[24] Du Schlampe!
Ich kann die zahlreichen Blicke auf meinen verspannten Rücken brennen spüren, die Leute machen sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre offensichtliche Neugier zu vertuschen. Mit blutunterlaufenden, von dunklen Ringen umrandeten Augen starren sie uns hinterher, als die Wachen uns durch die Ruinstadt geleiten, bis zu jenem Gebäude, in dem sich Newt zurzeit aufhält.
Die Bowlingbahn ist genauso verruchen und düster, wie ich sie mir vorgestellt habe, der Gestank ist muffig mit einem süßlichen Touch, als hätte jemand sein Essen einfach verrotten lassen. Sämtliche Blicke heben sich, als wir den rauchigen Saal betreten, einige der Cranks flüstern sich etwas unter vorgehaltener Hand zu, andere fokusieren ihren Blick stumm und schamlos auf uns, als wären wir Ausstellungsstücke; oder eine besonders gute Mahlzeit...
"Ich hab euch verdammten Strünken gesagt, ihr sollt euch verpissen!"
reisst mich Newts aggressive, raue Stimme aus den Gedanken. Sein zerrupfter, blonder Haarschopf leuchtet durch die Dunkelheit zu mir herüber und ich mache unauffällig einen Schritt zur Seite, um mich hinter der Truppe wegzuducken. Obwohl ich mir einrede, dass ich Newt überzeugen werde können, dass all das Geschehene nur ein Trugbild von ANGST war, so flüstert eine leise Stimme im Hinterkopf mir doch zu, dass es jetzt noch mächtigen Krach geben wird.
Während der Dialog wie im Buch heftig hin und her fliegt, sodass ich unbewusst unter Newts scharfem Ton heftig zusammenzucke, arbeitet mein Hirn verzweifelt an einem Notplan, wie ich die Sache hier am besten angehe. Was ist denn überhaupt mein Ziel? Newt zu überreden, mitzukommen? Newt zu heilen? Mich hier lebend rauszukriegen? Alles keine allzu unwichtigen Punkte auf meiner To-do-List, doch keines erfüllt mich so recht mit Motivation. Erst als Thomas anfängt, sich mit einem der herumstehenden Cranks zu zicken, weil dieser sich in den Streit einmischen will - wobei ich dazusagen muss, dass der Kerl etwa ein-einhalb Köpfe größer ist als der Läufer - reisse ich mich endlich aus meiner Angststarre los und schreite zur Tat.
"Hört auf zu zicken, ihr macht alles nur noch schlimmer!"
Fahre ich Thomas mehr hektisch als ärgerlich an, und der Braunhaarige wendet verwundert den Kopf zu mir, als habe er meine Anwesenheit völlig verpeilt. Zögernd macht er einen Schritt rückwärts, als der Koloss die Hand hochschnellen lässt und mit einer Glasscherbe nach dem Jungen sticht. Brenda schleudert ihm das scharfkantige Spielzeug noch rechtzeitig aus den Händen, als Minho auch schon mit deutlicher kampfbereitschaft auf den Typen zurennt und sich drohend vor ihm aufbaut. Bevor ich allerdings nur einen Mucks herausbringe, zerschneidet Newts plötzlich eiskalte Stimme das immer lauter werdende Gemurmel wie ein Messer, das jeglichen Ton durchtrennt und zum Verklingen bringt.
"Warum ist sie hier?"
Das klang nicht gerade glücklich. Eher in Richtung wütend bis komplett fuchsteufelswild.
"Warum habt ihr sie hierher mitgenommen? Seid ihr wahnsinnig?"
Zögernd drehe mich zu Newt um,der mich mit loderndem Blick fokusiert wie ein Raubtier den Rivalen. Reflexartig schlucke ich schwer.
Der Blonde richtet den Lauf seines Granatwerfers, den er wie aus dem Nichts heraus herbeigezaubert hat, zielgerade auf meine Brust, wo sich der Druck der Anspannung um einen Tick verstärkt. Anstatt aber vor Schock stumm wie ein Fisch zu sein,wie es möglicherweise sogar besser gewesen wäre, löst sich eine Blockade in meinem Hirn und ich beginne, wie ein stotternder Wasserfall ohne Punkt und Komma zu quasseln.
"Ich gehöre nicht zu ANGST, sie haben mich damals kontrolliert, Newt! Nichts davon ist wahr. Ich komme tatsächlich von einer anderen Welt, immer noch, das wird sich nicht ändern. Denk an das Heilmittel, das Eiswasser. Wir können nicht wissen, dass es nicht funktioniert, wenn wir es nicht ausprobieren. Und wir haben nichts zu verlieren. Du hast nichts zu verlieren. Und wenn wir die Chance verpassen, werden am Ende alle sterben,bis auf wenige Hundert. Außerdem... Thomas hat den Brief nicht gelesen!"
Der Brief kommt mir als Letztes in den Sinn. Die Nachricht, die Newt Thomas gegeben hat, als sie ausgebrochen sind aus ANGST's Zentrale. Wo Newt ihn bittet, ihn zu töten, wenn er ein wahrer Freund ist.
Newts Augen erkalten, das Wutfeuer erstirbt und hinterlässt bloß eine emotionslose Dunkelheit, in der sich verzerrt die Umgebung spiegelt. Mir rinnt die Gänsehaut.
"Geht. Geht, bevor ich euch erschieße. Und das meine ich todernst."
Das glaube ich ihm sofort.
Zögernd mache ich einen Schritt rückwärts, als Newt drohend aufzischt.
"Du nicht. Du bleibst noch da. Ich hab mit dir noch was zu bereden."
Mein ganzer Körper vibriert im Takt zu meinem Herzschlag. Mein Atem ist nur mehr ein hektisches Keuchen,und für einen Moment setzt mein Gehirn aus. Wie? Wie konnte es dazu kommen, dass ich so Angst vor dem ehemaligen freundlichen zweiten Anführer habe? Ich verstehe es nicht.
Zu meinem Schrecken befolgen Thomas, Brenda und Minho den Befehl nach kurzem Gemurmel sogar. Irgendetwas in Newts Stimme war so Unmenschlich geworden, dass nicht mal das asiatische Großmaul sich traut, seine Klappe aufzureissen. Das bedeutet Alarmstufe dunkelrot.
Obwohl bei mir sämtliche Instinkte schreien, so schnell es geht zu flüchten, wage ich es doch nicht,mich Newts Befehl zu widersetzen. Der Kreis an Schaulustigen wird größer, sobald Jorge als Nachhut aus dem Raum verschwunden ist, und gleich darauf setzt sich Newt in Bewegung. Mit einem seltsam schleichendem Gang bewegt er sich schnurstracks auf mich zu, bis das Ende des Granatwerfers nur Millimeter vor meiner Brust schwebt. In mir rumort es, vermutlich dreht sich gerade mein leerer Magen um. Hätte ich was gegessen,hätte ich spätestens jetzt erbrochen.
"Weißt du eigentlich, was für ein Miststück du bist?"
zischt Newt mich an, mein Blick bleibt auf seine Hände gesenkt. Ich kann ihm jetzt nicht in die Augen sehen, auf gar keinen Fall. Genauso wie antworten.
"Weißt du, wie schwer es für mich war? Wie schwer ich alles verdauen hab müssen? Wie sehr ich mich hab verstellen müssen, dass keiner etwas mitbekommt? Und dich interessiert es einen Dreck, du scheiß Schlampe!"
Nicht weinen. Nicht... Och, da rinnt mir doch noch eine Träne hinunter. Meine erste in dieser Welt, wie mir auffällt. Trotz versuchten Vergewaltigungen und dramatische Tode durch tragische Opferungen habe ich kein Wasser verloren, doch nun bricht der Damm. Shit.
"Du hast es einfach hingenommen. Der kleine Newt ist doch ganz lieb,der wird nichts sagen, eh?"
Seine Stimme überschlägt sich fast, so sehr zittert sie vor Wut. Die zweite Träne kullert. Shit shit shit.
"Ich habe es versucht, Newt. Aber sie haben mir kontrolliert... Bei der Rede... Ich wollte nie... euch enttäuschen..."
Das letzte Wort geht in einem lauten Mädchengeschluchze unter. Wie mich diese Schwäche ankotzt; aber ich kann sie nicht mehr züruckdrängen. Nicht, wenn ich ganz allein, ohne Schutz und Halt dastehe, ohne Freunde, nur von Hass und Misstrauen umgeben. Das ist zu viel für mich.
Newts Augen klaren etwas auf, und er lässt die Waffe ein Stück sinken.
"Die Rede?"
fragt er ungläubig, und das Irre verschwindet aus seinem Blick. Kurz scheint er nachzudenken, dann beginnt er plötzlich so laut zu lachen, dass ich mich noch mehr erschrecke als bei seinem Rumgebrülle. Jedoch ist es keine fröhliche Lache, eher bitter und verzweifelt.
Er lässt den Granatwerfer komplett sinken, nun mustern seine dunklen Augen mich mit bloßer Verachtung, dass ich immer weiter in mich zusammenschrumpfe, als könne ich mich so aus der Situation retten.
"Du bist wirklich einfach nur dumm!"
faucht er mich an, und kommt einen Schritt näher. Mein Herz beginnt zu flattern wie ein panischer Vogel im Käfig.
"Ich rede von dir und Minho, du Miststück!"
Zuerst zucke ich nur wegen der Beschimpfung zusammen, doch dann realisiere ich seinen Satz erst richtig.
Ich und Minho? Was soll denn das jetzt heißen? In meinem Kopf herrscht komplette funkenstille.
Newt kommt noch näher, sodass ich seinen stinkenden Atem auf meinen Wangen spüren kann. Zähneputzen scheint hier keine allzu große Rolle zu spielen.
Nun bleibt mir nichts andere übrig, als ihm ins Gesicht zu sehen, auch wenn es mir mehr als widerstrebt. Doch statt Hass oder Mordlust sehe ich darin die sachliche Ernste eines Anführers, so wie damals, auf der Lichtung. Seine Augen bohren sich in meine, doch er steht zu dicht bei mir, als dass ich unauffällig den Blick hätte abwenden können.
"Ich hab dich immer gemocht, Alina. Aber du hattest ja immer nur Augen für Minho, der sich wahrscheinlich einen Spaß daraus macht, dich um den Finger zu wickeln. Ich habe darauf immer gute Miene gemacht, aber die Wahrheit schaut anders aus. Vielleicht mag er dich... Aber er hat dich nicht verdient. Ich habe dich verdient! Ich ganz allein!"
Die letzten Sätze schreit er wieder, mir direkt ins Gesicht, sodass er mich mehr als nur leicht anspuckt. Danach nimmt er mein Gesicht grob in seine schwitzigen Hände, das Metall der zu Boden fallenden Waffe hallt durch die seltsame Stille, die sich ausgebreitet hat, und letztendlich küsst Newt mich. Ziemlich lieblos und aggressiv, doch ich bin so und so viel zu sehr verschreckt, um mich irgendwie zu rühren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich nur das Pulsieren meines Blutes in meinem Brustkorb spüren kann, stößt mich der Blonde von sich und hebt die Waffe wieder auf. Kaum dass ich wieder halbwegs klar im Kopf werde, hält er mir den Lauf schon wieder unter die Nase, das Verrückte ist in seinen Augen zurückgekehrt.
"Und jetzt hau ab. Mach das du wegkommst!"
Um seine Aussage zu verdeutlichen, schießt er in die Luft, der Knall der Granaten, als sie gegen die Decke prallen, hallt mir unangenehm laut in den Ohren und verwirrt meine ohnehin schon orientierungslose Seele noch mehr. Wankend drehe ich mich um und renne, die Umstehenden bilden einen Gang bis zu Tür, eine Rettungsgasse. Meine Rettung aus dieser scheiß Situation.
Das Sonnenlicht ist grell und sticht mir schmerzhaft in die Augen, die Fassade ist heiß und rau, als ich daran herunterrutsche. Mein ganzer Körper schlottert wie bei Schüttelfrost, und ich versuche verzweifelt zu begreifen, was da gerade von Statten ging.
Newt war verliebt in mich?
Ist verliebt in mich?
Warum konnten sich die Jungs in meiner Welt nicht auch so um mich reissen? Dort hat mich kein Schwein angesehen, und hier... Sheesh.
Eine Weile sitze ich einfach nur da und lasse mich von der erbarmungslosen Sonne braten, ehe ich mich aufrappel und schwankend durch die Stadt humpel. Wie von alleine finde ich den Weg zurück zum Tor; ob Glück oder Instinkt, kann ich nicht sagen. Doch der Marsch verläuft friedlich; keine Crankmeute, die wie Wölfe auf einen losgehen, keine schreienden Wächter. Nicht wie im Buch, wo alle flohen, als hinge ihr Leben davon ab. Weil es das tat.
Doch auch keine Cranks sind hier. Gar niemand ist hier. Eine Geisterstadt, innerhalb der wenigen Minuten da drinnen ist es wie leergefegt. Oder war es doch eine längere Weile? Ich hab die Zeit total vergessen.
Am Tor sitzt eine einsame Gestalt, beide Flügel des gusseisernen Gestells sind sperrangelweit offen. Also gab es doch eine Hetzjagd, nur habe ich sie um Meilen verpasst. Sollte mich das jetzt freuen und beunruhigen? Mein Gehirn ist noch immer vernebelt.
Die Gestalt entpuppt sich als zusammengesunkene Leiche eines Wächters, durchlöchert von Kugeln wie ein Käse. Eine Blutlache wächst langsam um den Kadaver herum an, ein unförmiges Oval, wie ich unnötiger Weise feststelle. Auch andere Sachen fallen mir auf, die überhaupt nicht von Bedeutung sind: Dass der Himmel die gleiche Farbe hat, wie mein Haar, dass an der einen Wand breit der Graffitischriftzug "Crank" prangt, dass der Kies, der den Untergrund bildet, mehr aus grauen als aus weißen Steinen besteht. Fragt nicht, ich bin eben völlig neben der Spur.
Erst nach einer weiteren Jahrhundertwende, die ich in meinem Trauma verschlafe, fällt mir der weitere Verlauf des Buches ein. Thomas und die anderen sind mit dem Berk geflohen.
Mit dem... Berk.
Weggeflogen.
Und das ohne mich.
BOOM!
Neues Kapitel, hah! Ich bin stolz auf mich :3
Wer hätte das von Newt erwartet, eh? Wie, denkt ihr, wird es das zukünftige Geschehen beeinflussen? :D
Tschüss dann θ.θ
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top