Kapitel 30

Staub legte sich auf Livs schwarze Reitstiefel. Ihr Vater war hier und er wollte ihr zusehen. Er wollte sie reiten sehen und er war gekommen, weil Vincent ihn angerufen hatte. Vincent. Plötzlich kam Liv in den Sinn, wie sie François alles erzählt hatte. Wie Camille gemeint hatte, Vincent würde sich Sorgen um sie machen. Wie er immer so nett zu ihr gewesen war und jetzt hatte er ihren Vater angerufen.

Liv war sprachlos gewesen, als ihr Vater seinen Namen genannt hatte. Doch dann hatte sie sich entschuldigt in der Hoffnung sie würde ihn hier irgendwo finden. Sie musste mit Vincent reden. Unbedingt.

Allerdings hatte sie ihn heute noch gar nicht gesehen, doch Liv wusste, dass er ebenfalls mit seinem Pony Myocène du Blequin in der Prüfung starten würde. Wieso wurden ihre Knie so weich, wenn sie an ihn dachte? Sie wollte es sich einfach nicht eingestehen, dass sie etwas für ihn empfand und wenn, fühlte er überhaupt das Gleiche?
Jetzt mach dir doch nichts vor, er hat schon so viel für dich gemacht, flüsterte eine leise Stimme in Livs Kopf und sie gab ihr vorläufig recht.

Somit kehrte sie mit einem flauen Gefühl im Magen zu den Stallzelten zurück. Sie hatte noch genug Zeit bis zu ihrer Prüfung. Liv sah also noch einmal nach Jumper, Tantot und Sternentänzer, füllte die Heunetze auf, sprach ein paar Worte mit ihrem Falben und dachte mal wieder, wie so oft nach. Jumper knabberte genüsslich sein Heu.

"Du bist ein ziemlich guter Zuhörer", meinte Liv und lächelte bei dem Anblick des Palominos. Er war ein echt tolles Pony und ausgerechnet James Barrymore hatte ihn ihr geschenkt. Ihr verhasster Trainer und neuer Liebhaber ihrer Mutter hatte ihr ein mehr als wertvolles Pony geschenkt. Einfach so. Plötzlich begriff Liv, dass daran etwas faul sein musste. James Barrymore schenkte ihr nicht einfach ein Pferd.

Doch im Moment war es ihr vollkommen egal.

"Jumpi, was denkst du? Sollte ich das dunkelblaue oder das schwarze Jackett tragen?", fragte Liv beinahe grinsend. Jumper hob den Kopf und musterte sie etwas irritiert. Natürlich wusste er nicht um was es ging.

"Gut, ich nehm' das dunkelblaue. Da passen die Steigbügel und die Schabracke besser dazu", antwortete sie und strich über Jumpers Stirn. In seinen Augen spiegelte sich eine Geschichte wieder. Sie sprachen Bände. Doch welche Geschichte mag das wohl sein?

"Dein Pony hat einen guten Geschmack, ich hätte auch blau genommen"

Erschrocken zuckte Liv zusammen, doch dann erkannte sie Vincent, der hinter ihr stand. Jetzt musste er sie für total bescheuert halten. Zumindest grinste er.

Liv verdrehte die Augen und versuchte somit ihre Unsicherheit zu überspielen. "Siehst du, ich wette deiner hat nicht so ein exzellentes Stilgefühl"

Nun lachte Vincent und Liv musste einstimmen. "Stimmt. Ich glaube Myo wäre mit dieser Frage sichtlich überfordert" Seine blonden Haare glänzten im grellen Licht der Neonröhren leicht rötlich.

Doch plötzlich wurde Liv wieder ernst. Sie erinnerte sich an das kurze Gespräch mit ihrem Vater und daran, was Vincent für sie getan hatte. Es bedeutete ihr so viel.

"Hör mal ... ähm-"

"Lilliana" Sie wurde von einer hysterischen Frauenstimme unterbrochen, die Liv die Augen verdrehen ließ. Natürlich musste ihre Mutter ihr alles kaputt machen. Sie warf Vincent einen endschuldigenden Blick zu. Dann verschwand sie nach draußen.

"Da bist du ja", empfing sie Dorothea Langhoff. "Die Besitzer von Ma Belle haben angerufen. Die wird nicht mehr so schnell wieder und du brauchst unbedingt ein zweites Pony. Schließlich ist dein Palomino nicht immer in Topform"

Liv wusste, auf was ihre Mutter hinauswollte. Sie wollte ein neues Pony für Liv. Natürlich. Liv widerstrebte dem Drang einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und hörte ihrer Mutter weiter zu.

"Lady in Black ist nächstes Jahr sieben, doch sie ist noch viel zu unerfahren. James hat da schon ein paar Ponys im Auge. Wir könnten gleich nächste Wochenende zum Probereiten kommen. Was hältst du davon?" Dorothea sah ihre Tochter erwartungsvoll an. Ihre Augen glitzerten.

Liv brachte einfach nicht den Mut auf, zu sagen, dass sie darauf eigentlich überhaupt keine Lust hatte, dass sie kein zweites Pony haben wollte, dass sie einfach keine Turniere reiten wollte. Ihr gebrochener Geist regierte ihr Herz.

"Super", meinte sie also und rang sich ein Lächeln ab. Sie würde niemals aus diesem Leben herauskommen.

*

Jumper war heute in Bestform. Für einen Moment hatte Liv all ihre Probleme vergessen und gab sich einzig und allein ihrem Pony hin. Hoffnung machte sich in ihr breit, Hoffnung, mit der vielleicht alles wieder besser werden könnte. Vielleicht konnte sie sich ja doch mit der vorherrschenden Situation arrangieren.

Als Liv und Jumper den letzten Sprung hinter sich gelassen hatten, ertönte wenige Sekunden später laute Musik aus den Lautsprecherboxen. Sie waren Null gegangen und das auch noch mit einer übermäßig guten Zeit. Noch während Golden Jumperboy galoppierte, schlang Liv ihm die Arme um den Hals. So gut war er noch nie gesprungen.

Als sie auf der Anzeigetafel ihren Namen auch noch an erster Stelle betrachten konnte, konnte sie ihr Glück kaum glauben. Ja, vielleicht würde alles besser werden. Überschwänglich klopfte sie Jumper den Hals.

"Das war ordentlich", kam es von James Barrymore und auch von ihrer Mutter durfte sie sich eine Lobesrede anhören. Ines streckte ihr vom Abreiteplatz den Daumen in die Höhe. Es war perfekt. Zumindest für einen winzigen Moment. Bis Lisa ihr von Dino aus zulächelte. Sie würde noch starten. Liv konnte ihren Anblick einfach nicht ertragen und ritt sofort zu den Stallzelten.

Da noch über vierzig Paare reiten würden, entschied sich Liv Jumper erst einmal abzutrensen und zurück in seine Box zu stellen. Auf dem Weg dorthin passte sie Vincent ab. Er würde als einer der letzten starten.

"Gut geritten", grinste er und begleitete sie bis zu Jumpers Box. Obwohl es nicht der perfekt Moment dafür war, wusste Liv, dass sie sich jetzt endlich bei ihm bedanken musste, dafür, was er für sie getan hatte.

"Danke", entgegnete sie und lächelte leicht. Jumper versuchte seinen Kopf an ihr zu reiben und sie schob ihn sachte zur Seite. "Was ich dir vorhin sagen wollte ... Danke. Danke, wegen der Sache mit ... mit meinem Vater" Sie senkte den Blick.

Liv wusste, dass Vincent lächelte. Er lächelte ja rund um die Uhr sein äußerst charmantes Lächeln. "Liv, ich mag dich wirklich gerne. Das ist doch keine große Sache" Vorsichtig hob er ihr Kinn an, sodass sie ihm in die Augen schaute. Seine Handschuhe fühlten sich rau an.

Dann beugte er sich langsam vor und küsste sie. Nur ganz vorsichtig, als habe er Angst, Liv könnte in tausend Einzelteile zerspringen.

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