32. Rattenplage

Alina P.O.V.

Ich kann guten Gewissens behaupten, dass die Situation mich grenzlos überfordert hat. Zuerst küsst mich Minho - What the hell? -, dann küsse ich ihn zurück - ...warum?! - und dann wache ich auf, in seinen Armen, und Newt grinst mich an wie so ein creppy Clown aus einem Horrorvideospiel.
Klar haue ich dann ab, wenn mir alles zu viel wird. Das ist eine durchaus menschliche Reaktion, oder?

Und wieder überrasche ich mich selbst, als würde eine unsichtbare Macht mich lenken und zu Dingen zwingen, die ich nie selbst tun würde. Wie jetzt zum Beispiel, wo ich Minho an mich heran ziehe wie in einem kitschigen Romantikfilm. Seine Lippen sind warm und weich wie gestern und bewegen sich rythmisch zu einer stummen Musik, und wie auch beim letzten Mal verfluche ich mich für meine dumme Angewohnheit, ständig auf meinen eigenen herumzukauen. Wahrscheinlich fühlen sie sich nur halb so angenehm an wie seine, aber wenn ja, scheint es ihm gerade herzlichst egal zu sein.
Links und rechts von mir stützt er sich an der Mauer ab und presst mich mit seinem Körper gegen die Wand, sein stockender Atem streift meine Wange entlang und verursacht mir eine Gänsehaut. Meine Hände wandern zu seinem Nacken, hoch zu seinem Haar, wo sie schließlich Halt finden und sich in der flauschigen - oh, und wie flauschig sie sind, holy! -, rabenschwarzen Mähne vergraben.
Nach einer Zeit löst er sich von mir und verweilt nur wenige Centimeter von meinem Gesicht entfernt. Sein Blick wandert über mein Gesicht, bleibt an meinen Augen hängen. Stumm und nach Luft ringend sehe ich zurück, in verliere mich in dem tiefen Dunkel und...

"Alina?"
Beim Klang seiner Stimme zucke ich zusammen. Seine Mundwinkel zucken nach oben und er nähert sich mir wieder, bis seine Stirn gegen meine stößt. Verzweifelt versuche ich meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, sie momentan zu streiken scheint und nur sehr unregelmäßig dahinstolpert.
"Äh, ja?"
stottere ich eingeschüchtert und senke den Blick. Zwei Finger schieben sich unter mein Kinn und drücken es nach oben, sodass ich ihn gezwungener Maßen wieder ansehen muss.
"Du bist süß",
schmunzelt er und in mir bahnt sich das Verlangen auf, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.
"Äh..."
mache ich wieder, meine Wangen beginnen verräterisch zu glühen. Na toll, peinlicher kanns ja wohl kaum werden.
M

inho lacht unterdrückt auf, dann nimmt er plötzlich mein Gesicht in seine Hände und küsst mich. Nur ganz kurz und trocken, sodass ich kaum die Zeit habe zu realisieren, was er tut.
"Genau deshalb..."
murmelt er im Flüsterton, lässt den Satz unvollendet im Raum stehen. Dann beugt er sich abermals nach vor, drückt mir wieder seine Lippen auf; für eine Sekunde nur, mehr nicht.
"...kann ich nicht genug hiervon bekommen",
beendet er den Satz schließlich und lässt mein Herz zickzack rennen.
Er grinst mich an und beinahe hätte ich laut aufgelacht. Soll das ein schlechter Scherz sein? Hat er eine Wette verloren oder so? Das ist doch nicht Minho! Keine Sassqueen, kein Großmaul, kein selbstverliebter Trottel.
Entweder ignoriert er meine ungläubigen Blicke oder aber er übersieht sie einfach, zumindest gibt er keinerlei Reaktion darauf. Seine Finger streifen sanft über meine Wangenknochen, über meine Schläfe, streichen mir durchs Haar. Millionen Ameisen scheinen wir über den Nacken den Rücken hinunter zu krabbeln, in Wellen jagen sie durch meinen Körper, im Takt zu meinem heftig pochenden Herzschlag. Was geht hier eigentlich ab? Kann mir das jemand sagen? Ich checke mich nicht mehr durch.

Lautes Stimmengewirr bricht im Versammlungsraum aus und verwundert dreh Minho den Kopf, ohne die Hand sinken zu lassen. Ich seufze leise und lasse den Hinterkopf gegen die Wand knallen.
"Was ist da los?"
fragt der Asiate leise und blick mir wieder in die Augen. Gosh, dieses Schwarz...
"Der Rattenmann"
nuschel ich zurück und atme tief durch. Jetzt heißt es erst mal essen, dann dem Gelaber des Vizedirektors zuhören und dann... Brandwüste. Ich schaudere.

Stumm warte ich darauf, dass Minho sich von mir löst und nachsehen geht, doch er bleibt weiterhin dicht vor mir stehen, die Stirn gegen meine gelehnt. Will er denn nicht den Anführer mimen? Die Lage checken? Oder so einen Klonk?
Er scheint meine Gedanken zu erraten und lächelt leicht.
"Schade um die Situation"
murmel er, gibt mir abermals einen kurzen Kuss auf den Mund und verschwindet dann im Saal. Einen Moment lang bleibe ich wie erstarrt stehen. Ganz unbewusst fasse ich mir an die Lippen, beinahe meine ich die Wärme seines Kusses noch dort pochen zu spühren. Sollte ich das jetzt verstehen? Diesen Sinneswandel? Wenn wir - wieder - alleine sind sollte ich ihn unbedingt darauf ansprechen. Und auf diese Sache mit Gally; die geht mir auch schon gehörig auf den Keks.

Nach kurzem Zögern folge ich Minho und trete in den Versammlungsraum. Wie erwartet steht dort ein großer Tisch, vollbeladen mit allerlei Essen; und in der einen Ecke, ganz hinten, sitzt Janson, völlig vertieft in seinem Buch. Einige Lichter klopfen gegen die unsichtbare Scheibe, rufen und wacheln mit den Händen, doch der Rattenmann rührt sich nicht und liest in aller Sterbensruhe weiter. Ein fieses Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich gehe schnurstraks auf den Vizedirektor zu.
"Hallo, Janson!"
schreie ich über den Lärm der Jungen hinweg und schlagartig wird es still. Jeder sieht mich verwundert an, sogar der Angesprochene hebt langsam den Kopf.
"Wie geht's, na? Habt ihr die Eisenkugeln schon bereit? Steuert ihr die eigentlich oder haben sie ein Eigenleben? Wie ist das Wetter so, regnet es? Oder gewittert es nur? Habe ich schon mal erwähnt dass ich eine Schwäche für Spanisch habe?"
Ich labere einfach drauf los, versuche möglichst viele Anspielungen auf das Zukünftige rauszudonnern, so lange, bis Janson den Kopf wieder senkt und wortlos weiterliest.
"Hey! Hab ich Ihnen schon erzählt, dass Sie sterben werden? So richtig grausam. Kein schöner Tod."
Er reagiert nicht. Grummelnd verschränke ich die Arme vor der Brust, doch eine Hand legt sich auf meine Schulter und zieht mich sanft, aber bestimmt zurück.
"Jetzt beruhig dich mal. Iss lieber erst was."
Ich drehe mich um und sehe in Newts verschlafenes Gesicht, in einer Hand hält er eine angebissene Birne. Seuftzend gebe ich nach, schnappe mir einen Apfel und eine Banane vom Obsttisch und hocke mich an Ort und Stelle auf den Boden. Früher oder später wird Janson so und so erklären, was hier vorgeht, da kann ich währenddessen genauso gut wieder Kraft tanken.

Immer mehr Lichter strömen in den Saal und machen sich über den Spießetisch her wie ausgehungerte Wölfe über ihre Beute. Newt und Clint zweigen mir bei dieser Ranglerei freundlicherweise etwas ab, ansonsten hätte ich mich selbst in die wuselnde Masse stürzten müssen.
Nach etlich langer Zeit sehe ich, wie Minho, gefolgt von Thomas, aus dem Jungszimmer treten und auf mich zugetrottet kommen. Der Asiate grinst mich schief an und ich muss mich wirklich konzentrieren, um nicht rot zu werden. Wie soll ich ihm denn bitte jetzt gegenübertreten? So wie vorher? Oder... anders?

Thomas hockt sich neben mich und beisst in seinen Apfel, während Minho sich gegenüner von mir niederlässt. Immer wieder schweift mein Blick zu ihm, doch er macht keinerlei Anstalt mir auf irgendeine Weise näher zu kommen, weshalb ich es auch nicht tue.
Zu meiner Rechten sitzen Newt und Clint und essen Schinkenbrote, Chuck gesellt sich zu Thomas dazu, er hat einige Reiswaffeln ergattert und teilt sie, so süß wie er ist, ganz bereitwillig mit mir. So sitzen wir, stumm vor uns hinkauend, bis der Rattenmann schließlich das Buch mit einem hörbaren Knall zuklappt und in einer Schublade verstaut. Alle Köpfe fliegen herum und eine angespannte Stille breitet sich aus. Janson räupsert sich, ehe er zu sprechen beginnt.
"Danke, dass ihr euch..."
"Komm zu Sache!"
fauche ich genervt dazwischen. Jedes Wort, jeder Atemzug dieser Person geht mir jetzt schon auf die Nerven, obwohl sie noch nicht einmal richtig begonnen hat. Janson runzelt die Stirn, ignoriert meinen Zeischenruf aber und fährt unbeirrt fort. Er beginnt seinen Text herunterzurattern und ich beisse mir ärgerlich auf die Lippen, als ich den ganzen Dreck anhören muss, den ich damals im Buch schnell überlesen habe. Dieses Geschwafel interessiert doch keinen!

"...mit Phase zwei den Einsatz zu erhöhen."
sagt er laut und alle reissen erstaunt die Augen auf, nur ich mahle mit den Kiefern hin und her und warte auf meinen Einsatz.
"Es wird Zeit, dass die Dinge ein bisschen schwieriger werden."
sage ich zeitgleich mit Janson und er wirft mir einen bohrenden Blick zu. Ich kann nicht ganz einordnen, ob darin Wut oder Angst steht, dazu ist er zu weit von mir entfernt.
Ich stehe langsam auf und lehne mich gegen die Tischkante des nun leergefegten Buffettischs.
"Wir wissen von der Sonnenerruption, von Dem Brand, vom Auftrag. Von 6:00 bis 6:05 Uhr ist morgen der Flattrans geöffnet, blablabla. Was wollen Sie uns noch erzählen, hm?"
Ich funkel den Rattenmann möglichst feindselig an, während er weiter seine emotionslose Maske aufbehält und mich mit leeren Blicken mustert.
"Jeder hier ist von diesem Virus - Dem Brand, ihr wisst es ja - infiziert. Jeder."
Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich mit dieser Betonung ganz besonders ansprechen will. Einige Lichter schreien dazwischen, doch der Vizedirektor redet schnell weiter.
"Alles halb so wild! Keine Sorge..."
Während er seinen Buchtext vorspricht, spiele ich mit dem Gedanken, einfach auszuplaudern, dass alle immun sind. Fast alle; meine Gedanken schweifen zu Newt, der mit entsetztem Gesichtsausdruck die Rede des Mannes verfolgt. Ein bittere Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und mein Magen scheint sich zu verknoten. Schnell schlucke ich den Kloos in meinem Hals hinunter und konzentriere mich wieder auf das Gefasel.

"...oder ihr werdet sterben."
Aja, da sind wir.
Ein Bombenhagel aus allerlei Fragen prasselt auf den grauhaarigen Mann herein, doch er beantwortet wie erwartet keine davon und dreht sich stattdessen zu mir um. Einen Moment lang fixieren seine trüben Augen meine - einen ganz, ganz kurzen Augenblick meine ich sogar so etwas wie Mitleid in ihnen aufblitzen zu sehen - dann lächelt er gekünstelt und hebt deutet direkt auf mich. Mir bleibt das Herz stehen. Was kommt jetzt?

"Einhundert Meilen. Nach Norden. Ich hoffe, ihr schafft's. Denkt daran - ihr habts Den Brand. Falls euch der Antrieb fehlen sollte: Wir haben alle infiziert. Und wenn ihr den sicheren Hafen erreicht, werdet ihr geheilt."
Ich warte auf seinen Finalsatz, auf die Warnung vor dem, was passieren wird, wenn man nicht durch den Flattrans geht. Doch sie bleibt aus; stattdessen gribst er noch breiter und lässt den Arm sinken.
"Für restliche Informationen habt ihr ja eine Auskunftstelle. Viel Glück Alina."
Damit wendet er sich ab, die Scheibe läuft trübe an und verschluckt sein Erscheinungsbild komplett.
Wie erstarrt sehe ich ihm nach. Was sollte das denn jetzt? Warum spricht er genau mich an? Sollte das eine Warnung sein? Tausend Gedanken fliegen mir durch den Kopf wie wild gewordene Kolobries. Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke zusammen.
Clint mustert mich mit besorgter Miene, seine Welpenaugen bohren sich in meine.
"Alles okay?"
fragt er leise und ich zucke bloß mit den Schultern. Einmal sehe ich in die Runde, jeder erwidert meinen Blick genauso besorgt wie Clint; nur Minho nicht, der ist viel zu beschäftigt damit, den Sani warnend anzufunkeln. Als würde er - gerade er - sich an mich heranmachen wollen. Die Vorstellung, Minho könnte eifersüchtig sein, lässt mich kurz lächeln, doch sogleich rutschen mir die Mundwinkel wieder nach unten, als ich an die Brandwüste denken muss.
"The Scorch Trails..."
murmel ich leise und Clint legt den Kopf schief, was mich umso mehr an einen jungen Hund erinnert.
"Was?"
"Nichts."
Er zieht die Augenbrauen hoch, aber ich schüttel nur abweisend den Kopf.
"Ich muss mich nur mental auf morgen vorbereiten. Wir werden alle um 6:00 Uhr durch dieses Ding laufen, klar?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehe ich mich am Stand um und marschiere schnurstraks ins Mädchenzimmer.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top