Kapitel 28
Als die Sonne aufging, befand sich Liv wieder in ihrem Zimmer und hatte zweieinhalb Stunden geschlafen. Vollkommen übermüdet holte sie schließlich an diesem Morgen Sternentänzer aus seiner Box und band ihn auf der Stallgasse an. Einflechten würde sie ihn dann, wenn sie dort waren, genau wie Tantot. Heute waren noch keine Prüfungen und somit hatte sie noch genug Zeit dafür.
Liv putzte noch einmal sein schokoladenbraunes Fell und beobachtete aus den Augenwinkeln Ines, die leise mit ihren Ponywallach sprach, während sie ihn putzte. Liv lächelte leicht bei dem Anblick und konzentrierte sich darauf, dass ihr nicht in jedem Augenblick die Augen zufielen.
Nach eineinhalb Stunden, waren alle Pferde verladen, das Sattelzeug verstaut und Livs Koffer gepackt. Mit einem mulmigen Gefühl ließ sie sich neben Ines auf die Bank im hinteren Teil des LKWs fallen. Sie war schrecklich müde, was Ines offenbar nicht entging.
"Sag mal, hast du überhaupt geschlafen?", fragte sie mit einer leicht besorgten Miene.
"Ein bisschen", antwortete Liv und zuckte leicht die Schultern. Sie hatte keine sonderlich große Lust auf Konversation. Am liebsten hätte sie sich übergeben. Alles in ihr sträubte sich dagegen zurück nach Deutschland zu fahren.
Wenn sie aus Hagen zurück waren, würde ihr normaler Alltag wieder weitergehen. Liv würde wieder in die Schule gehen, sie würde mit Blacky eine weitere Qualifikation für das Bundeschampionat im Herbst reiten und mit Jumper vielleicht für die Europameisterschaften nominiert werden, die sie dann im August reiten würde.
Aber wollte sie das wirklich? Ihr altes Leben?
Sie dachte an Ma Belle, ihre Ponystute, die sich im Frühjahr verletzt hatte. Sie durfte wahrscheinlich nie wieder springen. Ihre Karriere war vorbei, weil ihre Bänder kaputt waren. Sie dachte an Dino, der schon seit langer Zeit in diesem Sport war und wahrscheinlich auch noch drei bis vier Jahre seine Reiterin glücklich machen wird. Sie dachte an Peter, ihren früheren Trainer, von dem sie nie wieder etwas gehört hatte, den ihre Mutter einfach entlassen hatte, sodass Liv von dem bescheuerten Engländer James Barrymore trainiert werden konnte. Sie dachte an ihr früheres Leben und die Antwort fiel ihr gar nicht mehr so schwer.
Ganze achteinhalb Stunden, inklusive mehrerer Pausen, waren sie gefahren, als sie den Hof der Familie Kasselmann um halb drei endlich erreicht hatten. Für viele Nachwuchsreiter war es ein großer Traum hier einmal reiten zu dürfen und wahrscheinlich wird es auch immer ein Traum für diese bleiben, doch für Liv bedeutete es die Realität.
Die einzigen offiziellen deutschen Nationenpreise für Ponyreiter, Junioren und Junge Reiter lockten die besten Nachwuchsreiter aus der ganzen Welt in das Osnabrücker Land. In jedem Land durfte pro Jahr nur ein Veranstalter einen offiziellen Nationenpreis ausrichten. Während sich die Senioren bei dem weltbekannten CHIO in der Aachener Soers maßen, traf sich die Nachwuchsspitze am Fuße des Hagener Borgbergs. Deswegen galten die Future Champions auch als das Aachen für die Jugend.
Die Mannschaftsentscheidungen und Großen Preise standen sportlich natürlich im Mittelpunkt, allerdings konnte man hier ebenfalls ziemlich gut Freundschaften schließen und Kontakte zu ausländischen Reitern knüpfen. Dazu gäbe es Freitag und am Samstag Abend eine Reiterparty.
Liv hatte beinahe die ganze Fahrt über geschlafen. Vor allem zu Ines Ungunsten, denn diese hatte sich schrecklich gelangweilt und machte Liv deswegen gerade so manchen Vorwurf. Aber Liv war das so ziemlich egal.
Eineinhalb weitere Stunden verbrachten sie damit die Pferde und sonstige Sachen auszuladen und ins Stallzelt zu schaffen. Als sie damit fertig waren, fuhren sie alle gemeinsam ins Hotel, wo sie übernachten würden. Liv und Ines würden sich ein Zimmer teilen.
Voller Begeisterung ließ sich Ines auf das großzügige Doppelbett fallen. "Oh Mann ich bin so aufgeregt", grinste sie. "Und das obwohl, ich hier schon zum dritten Mal in folge reite!" Liv zwang sich zu einem Lächeln. Doch Ines merkte, dass etwas nicht mit ihr stimmte.
"Irgendetwas liegt dir doch auf der Seele!", meinte sie und musterte Liv eindringlich. "Liv, was ist denn los?" Die Blonde hatte sich mittlerweile auf den Holzstuhl gegenüber des Betts niedergelassen. Nun senkte sie den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitzen. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln an.
"Liv" Ines war zu ihr hinübergekommen und legte ihr die Hand auf die Schulter. Vorsichtig wanderte sie ein Stück weiter nach unten und strich Liv sachte über den Rücken. "Livi, alles gut" Ines lächelte leicht.
"Ich kann nicht mehr", brachte Liv unter Schluchzen hervor. "Ich kann hier einfach nicht reiten. Ich bin nicht bereit dazu und ich werde es wahrscheinlich auch nie wieder sein" Sie seufzte und stützte ihr Gesicht in ihre Hände. Es durfte nicht so weitergehen.
"Aber du musst doch nicht reiten" Ines versuchte sie zu trösten, doch sie merkte selbst, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach, was sie sagte. Liv hatte strenggenommen keine Wahl. Dorothea Langhoff würde ihr keine lassen.
"Liv, hör zu. Du musst deiner Mutter sagen, dass du das alles nicht willst. Sie wird es verstehen", meinte Ines und versuchte zu lächeln.
"Sie wird es verstehen? Nein, sie wird es nicht verstehen." Liv dachte daran, wie sie das alte Tagebuch ihrer Mutter auf dem Dachboden gefunden hatte, wie ihre Mutter einst ebenfalls erfolgreich gewesen war, wie sie Livs Vater kennengelernt hatte. "Ich soll so werden, wie sie es niemals gewesen ist", murmelte Liv leise.
"Ach Liv" Ines fand keine anderen Worte mehr, was mehr als ungewöhnlich für sie war. Normalerweise hatte sie immer etwas zu sagen. Liv schluchzte an ihrer Schulter. Wieso konnte alles nicht einfacher sein?
An diesem Abend waren sie noch einmal zum Hof gefahren, um nach den Pferden zu sehen. Jumper döste in seiner Box im Stallzelt, als Liv sich davorstellte. "Du bist jetzt meine Nummer eins", murmelte sie leise. "Ich vertraue dir, du bist echt ein tolles Pferd, aber ..." Du bist eben nicht Dino, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, allerdings traute sie sich nicht es auszusprechen. Stattdessen sagte sie etwas anderes und meinte es auch so.
"Ich hoffe du wirst einmal einen Reiter finden, mit dem du die Sterne vom Himmel holen wirst"
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