Kapitel 38 - „Anruf"
Erstellt am: 08.01.2020
Wie jeden Abend um Punkt sieben Uhr saß Familie Gordon beim Abendessen. Lucy stocherte lustlos in ihrem Essen herum, da sie sich mit ihren Gedanken ganz woanders befand. Mrs. Gordon warf ihrer Tochter alle paar Sekunden missbilligende Blicke zu, die jedoch von ihrer Tochter unbemerkt blieben.
„Ich habe keinen Hunger, kann ich aufstehen?", murmelte Lucy und sah zum ersten Mal von ihrem Teller auf. Mrs. Gordon presste die Lippen fest aufeinander, während gleichzeitig ihre Augen schmal wurden. „Du bleibst sitzen, bis dein Vater und ich mit dem Essen fertig sind."
„Mum..."
„Keine Wiederrede, Lucy.", sagte Mr. Gordon streng, ohne aufzusehen. Wütend ließ sich Lucy zurück in den Sessel fallen und starrte ihren Teller an. Lucy verstand einfach die Welt nicht mehr, warum waren ihre Eltern plötzlich so streng zu ihr? Früher hatten sie ihr doch auch alles vor die Füße geworfen und sie brauchte es nur noch nehmen, ohne irgendeine Erklärung abzugeben. Seufzend verschränkte sie die Arme vor der Brust, bis ihr etwas einfiel. Tiefer als jetzt, konnte die Stimmung nicht mehr sinken.
„Mum, Dad, kann ich mit euch kurz reden?", abwartend sah Lucy ihre Eltern an.
„Nicht beim Abendessen, Lucy."
Lucy verdrehte die Augen und ballte unter dem Tisch die Fäuste. „Es ist mir wirklich wichtig!"
„Lucy..."
„Dad, bitte.", bettelte Lucy. Es war ein enormer Unterschied von Zuhause und der Schule. In der Schule traute sich keiner, ihr zu widersprechen und sie erniedrigte andere Schüler, doch Zuhause hatten ihre Eltern das Sagen. Mr. Gordon legte sein Besteck zur Seite und winkte eine Bedienstete heran, diese machte sich sofort an die Arbeit und entfernte das benutzte Geschirr. Nachdem auch der letzte Teller abgeräumt war, blickten Mr. und Mrs. Gordon ihre Tochter abwartend an.
Eine Geste, die Lucy zeigte, sie solle die Zeit nutzen. „Ich muss euch etwas gestehen und nur damit ihr es wisst, es war nicht meine Absicht, ihn wieder zu treffen. Ihr ..."
„Lucy, komm einfach zum Punkt. Dein Vater und ich sind noch bei Freunden eingeladen. Also, was willst du uns mitteilen?"
Enttäuscht sah Lucy ihre Mum an. „Okay. Ich habe ... Ethan getroffen und wollte euch erzählen, dass er im Krankenhaus im Koma liegt."
Es war still im Esszimmer und keiner sagte ein Wort, nicht einmal die Angestellten trauten sich, auch nur einen Schritt zu machen. Da die Stimmung noch kühler wurde, als sie schon war.
„Charles, bist du fertig? Wir müssen los und wir wollen unsere Freunde doch nicht warten lassen.", wandte sich Mrs. Gordon an ihren Mann.
„Klar, Catherine, gehen wir.", erwiderte Mr. Gordon und ignorierte seine Tochter ebenso, wie es seine Frau zuvor getan hatte. Lucy öffnete den Mund, doch kein Ton verließ ihre Lippen. So verletzt wie in diesem Moment, war Lucy noch nie. Es war, als wäre sie in dieser Sekunde nicht mehr für ihre Eltern anwesend oder noch existent.
„Aber Mum ... Dad ...", sagte Lucy verletzt.
Mr. und Mrs. Gordon erhoben sich und wandten sich kurz an Lucy. „Um spätestens zehn Uhr sind die Lichter aus, Lucy."
„Er liegt im Koma, Mum!", versuchte es Lucy noch einmal, doch alle Mühe half nichts. Es interessierte ihre Eltern einfach nicht, sie gingen nicht darauf ein, als hätte Lucy gar nichts gesagt.
„Verstanden, Lucy?", fragend sah Mr. Gordon seine Tochter an.
Lucy nickte. „Ja, Dad."
„Gut, wir gehen jetzt.", sagte Mr. Gordon und wollte den Raum verlassen.
Doch Lucy packte plötzlich eine immense Wut. „Verdammt, könnt ihr mir endlich einmal, ein einziges Mal, zuhören? Ist es denn so schwer, der eigenen Tochter für ein paar Minuten Zeit zu schenken?"
Mr. und Mrs. Gordon stoppten und drehten sich zu ihrer Tochter um, da sie ihr schon den Rücken zugedreht hatten. „Wie bitte?"
„Ich möchte euch etwas erzählen und ihr ignoriert mich einfach jedes Mal. Jedes Mal, wenn es um mich geht! Immer habt ihr etwas zu tun oder verschiebt es auf später, wobei ich immer um zehn Uhr abends im Bett sein soll! Euer Adoptivsohn lebt! Besser gesagt, liegt er im Koma, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch mit euren Freunden zu treffen? Falls es euch interessiert, er hatte einen schweren Autounfall!", schrie Lucy und riss die Hände in die Luft. „Ich verstehe euch nicht, ihr habt Ethan genauso adoptiert wie mich und ihn habt ihr einfach gehen lassen! Warum? Er ist doch auch euer Sohn! Warum habt ihr ihn gehen lassen? Warum habt ihr ihn überhaupt adoptiert, wenn ihr ihn sowieso nicht wolltet. Warum interessiert es euch einen Dreck, ob er noch lebt oder tot ist!"
„Lucy Gordon, du gehst sofort hinauf in dein Zimmer und um zehn Uhr wird das Licht abgedreht. Ich möchte über den Jungen keinen Ton mehr hören!", donnerte Mr. Gordon wütend. Lucy sackte zusammen, doch sie war tapfer und hielt die aufsteigenden Tränen zurück. „Hast du mich verstanden?"
„Ja, Sir. Um spätestens zehn Uhr im Bett. Ich wünsche euch viel Spaß." Ohne eine Gegenantwort abzuwarten, stürmte Lucy aus dem Esszimmer und hinauf in ihr Schlafzimmer. In ihrem Zimmer ließ sich Lucy auf ihr Bett fallen und schlug wild auf ihre Polster ein, während sie fluchte. Ihre ganze aufgestaute Wut ließ sie auf und an ihrem Bett aus. Wüssten ihre Eltern davon, hätte sie schon längst Hausarrest und die Kreditkarte wäre auch weg.
Irgendwann in den letzten zehn Minuten verließ Lucy die Kraft und auch die aufgestaute Wut. Enttäuscht rutschte sie aus dem Bett zu Boden. Tränen liefen ihr über die Wangen, was bei ihr nicht sehr oft vorkam.
Was ihre Mitschüler nicht wussten, war, dass sie Zuhause nicht nur Luxus empfing, sondern auch ein streng geregeltes Leben. So musste Lucy neben der Schule Klavier-, Cello-, Ballett- , Reit- und Tennisunterricht nehmen. Natürlich durfte die Schule darunter nicht leiden, denn sonst würde Lucy für mindestens einen Monat ohne Kreditkarte auskommen müssen. Langsam versiegten Lucy's Tränen wieder.
Lucy erhob sich und ging in ihr angrenzendes Badezimmer, nachdem sie sich wieder zurecht gemacht hatte, starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie liebte ihre Adoptiveltern, doch es gab Situationen, da fragte sie sich, warum ihre Eltern überhaupt Kinder adoptiert hatten. Lucy hasste es, die perfekte Tochter zu spielen und auch, dass sie in allen Lebenssituationen ihren Eltern Rechenschaft schuldig war.
Ihr Familienleben bestand aus Frühstück, Mittag- und Abendessen – ohne Kommunikation, danach ging jeder seine Wege. Lucy verbrachte die meiste Zeit nach der Schule bei einem der vielen Nebenprojekte oder zu Hause an den Hausaufgaben. Freizeit? Fehlanzeige. An Wochentagen hatte sie zwei Stunden Freizeit und nach dem Abendessen, obwohl sie in dieser Zeit meistens für die Schule lernte. Am Wochenende war sie entweder mit ihren Eltern auf irgendwelchen Veranstaltungen oder verbrachte ihre Zeit mit ihren beiden Freundinnen.
„Du bist doch selber schuld.", sagte Lucy zu ihrem Spiegelbild. „Aber das Thema „Bruder" ist noch nicht abgeschlossen."
Seufzend wandte sie sich ab und ging zurück in ihr Zimmer. Ihr Zimmer war groß und quadratisch. Beim Eintreten bekam meistens jeder Besucher einen Schock, denn ihr Zimmer war in verschiedenen Weiß- und Rosatönen gehalten. Ein großes Himmelbett stand in der Mitte des Raumes, wobei es rechts davon ins angrenzende, geräumige Bad führte und links hatte man einen schönen Ausblick auf das Meer. Vor dem Fenster, das fast die ganze Seitenfront einnahm, stand ein großer, breiter Schreibtisch. Eine schmale, fast unscheinbare Tür war im Glas eingebracht und aus dieser konnte man auf den breiten, länglichen Balkon treten.
Alles in allem, hatte Lucy aus diesem Raum ein richtiges Prinzessinnen-Zimmer gezaubert. Die Wände waren in Hellrosa gehalten – außer der Zimmerdecke, die war weiß. Die Bettwäsche und Polster waren auch in verschiedenen Rosatönen – von hell bis dunkel, es war alles dabei. Die Möbel selbst, waren in Weiß gehalten.
Außerhalb ihres Raumes befand sich Lucy's Ankleidezimmer, das sie auch vom Bad aus betreten konnte. Darin verbarg sich ihr ganzer Schatz. Kleidung, Taschen, Schmuck und viele verschiedene Schuhe. Der Raum war so groß, dass in der Mitte sogar eine weiße Lederbank hinein gepasst hatte –ihr Schatz war in verschiedene Abteilungen abgegliedert.
Das Bad war modern ausgestattet, mit dunkelgrauen Möbeln und weißem Fliesenboden und -wänden . Wenn man eintrat, befanden sich rechts die Regale für Handtücher, Badetücher und ihre Pflegeprodukte. In der Mitte des Raumes befand sich eine freistehende Whirlpool-Badewanne und dahinter befand sich die angrenzende Tür zum begehbaren Ankleidezimmer. Das Bad hatte sogar noch Platz für einen Schminktisch gehabt – links neben der Tür.
Nachdem Lucy ihr Bett wieder in den alten Zustand gebracht hatte, zog sie ihren Schlafanzug an und machte es sich mit einem Buch in ihrem Bett bequem. Lucy hatte schon immer gerne Romane und Thriller gelesen, und obwohl ihre Eltern davon nicht begeistert waren, verboten sie es Lucy – wie viele andere Dinge – nicht. Ein weiteres Geheimnis, das viele ihrer Mitschüler nicht kannten. Sie war schon in der „Blondinen-Dumm-Schublade" abgestempelt gewesen, bevor sie sie richtig kennen gelernt hatten. Mittlerweile war Lucy die Meinungen anderer Schüler egal, denn sie war beliebt – obwohl sie zickig und launisch war. Wer sie kannte, wusste inzwischen, dass sie Köpfchen besaß und nicht dumm war.
Lucy war so vertieft in ihr Buch, dass sie vollkommen die Zeit vergaß, und erst ihr läutendes Handy, beförderte Lucy zurück in die Realität.
„Hallo?"
„Lucy. Ich bin es, Renée. Zoey kann ich nicht erreichen, also melde ich mich einmal bei dir. Ich rufe aus dem Krankenhaus an."
Lucy setzte sich aufrecht ins Bett. „Oh, ist alles in Ordnung?"
Rene seufzte tief und begann dann zu sprechen.
~ ~ ~ ~ ~
Zur gleichen Zeit stand Zoey im Arbeitszimmer ihres Vaters. Draußen schüttete es wie aus Eimern, während sie sich die Akte von Samuel Brown ansah. Ihr Vater und Melissa waren an diesem Abend ausgegangen, und Zoey wusste, dass sie länger unterwegs sein würden. Mel wollte die freie Zeit noch in vollen Zügen genießen, bevor das Thema „Mutter" Realität wurde.
Langsam ließ sich Zoey auf den Stuhl sinken und saugte jedes einzelne Wort, das in der Akte stand, in sich hinein. Ihr Handy hatte sie in ihrem Zimmer gelassen, um ungestört im Büro ihres Vaters zu schnüffeln. Samuel Brown, angeklagt wegen versuchter Vergewaltigung, Einbruch- und Diebstahl, wegen Drogenhandel und -besitz. Zoey schluckte und überflog jeden einzelnen Zettel, der sich in der Mappe befand.
Seufzend und kein Stück schlauer, schloss Zoey die Akte wieder. Sie verstand nicht einmal die Hälfte, was in Sam's Akte stand.
Mit gerunzelter Stirn entdeckte sie ein Schreiben direkt an einen Richter adressiert. Zoey überflog den Inhalt, ohne ihn richtig zu lesen. Sie stockte, als Ethan's Name in ihren Blick geriet. Da Zoey ein sehr neugieriger Mensch war, musste sie natürlich wissen, was in diesem Brief stand. Gähnend fing Zoey erneut zu lesen an, dieses Mal jedoch, ohne die Zeilen zu überspringen.
„Es gehört sich nicht, zu schnüffeln, Prinzessin.", sagte eine belustigte Stimme.
Zoey zuckte zusammen. „Tue ich nicht.", erwiderte sie und sah auf. „Oh mein Gott, ... Ethan."
Belustigt zog der Angesprochene eine Augenbraue in die Höhe. „Was denn? Sehe ich wie ein Gespenst aus?"
„N-Nein. D-Du solltest im Krankenhaus liegen, im Koma.", stotterte Zoey und etwas Warmes ran ihre Wangen hinab.
Ethan lachte, umrundete den Tisch und flüsterte: „Prinzessin..."
Zoey schauderte und stand stocksteif da, sie konnte sich einfach nicht bewegen. Ethan legte eine Hand an ihre Wange und wischte ihr die Tränen fort. „Ich bin immer in deiner Nähe und passe auf dich auf. Wer soll es denn sonst tun und dich vom Schnüffeln abhalten?"
„Ja, aber... du liegst im Koma...", wiederholte Zoey und drehte sich zu ihm. Sie standen sich direkt gegenüber und Zoey schluckte hörbar, als ihre Hand seine Wange berührte. Ethan lächelte und wischte erneut eine Tränenspur von den Wangen.
„Sieht es so aus, Zoey ... wach endlich auf."
„Was?", fragend sah Zoey ihn an.
Ein schrilles Läuten zerriss die Stille und Zoey riss die Augen auf. Erschrocken wirbelte sie in die Höhe und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Sie war eingeschlafen. Ein erneutes Läuten zerriss die Stille und Zoey wirbelte zum Telefon herum.
„H-Hallo, bei C-Cabot.", brachte sie stotternd hervor. Sie fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar, als ihr klar wurde, dass sie alles nur geträumt hatte. Zoey lauschte dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Es war das Hospital. Neugierde machte sich in Zoey breit. „Mr. Cabot ist zurzeit nicht Zuhause, kann ich ihm etwas ausrichten."
Zoey zückte einen Kugelschreiber und ein leeres Blattpapier, mitten in der Bewegung hielt sie inne „W-Wie bitte?", fragte Zoey, bekam die Antwort jedoch nicht mehr mit.
Der Hörer entglitt Zoey's Hand und landete krachend auf den Tisch.
——————————
Vielen Dank für's lesen ❤️
2071 Wörter
Meinung ?🤗
Fortsetzung folgt ...😘
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top