Thorge richtete sich auf und starrte ins Nichts.
Lasse hielt seinen Hengst an und beobachtete ihn.
Sie waren seit kurzer Zeit wieder unterwegs, doch sie hatten immer noch nichts Brauchbares erfahren. Doch Lasse war zuversichtlich. Noch hatte keiner ihnen gesagt, dass Jule tot war. Sie hatten einige Sklavenhändler befragt, aber niemand schien Jule zu kennen. Auf der einen Seite war das gut, aber auf der anderen Seite hatte er manchmal das Gefühl, keinen Schritt weiter zu kommen.
Sie hatten beschlossen, von Stadt zu Stadt zu gehen und nach Jule zu fragen. Mittlerweile waren sie an der Grenze des Dänenland angekommen und man betrachtete sie immer misstrauischer. Sie waren zwar auch Nordmänner, doch sie sahen gefährlich aus.
Deswegen ritten sie eher durch die Wälder, um nicht auf zu fallen.
Thorge atmete tief ein.
„Was geschieht mit dir?"
Thorge rieb sich die Brust.
„Du weißt, dass Jule und ich zusammen den Leib meiner Mutter geteilt haben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich immer noch mit ihr verbunden bin."
Das wusste Lasse. Es hatte schon immer Vorfälle gegeben, an denen die beiden etwas geteilt hatten, was er nicht verstanden hatte.
„Und jetzt? Was fühlst du?"
Thorge rieb sich erneut die Brust.
„Irgendwas passiert gerade. Ich weiß nicht was, aber einen Moment dachte ich, ich hätte sie schreien gehört!"
Lasse atmete erleichtert ein.
„Dann lebt sie noch!"
Thorge nickte.
„Das habe ich schon immer gesagt. Wir suchen weiter!"
Er schnalzte mit der Zunge und trieb seinen Hengst vorwärts.
Ragnar hatte sie ins Badehaus getragen und wich keinen Moment von ihrer Seite. Ileana hatte die Hebamme geholt und kümmerte sich nun um die Kinder.
Die Schmerzen waren stark, doch die Hebamme versicherte ihr, dass es noch lange dauern konnte.
„Es ist dein erstes Kind. Dein Gemahl ist groß und das Kind ist kräftig. Wie sein Vater eben."
Jule schnaubte, während die Hebamme noch einmal aus dem Badehaus ging, um noch einige Kräuter zu holen.
„Ich bringe ihn um. Sollte ich Lasse Gunnarsson noch einmal begegnen, wird er meinen Zorn zu spüren bekommen. Ich hacke allen Männern die Schwänze ab, das schwöre ich!"
Ragnar lachte leise.
„Na, da hättest du einiges zu tun, mein Herz."
Wieder kam eine Wehe und sie schrie auf.
Sie klammerte sich an Ragnar und fluchte los.
„Das ist mir egal. Es ist ungerecht. Ihr habt euren Spaß und wir die Schmerzen!"
Ragnar hielt sie fest, während die Wehe langsam abflaute. Jule war froh, dass er sie nicht alleine ließ. Trotz den Schmerzen hatte sie die Spannung zwischen ihm und der Hebamme bemerkt. Natürlich war es nicht üblich, dass die Männer bei der Geburt dabei waren. Selbst ihr Vater hatte geduldig vor der Schwitzhütte ausgeharrt, obwohl er am liebsten bei jedem Schrei seiner Frau hinein gestürmt wäre. Doch Ragnar hatte die Hebamme nur böse angestarrt.
"Du weißt, dass ich dir nicht traue!", hatte er geknurrt und die Hebamme war zusammen gezuckt. Murrend hatte sie ihn gewähren lassen.
Jule keuchte leise, als wieder eine Wehe kam. Die Abstände wurden immer kürzer und das Kind drückte gewaltig gegen ihr Becken.
„Ragnar. Ich weiß, dass die alte Fettel sagte, es würde lange dauern. Aber ich habe das Gefühl, als ob ich pressen muss."
Er wurde kalkweiß, dann legte er sie auf die Matte, die auf dem Boden lag. Er wirkte erst entschlossen, als er ihre ihre Tunika anhob, doch nun wurde er noch blasser.
„Du hast Recht. Ich sehe schon Haare. Und die Alte ist verschwunden. Ich gehe sie holen."
Sie schnaubte und biss die Zähne zusammen. Sie packte ihn an der Lederweste und zog ihn zu sich.
„Das wirst du nicht. Ich bekomme mein Kind nicht alleine."
Ragnar nickte und schob ihr die Tunika über den Kopf.
„Ich bin mir nicht sicher, aber musst du nicht pressen?"
Sie lachte laut auf.
„Das könnte ich mal versuchen!"
Die nächste Wehe kam und sie presste mit aller Gewalt.
Ragnar wusch sich seine Hände.
„So ist es gut. Mach weiter so. Ich sehe mehr Haare."
Die Wehen gaben ihr nun keine Atempause mehr.
Immer wieder presste sie das Kind aus sich heraus. Ragnar redete unaufhörlich auf sie ein. Die Tür öffnete sich und Jule hörte, wie er die Hebamme anschnauzte.
"Und wieder enttäuscht du mich!"
Sie wollte ihn von Jule wegdrängen, doch er blieb standhaft.
„Noch einmal, mein Herz. Noch einmal, dann kommt es!"
Wieder kam eine Welle über sie und der kleine Körper glitt aus ihr heraus.
Sie keuchte erleichtert auf und sah nach unten. Ragnar hatte das Kind aufgefangen und sah es an. Tränen standen in seinen Augen, während er das schreiende Bündel betrachtete.
„Du musst ihn auf den Boden legen und ihn aufheben, Ragnar!", forderte die Alte.
Er starrte die Hebamme wütend an, während das Kind, das er in den Händen hielt, immer lauter wurde.
„Ich habe meinem Sohn auf die Welt geholfen. Ich habe ihn mit meinen eigenen Händen aufgefangen. Er ist mein Sohn! Ich werde ihn bestimmt nicht mehr auf den dreckigen Boden legen, nur damit ich ihn wieder aufhebe."
Er nahm ihr das Tuch aus den Händen und wischte dem Kind den Mund und den Körper ab, bevor er ihn auf Jules Brust legte.
Er legte ihm vorsichtig die Hand auf den Kopf.
„Wie ist sein Name?", fragte die Hebamme verstimmt.
Ragnar sah Jule fest in die Augen. Dann verkündete er den Namen des Jungen.
„Lasse! Sein Name ist Lasse Ragnarsson!"
Jule starrte ihn wütend an. Ragnar hatte kein Recht, ihrem Sohn einen Namen zu geben. Und auch wenn er das Kind nun freundlich betrachtete, war sich Jule immer noch nicht sicher, was er vorhatte. Nur eines wusste sie. Ragnar verhöhnte gerade Lasse! Und das passte ihr nicht.
Ragnar kniete sich vor sie hin und wollte dem Kleinen wieder über den Kopf streicheln. Blitzschnell nahm sie ein Messer und hielt es Ragnar an die Kehle.
„Du wirst ihm nichts antun!", knurrte sie.
Ragnar hob beide Hände. Erstarrte sie erschrocken an.
„Das habe ich dir versprochen, Jule!"
Die Hebamme drehte sich zu ihnen um und keuchte. Langsam kam sie auf sie zu.
„Er wird seinem Sohn nichts antun, Frau. Sieh doch selbst, wie wohlgestaltet dein Junge ist. Jeder Mann wäre stolz auf so einen Sohn."
Jule beachtete sie nicht, sondern starrte Ragnar an.
„Nie...nie wirst du ihn etwas antun! Schwöre es oder ich schlitze dir die Kehle auf!"
Die Hebamme keuchte erneut auf, doch Ragnar scheuchte sie nah draußen.
„Geh! Ich kläre es mit meinem Weib. Sie steht noch völlig neben sich!"
Die Hebamme nickte und verschwand schnell. Sie war wohl froh, dass ihr die Verantwortung abgenommen wurde.
Jule starrte Ragnar weiterhin an. Das Messer hielt sie immer noch an seine Kehle, obwohl es ihr immer schwerer fiel. Sie war so verdammt schwach. Doch sie würde ihren Sohn beschützen.
Einen Moment hielt Ragnar ihren Blick stand, dann reagierte er blitzschnell und schlug ihr das Messer aus der Hand. Dann kam er nahe zu ihr.
„Ich...werde...ihm...nichts...tun!", sagte er langsam.
Sie lachte höhnisch.
„Du hast ihm Lasses Namen gegeben! Du wirst dich immer daran erinnern, dass er nicht dein Sohn ist!", zischte sie.
Er nickte.
„Ja, ich habe ihn den Namen seines Vaters gegeben. Aber nicht um ihn irgendwann dafür zu bestrafen! Ich will seinen Vater ehren!"
Jule lachte wieder kurz auf.
„Jeder wird sich seine Meinung dazu bilden! Nie wird er als dein Sohn anerkannt werden, weil sie sich denken werden, dass er ein Gunnarsson ist!"
Ragnar legte dem Kind seine Hand auf den Kopf. Dabei ging er sehr sanft vor.
„Niemand wird den Namen Gunnarsson in den Mund nehmen. Nicht so lange ich lebe! Niemand wird schlecht von ihm denken, weil er mein Sohn ist!"
Sie riss die Augen auf.
„Er ist nicht dein Sohn!", flüsterte sie.
Nun schaute er sie das erste Mal wütend an und sie konnte erkennen, was für ein Mann er sein konnte.
„Lasse ist mein Sohn. Und du wirst die Wahrheit nie jemanden hier sagen!"
Er trennte die Nabelschnur durch und wartete auf die Nachgeburt.
Dann stand er auf und holte eine Decke und ein Fell.
„Wickel ihn gut ein. Ich trage euch beide nach Hause!"
Sein Tonfall war eiskalt und dieses Mal duldete er keinen Widerspruch.
Jule war zu schwach, um sich ihm entgegen zu setzten. Sie wusch Lasse und betrachtete ihn. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Der Junge glich seinem Vater bis aufs Haar. Sie brauchte niemanden etwas sagen. Wenn jemand Lasse kannte, würde er sofort sehen, dass der junge Lasse nicht Ragnars Sohn war.
Kaum hatte sie ihn eingewickelt und sich selbst gereinigt und angezogen, legte Ragnar eine Decke um sie und nahm sie in seine Arme.
Nun hatte sie wieder den freundlichen Ragnar vor sich.
Er gurrte Lasse freundliche Wörter zu und küsste sie hart auf den Mund. einen kurzen Moment sah sie wieder die Wut in seinen Augen.
„Ihr beide gehört nun mir!"
„Ich habe drei ganz großartige Jungs! Wie kann ein Mann nur so von den Göttern gesegnet werden. Der Älteste wird ein großartiger Krieger werden, denn er übt jetzt schon mit dem Holzschwert. Der mittlere Sohn kann seit heute laufen und der Jüngste..."
Jule kicherte, als er Lasse hoch hob und er ihm zum Dank anspuckte.
Ragnar grinste den Jüngsten an.
„Ja, der Jüngste bringt seinem Vater jetzt schon bei, wo seine Stellung ist! Nämlich weit unter den Söhnen." Er seufzte leise. "Das ist meine dritte Tunika, Lasse. Ich habe das Gefühl, du wartest nur darauf! Du bist ein schlauer kleiner Mann!"
Ileana lachte lauthals.
„Wenn ihr noch weiter mit euren Söhnen so sprecht, werden es verwöhnte Bengel, weil sie euren Lobgesängen glauben werden, Herr!"
Ragnar schnaubte beleidigt.
„Ich werde meine Söhne immer loben. Auch das macht sie zu Männern und bestimmt nicht nur Zucht und Ordnung!"
Jule seufzte leise.
Die erste Zeit nach der Geburt waren sehr angespannt gewesen. Dabei gab Ragnar ihr wirklich keinen Grund mehr, ihm zu misstrauen. Er kümmerte sich um Lasse ebenso wie um Yall und Yorrick. Wie er es versprochen hatte, machte er keine Unterschiede zwischen den Buben. Er stand sogar mitten in der Nacht auf und holte Lasse zu ihnen ins Lager, weil er befürchtete, es könnte dem Kind kalt werden oder Lasse würde sich einsam fühlen.Und wenn am Morgen die anderen zwei zu ihnen ins Lager kamen, war Lasse auch mit dabei.
Sie behandelte er wie eine Königin und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Es fiel ihr von Tag zu Tag schwerer ihm böse zu sein.
Sie setzte sich an den Tisch.
„Mein Vater hat uns auch immer gelobt. Und er hat viel Zeit mit uns verbracht. Und meine ältesten Brüder Thorge und Sjard sind sehr gute Krieger, würde ich behaupten!"
Ragnar sah herausfordernd zu Ileana und zeigte auf Jule.
„Hörst du das? Niemand würde behaupten, dass die Kinder von Stijn Gunnarsson verwöhnt sind."
Ileana lachte ihn aus.
„Ich habe aber auch gehört, dass Stijn Gunnarson seine Söhne drillt. Und wenn man sie alle sieht, dann will man es wirklich glauben! Ich habe sie einmal gesehen. Sie sind alle so groß und stark." Sie kitzelte Yall am Kinn. „Da musst du noch eine Menge Grütze essen, bis du an diese Riesen herankommst, Kleiner Herr!"
Yall sah sie ernst an und rannte dann ans Regal, um seine Schüssel zu holen.
„Ich will auch ein Riese werden!"
Jule lachte lauthals, als sie Yalls ernsthaftes und Ragnars beleidigtes Gesicht sah.
„Nur keine Angst, Yall. Dein Vater macht es schon richtig. Und auch er gilt als großer Mann. Du wirst ein Riese werden. Und bestimmt kein verwöhnter Bengel. Ansonsten bin ich noch da und ich werde ihm schon zurechtstutzten."
Sie beugte sich nach vorne und streckte Yorrick die Hände entgegen. Der Junge versuchte wieder einige Schritte alleine zu gehen. Er schaffte es und lächelte Jule an.
„Ich bin so stolz auf dich mein Junge!"
Sie hob ihn hoch und herzte ihn, bis er anfing zu lachen.
„Mama!"
Sie lachte und wirbelte ihn durch die Luft.
Seit Lasses Geburt waren wieder drei Monate vergangen. Sie war nun über ein Jahr die Gemahlin von Ragnar.
Doch noch immer wurde sie von der Gemeinschaft nicht angenommen. Besonders, seit sie Ileana bei sich aufgenommen hatte und Lasse auf der Welt war.
Die Frauen hatten erwartet, dass Jule Ileana oft züchtigen würde, doch es gab keinen Grund dazu. Selbst Ragnar gab mittlerweile zu, dass man die Sklavin wohl falsch behandelt hatte.
Doch es war nicht nur das.
Die Frauen mieden sie. Viele waren immer noch neidisch darauf, dass Ragnar sie gewählt hatte. Und andere hatten Angst, dass ihr Vater wirklich kommen würde, um sie zurückzuverlangen. Notfalls mit Gewalt.
Und die Gerüchte über Lasse nahmen kein Ende. Immer wieder hörte sie bösartige Bemerkungen, dass der junge Lasse mehr einem nordischen Krieger als einem Dänischen glich. Es fiel nie der Name Lasse, doch die Gunnarssons waren allgegenwärtig. Nur wenn Ragnar in der Nähe war, traute sich niemand so etwas zu sagen.
Doch Jule war das alles egal.
Sie hatte in Ileana eine Freundin gefunden und war froh, dass sie damals auf ihren Verstand gehört hatte. Und was ihren Sohn anging, so war auch das egal. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Sie wusste selbst, dass Lasse seinen Vater glich. Doch Ragnar ließ nichts gelten.
„Ileana, reich mir doch bitte eine Schüssel Wasser und meiner Frau ein Messer!"
Jule sah Ragnar erstaunt an.
„Was hast du vor? Willst du den Göttern etwas opfern?"
Er lachte.
„In gewisser Weise schon."
Ileana stellte die geforderte Schüssel auf den Tisch und nahm Ragnar Lasse ab.
Jule holte Ragnars Messer und kam zu ihm.
„Also gut. Wasser und ein Messer. Und was jetzt?"
Er benetzte sich das Gesicht mit Wasser.
„Nimm mir den Bart ab!"
Sie starrte ihn fragend an.
„Was soll ich?"
Er lachte.
„Vor Lasses Geburt hast du mir erklärt, dass mein Bart kratzen würde. Bisher kam ich noch nicht dazu, ihn abzunehmen. Aber jetzt will ich es."
Sie kam grinsend näher.
„Ich habe ein Messer in der Hand. Du weißt, was ich damit anstellen kann?"
Er nickte.
„Das ist mir bewusst und ich vertraue auf deine Gnade."
So kam es, dass Jule ihn rasierte. Auch die langen Haare schnitt sie ihm ab.
Als sie fertig war, stockte ihr der Atem. Er sah auf einmal so anders aus. So jung.
„Gefalle ich dir?"
Ragnar grinste sie an und Jule strich ihm über die Wange.
„Ich würde sagen, es ist annehmbar!"
Er gab ihr einen Klaps auf den Po.
„Du kleine Hexe!", murmelte er.
Lasse fing an zu brüllen.
„Der Herr und Meister verlangt nach seiner Mahlzeit!", rief Ileana.
Jule nahm Lasse in ihre Arme und ging in den Schlafraum, um ihn die Brust zu geben. Sofort verstummte er und saugte gierig.
Jule lächelte traurig.
„Weißt du, ich kenne noch einen Lasse, der immer hungrig war!", murmelte sie traurig. "Du hast jetzt schon so viel von ihm!"
In dem Moment kam Ragnar hinein. Er setzte sich vor sie auf den Boden. Sie wollte ein Tuch über ihre Brust legen, doch er hob die Hand.
„Bitte nicht! Ich will zusehen!"
Jule sah ihn an, doch sie verweigerte ihm seinen Wunsch nicht.
Nach einer Weile war Lasse satt und Ragnar hob ihn an seine Schulter. Vorsichtig tätschelte er seinen Rücken, bis Lasse geräuschvoll rülpste. Dann legte er ihn in den Korb und deckte ihn zu.
Jule blieb die ganze Zeit auf dem Lager sitzen.
Ragnar drehte sich um und betrachtete sie. Ihre Brüste hatte sie nur notdürftig bedeckt und sie erkannte an seinen Augen, dass er versuchte seine Lust zu unterdrücken.
Er räusperte sich.
„Ich werde bald wieder fortgehen! Ich bedaure das sehr. Immerhin kam ich erst vom Thing zurück. Und nun muss ich dich schon wieder alleine lassen."
Sie nickte.
Es war Zeit und er wäre wieder ein paar Monate auf See.
Er kam einen Schritt näher und schluckte hart. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie sanft auf den Mund.
„Wirst du mich vermissen?"
Wieder ein Nicken.
Warum sollte sie es leugnen. Er war ein guter Mann. Das wusste sie schon lange. Und wenn er da war, dann war alles angenehmer.
Lange sahen sie sich nur an. Der bittende Ausdruck in seinen Augen fiel ihr schon lange auf. Aber Ragnar unterdrückte seine Lust wie immer. Bei allen Göttern, wenn es nur anders gewesen wäre. Wäre da nicht Lasse. Wäre Ragnar und sie alleine...sie hätte sich in ihn verlieben können.
Sie schlang die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich hinunter. Einen Moment kam ihr Lasse in den Sinn und ihr schlechtes Gewissen nagte an ihr.
Er seufzte leise und küsste sie wieder und wieder. Er tat ihr keine Gewalt an. Das tat er nie. Sie wollte sich wehren, aber ihre Hoffnung war erloschen. Nie mehr würde sie Lasse wiedersehen. Ihre Familie würde sie vergessen und ihr Leben weiter leben.
Und vor ihr war der Mann, der sie geheiratet hatte und sie liebte, obwohl er wusste, dass sie ihn nie so lieben würde. Sie konnte sich nicht mehr gegen ihn wehren.
Und dann kam es dazu, was sie ihm schon lange verwehrt hatte.
Sie waren nun wirklich ein Ehepaar.
Sie lag in Ragnars Armen und er streichelte ihren Arm.
Doch Jule liefen Tränen die Wangen herunter.
Sie hatte es getan.
Sie hatte Lasse verraten.
Ragnar bemerkte es und seufzte. Aber er sagte nichts, sondern strich ihr die Tränen weg.
Jule war ihm dankbar dafür. Alles, was er jetzt von sich geben würde, wäre in ihren Augen falsch.
Sie hatte die letzte Schwelle übertreten und sich so von ihrer Familie gelöst.
Ja, sie fühlte sich hier immer noch nicht wohl, aber sie musste sich bemühen. Sie war jetzt wirklich Ragnars Frau und die Mutter seiner Söhne.
Einen Moment dachte sie an Lasse, aber sie wusste, dass auch er die Suche irgendwann aufgeben würde, wenn er es nicht schon längst getan hatte. Sie stellte sich einen Moment vor, wie er mit einer anderen Frau glücklich war.
Leise schluchzte sie und Ragnar nahm sie fester in seine Arme.
Tröstend küsste er sie auf den Nacken.
Er wusste, was sie gerade durchmachte.
„Ich liebe dich, Jule. Das weißt du!"
Sie nickte.
Ja, das wusste sie.
Dennoch war sie traurig.
Sie würde Lasse nie wiedersehen. Nicht als freie Frau. Und er wusste nicht einmal, dass er einen Sohn hatte. Das beschäftigte sie am meisten.
Warum war alles so ungerecht?
Hätte es nicht anders sein können?
Wenn Ragnar eine andere Frau gefunden hätte, wäre sie nun Lasses Frau.
Doch nun war es so wie es war. Sie konnte nichts daran ändern.
Sie seufzte und küsste Ragnars Hand.
Sie sollte zufrieden sein mit dem was sie hatte und der Vergangenheit nicht mehr nachtrauern.
„Steh auf, mein Mädchen!"
Jule brummte unwirsch, als sie Ragnars fröhliche Stimme hörte.
Es hatte lange gedauert, bis sie eingeschlafen war. Die Gedanken hatten sie wachgehalten und die wenigen Stunden Schlaf wurden durch Lasse unterbrochen, der am frühen Morgen nach seiner Mahlzeit verlangt hatte.
„Was willst du?", knurrte sie.
Er kniete sich auf das Lager und küsste ihre Wange.
„Wir haben einiges vor heute!"
Jule öffnete unwillig die Augen.
„Was haben wir denn vor?"
Er lächelte sie an.
„Ich bin ein schlechter Ehemann. Denn ich habe etwas versäumt."
Sie richtete sich auf.
„Was hast du denn versäumt?"
Er ging zu seiner Truhe und holte eine Lederhose und eine Tunika heraus. Jule hatte sich schon immer gewundert, was er damit vorhatte, denn für Yall war die Kleidung zu groß.
Er warf es auf das Lager.
„Ziehe dich um und dann komm nach draußen."
Sie sollte Männerkleidung tragen? Wozu?
Da er nicht mehr verraten wollte, beugte sie sich ihm und zog sich um.
Ileana war im Wohnraum und hatte schon das Mahl vorbereitet. Außerdem roch es wieder nach Kaffee. Jule seufzte. Der Geruch erinnerte sie immer an zu Hause.
„Setz dich, Herrin. Ich muss deine Haare machen!"
Während Jule einen Becher Kaffee trank, flocht die Sklavin ihr geschickt das Haar. Dann holte sie eine Kupferplatte hervor und zeigte Jule ihr Werk.
Jule verstand immer noch nicht, was das alles sollte, doch sie ließ alles über sich ergehen.
Doch dann ging sie nach draußen.
Ragnar und der junge Joost warteten schon auf sie.
Ragnar nahm ihre Hand und zog sie auf das freie Gelände vor dem Gut. Joost folgte ihnen grinsend.
„Was hast du vor, Ragnar?", fragte sie.
Er blieb stehen und reichte ihr ein in Leder eingebundenes Ding.
„Mach es auf!"
Jule öffnete die Lederschnur und zog ein Schwert heraus.
Es war wie für sie gemacht. Es war etwas kleiner, als das was die Männer benutzten und auch leichter. Der Griff lag ihr gut in der Hand.
Erstaunt betrachtete sie es.
„Bei allen Göttern, es ist wunderschön!"
Ragnar lächelte sie an.
„Ich habe es schon vor langer Zeit gekauft. Ich wollte es dir nach der Hochzeit schenken. Doch dann dachte ich, es wäre zu gefährlich, es dir zu überlassen. Und als du schwanger wurdest...ich bin der Meinung, dass schwangere Frauen kein Schwert führen sollten. Aber jetzt..." Er winkte Joost näher heran.
„Kämpfe gegen ihn!"
Joost nahm seine Streitaxt und ein Schild.
Jule konnte ihren Gatten nur verblüfft anstarren.
„Du willst, dass ich kämpfe?"
Er zuckte mit den Schultern.
„Du bist eine Schildmaid, oder erinnere ich mich falsch?"
Sie grinste.
„Nein. Ich bin es tatsächlich!"
Joost lachte.
„Dann greif mich an! Ich werde dir zeigen, dass du mir nicht das Wasser reichen kannst!
Jule nahm das Schwert in beide Hände. Es fühlte sich gut an.
Joost rannte auf sie zu, die Axt hoch erhoben. Sie suchte einen festen Stand und ließ ihm den ersten Schlag.
Finde die Schwäche deines Gegners!
Sie hörte Lasse in ihrem Kopf Anweisungen rufen.
Der Schlag von Joost war hart, aber sie spürte, dass er sich zurückhielt.
Sie drehte sich nach ihm um und schlug gegen sein Schild, dann entfernte sie sich wieder und wartete auf seinen Angriff.
Der ließ nicht lange auf sich warten.
Es krachte Metall gegen Metall.
Jule duckte sich, als er wieder die Axt schwang und wich dem nächsten Schlag geschickt aus.
„Pass auf, Mama!"
Sie hörte Yall rufen und sah dann im Augenwinkel, wie auch Ragnar sein Schwert gezogen hatte und auf sie zu rannte.
Greife nicht unüberlegt an! Es bringt nichts, im Zorn anzugreifen!
Sie lachte und trat Joost gegen die Kniekehlen, so dass er auf die Erde fiel, dann duckte sie sich unter Ragnars Schlag hinweg und rammte ihre Faust in seinen Magen.
Bei Thors Hammer, das hatte sie wirklich vermisst. Sie war in ihrem Element.
Die Kampfgeräusche hatten die Bewohner des Gutes angelockt und die Männer grölten und jubelten anerkennend, während die Frauen eher vorsichtig applaudierten.
Doch ihre Söhne bewunderten sie offen. Yall hüpfte aufgeregt auf und ab.
Joost hatte sich aufgerappelt und rannte wieder auf sie zu. Sie drehte sich geschickt zur Seite, so dass er an ihr vorbei lief und verpasste ihm einen Schlag mit der flachen Seite ihres Schwertes. Er flog bäuchlings in den Dreck.
Sie lachte laut auf, als sie sein dreckverschmiertes Gesicht sah.
In dem Moment spürte sie eine Klinge an ihrem Hals.
„Lass dich nie ablenken!", raunte Ragnar und küsste sie auf die Wange.
Sie lehnte ihren Körper gegen seinen und spürte, wie er den Griff lockerte. Sie grinste. Alle Männer waren gleich! Sie strich ihm über den Oberschenkel, hob den Fuß und trat ihm auf die Zehen, was ihn aufjaulen ließ, während sie ihre Faust wieder in seinen Magen rammte und ihn dann noch in eine Gegend trat, in die man einen Mann nicht unbedingt treten sollte.
Er ging vor ihr auf die Knie und keuchte schmerzerfüllt auf.
„Unterschätze mich nicht, Ragnar Bjarnesson! Ich bin die Tochter von Stijn Gunnarson!"
Sie hob ihr Schwert und zeigte auf die Menge.
„Wer ist der Nächste?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top