr viel Freude bereiten wird."

Skeptisch zieht Blondie eine Augenbraue nach oben. „Und warum genau sollte ich sie dir geben?", fragt sie genervt.

„Weil du dann die nächsten drei Besuche bei uns jeweils ein Gratis-Getränk bei mir bekommst."

„Die nächsten fünf Besuche", kontert sie sofort.

„Wir treffen uns in der Mitte", sage ich lächelnd und reiche ihr die Hand, die sie nach kurzem Zögern ergreift und dreht, bevor sie sich einen Kugelschreiber vom Tisch nimmt und in filigraner Schrift ihre Handynummer auf meinem Handrücken notiert.

Ich bedanke mich strahlend und tanze regelrecht zu den anderen zurück.

„Ich schätze, jemand darf mir jetzt sein Handy geben", singe ich und hebe meine vollgekritzelte Hand, während Nika und Sixten sich kaputtlachen, weil Titan so aussieht, als würde er es jetzt schon bereuen, mit mir gewettet zu haben.

Keine Sorge, Boss, es wird noch viel schlimmer.

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