12.Kapitel

„Du weißt, dass uns jemand folgt?"

Ileana drehte sich auf ihrer Stute herum und schaute nach hinten. Das tat sie nun schon zum siebten Mal.

Jule nickte und zog den Pelz, den sie mitgenommen hatte, enger um Yorrick, der brav vor ihr saß und sie anlächelte.

Sie strich ihm leicht über die Wange.

„Bald darfst du etwas herumspringen, Yorrick!", flüsterte sie ihm zu.

Er lächelte und plapperte vor sich hin. Dazu machte er Zeichen, die Jule mittlerweile besser verstand.

„Ich habe ihn schon bemerkt, seit wir das erste Mal Rast eingelegt haben. Es ist Lasse!", erklärte Jule.

Ileana zog ihre Nase kraus.

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Er ist ebenso in Pelze eingewickelt wie wir!"

Jule seufzte.

„Ich kenne Lasse in- und auswendig. Ich weiß wie er auf seinem Hengst sitzt, locker und eine Hand lässig auf dem Oberschenkel. Ich weiß, dass er in der Nacht immer nur ein kleines Feuer macht, um niemand auf sich aufmerksam zu machen. Ich weiß, dass er im Moment nur einen halben Pelzumhang trägt, damit er nicht behindert wird, wenn er uns vor Angreifern beschützen muss!"

Ileana grinste sie an.

„Das hört sich aber ganz danach an, als ob du ihn sehr genau kennst!"

Jule seufzte.

„Was soll ich dazu noch sagen? Du weißt es doch. Er wäre mein Mann geworden, wenn Ragnar mich nicht entführt hätte."

Ileana nickte lachend.

„Aber das du ihn so gut kennst, war mir nicht bewusst. Es scheint so, als ob du dir jahrelang jede Gewohnheit und Geste von ihm eingeprägt hast. Warum folgt er uns? Ich dachte immer, er mag dich nun nicht mehr sonderlich!"

Jule zupfte wieder an dem Pelzumhang. Es hatte angefangen zu schneien und die dicken Flocken legten sich leise auf den hart gefrorenen Boden. Wenn sie Pech hatte, musste sie lange Zeit bei Thorvald bleiben.

„Ich denke, meine Eltern haben ihn dazu gezwungen."

Sie drehte sich selbst um und hob eine Hand, damit Lasse sah, dass sie ihn schon lange bemerkt hatte. Doch er kam nicht näher. Er blieb auf Abstand.

Ileana schnaubte.

„So ein sturer Esel. Reitet lieber alleine, anstatt in Gesellschaft. Ich hätte den Dummkopf sehr gerne mal gesehen, der dich nicht mehr will! Er könnte doch bei uns reiten."

Das würde nicht passieren.

Jule schnalzte mit der Zunge und trieb ihre Stute an. Es schneite nun immer mehr und sie würden noch lange brauchen, bis sie bei Thorvald ankamen. Sie wollte nicht im Schnee übernachten und das könnte passieren, wenn sie sich nun nicht beeilten.

Ileana blieb an ihrer Seite.

„Dieser Heiler..."

Jule drehte ihren Kopf zu ihr.

„Leif!"

Ileana nickte.

„Leif. Ja. Ich habe viel von ihm gehört. Deine Mutter lobte ihn in den höchsten Tönen und auch deine Tante schwärmt von ihm. Ist er ein alter und weiser Mann?"

Nun lachte Jule schallend.

„Ich kenne Leif nun schon beinahe mein ganzes Leben. Aber er ist nicht alt. Er ist etwa in Tjarks Alter. Ich kenne seine Geschichte nicht, aber ich hörte, dass er als Knabe bei Mönchen war und bei ihnen auch die Heilkunst erlernt hat. Er und meine Mutter sitzen immer zusammen, wenn wir alle bei Thorvald sind. Er interessiert sich sehr für die fortschrittliche Medizin und hat auch einiges von Mutter übernommen. Die Sauberkeit zum Beispiel. Einmal hat er sich beklagt, dass er, bevor er Mutter kennengelernt hatte, nie so oft die Hände mit Seifenlauge gewaschen hat. Und ich muss zugeben, dass seine Hände recht rau sind. Aber er ist ein ruhiger Mann, auch wenn er ein Nordmann ist. Ich mag ihn sehr. Er geht sehr sanft mit den Kranken um. Das ist wirklich ungewöhnlich."

Sie neigte ihren Kopf zu Yorrick, damit er ihre Lippen sehen konnte.

„Du wirst ihn mögen, Yorrick. Er hat immer Zuckerwerk versteckt und wenn du sehr brav bist, gibt er dir bestimmt etwas!"

Statt etwas zu sagen, bewegte Yorrick seine Hände und Jule lachte, während Ileana schnaubte.

„Was hat er gesagt? Ich habe seine Hände nicht gesehen!"

Jule drehte sich zu ihr.

„Er meinte, er wäre immer brav."

Jule hatte einmal bemerkt, dass ihre Jungs zusammensaßen und sich unterhielten. Doch sie sprachen nicht miteinander, sondern machten sich Zeichen. Man konnte nur ab und zu ein Kichern und Lachen hören. Irgendwann hatte sie die Jungs gebeten, ihr das auch bei zu bringen und mittlerweile konnte sie sich richtig mit Yorrick unterhalten.

Yorrick war keineswegs dumm, wie andere es behaupteten. Er beobachtete alle und er merkte sich alles, was er sah. Jule war sich sicher, dass einige ihre harschen Worte gegen Yorrick bald bereuen würden. Yorrick lernte und übte. Sein Vorteil war, dass man ihn unterschätzte. Und das nutzte er manchmal schamlos aus.

Tilda hatte ihr schon oft erzählt, dass er zu ihr kam und sie so lange anlächelte und in seiner seltsamen Sprache ansprach, dass sie ihm aus Mitleid schon etwas zusteckte. Doch schon ein paar Augenblicke später machte er dasselbe bei Tjark. Und auch ihre Eltern hatte er so schon um den Finger gewickelt.

Jule grinste.

Ihr Sohn war ein gerissener kleiner Kerl, dabei aber auch loyal seinen Brüdern gegenüber. Denn was er so ergaunerte, teilte er mit Yall und Lasse.

Sie kitzelte ihn leicht am Kinn.

„Ich möchte aber nicht, dass du Leif ausnutzt, Yorrick. Deine Brüder sind nicht hier!"

Er machte empörte Zeichen, was sie wieder zum Lachen brachte.

Ileana schnaubte.

„Ich bin froh, wenn ich von diesem Gaul unten bin und endlich sehe, was mein kleiner Liebling sagt!"

Mittlerweile hatte sich auch Ileana damit abgefunden, dass Yorrick nicht hörte. Und auch sie hatte die Zeichensprache gelernt.

„Er meinte, er wäre nicht schuld daran, dass ihn alle für dumm hielten!"

Ileana nickte ernst.

„Da hat er Recht."

Sie kam nahe zu ihnen, so dass Yorrick ihre Lippen sehen konnte.

„Mach ruhig, kleiner Liebling. So lange sie es denken, nutzen wir es aus!"

Jule schnaubte.

„Du unterstützt ihn noch dabei!"

Ileana grinste.

„Oh ja. Wir müssen sehen, wo wir bleiben!"



Lasse hörte die Frauen lachen. Schon seit einer ganzen Weile. Sie schwatzten schon seit Stunden und hatten keine Pause mehr gemacht.

Es dauerte nicht mehr lange bis sie endlich bei Thorvald ankamen.

Das war auch gut so.

Es hatte zwar nun aufgehört zu schneien, doch er lag eine dicke Schicht Schnee auf dem Boden und die Pferde hatten mittlerweile Schwierigkeiten vorwärts zu kommen, ohne auf den gefrorenen und schneebedeckten Boden zu rutschen.

Die Frauen hielten an und Jule ließ den Jungen hinunter, damit er herumlaufen konnte.

Sie selbst gaben den Pferden etwas trockenes Brot und unterhielten sich dabei.

Lasse stieg selbst ab und fütterte ebenfalls seinen Hengst.

Der Schnee war überraschend gekommen. Lasse hatte es nicht kommen sehen. Und seine Brüder bestimmt auch nicht, sonst hätten sie die Frauen nicht fortgeschickt.

Er war in seine Arbeit vertieft, so dass er die Reiter erst gar nicht bemerkte, die sich ihnen näherten. Die Hufschläge wurden durch den Schnee gedämpft und man spürte nicht einmal Erschütterungen.

„Yorrick!"

Er hörte Jule schreien und drehte sich schnell um.

Der Junge saß im Schnee und beobachtete irgendetwas. Auch er bemerkte die Reiter nicht, die schnell auf ihn zu geprescht kamen.

Jule rannte los, doch sie würde ihn nie erreichen.

Lasse fluchte und versuchte durch Armbewegungen die Reiter auf den Knaben aufmerksam zu machen. Gleichzeitig sprang er vor, doch es war zu spät!

Yorrick hob den Kopf und man sah das Entsetzten in seinem Gesicht. Er versuchte zur Seite zu springen, doch sein Fuß verfing sich in einer Baumwurzel und er stolperte.

Das erste Pferd erfasste ihn und er wurde gegen einen Baum geschleudert.

Lasse erreichte ihn als erstes und hob vorsichtig seinen Körper auf.

Heftan, Thorvalds zweiter Sohn sprang vom Pferd.

„Bei allen Göttern, ich habe ihn nicht gesehen, Lasse!"

Jule kam angerannt und nahm Lasse Yorrick ab.

„Yorrick! Mein Kleiner! Sag doch was!"

Der Kleine war blass, seine Augen geschlossen. Blut rann über sein Gesicht und ein Arm war seltsam verdreht.

Lasse stand auf und holte seinen Hengst. Er musste schnell handeln, auch wenn er wusste, dass es hoffnungslos war. Er sprach auch nicht zu Heftan, der sich immer wieder bei Jule entschuldigte und sich neben sie kauerte. Dummkopf. Er sollte den Jungen so schnell wie möglich zu Leif bringen und nicht neben Jule herum lungern!

Er ritt zu Jule und hob sie und den Jungen zu sich auf seinen Hengst. So schnell er konnte, ritt er los.

Jule murmelte die ganze Zeit auf den Jungen ein.

„Alles wird gut, mein Sohn. Dir wird geholfen werden. Bald sind wir da und Leif wird dich gesund machen!"

Lasse war sich nicht so sicher, aber er schwieg.

Es würde zu lange dauern!

Trotzdem trieb er seinen Hengst weiter an.

Die Dunkelheit brach an, als er endlich das Tor von Thorvalds Gut erreichte.

Er rief den Wachen entgegen und das Tor wurde geöffnet, noch bevor er es erreichte.

Lasse drosselte das Tempo nicht, sondern ritt direkt auf Leifs Haus zu.

Die Menschen sprangen laut schimpfend aus dem Weg, doch als sie Lasse und seine Entschlossenheit sahen, hörte das Geschimpfe auf.

„Leif!", brüllte Lasse und die Tür wurde geöffnet.

Leif trat heraus und mit einem Blick erkannte er, was los war.

„Bring ihn rein! Schnell! Ich muss handeln!"

Lasse sprang von Pferd und hob Jule hinunter.

Der Junge rührte sich immer noch nicht. Jule brachte ihn in die Hütte.

Leif wusch sich schon seine Hände.

„Leg ihn auf den Tisch."

Er trocknete die Hände und kam heran.

„Was ist geschehen?"

Jule erzählte es ihm, doch ihre Stimme brach immer wieder.

Leif öffnete Yorricks Augen und leuchtete mit einer Kerze hinein.

„Jule! Setz dich hin! Dir schwinden gleich die Sinne! Lasse, wie lange ist der Junge schon ohne Bewusstsein?"

Lasse rieb sich das Gesicht.

„Ich weiß es nicht. Stunden! Minuten! Es ging alles so schnell!"

Sanft tätschelte Leif das Gesicht des Jungen.

„Wach auf, Junge!"

Lasse nahm Leifs Hand.

„Er kann dich nicht hören. Deswegen sind wir eigentlich hierher geritten."

Leif nickte.

„Ich verstehe. Der Arm ist gebrochen. Den kann ich wieder richten. Die Wunde am Kopf kann ich auch versorgen. Aber mir macht Sorgen, dass er nicht wach ist."

Jule schwieg und das machte Lasse Sorgen.

Andere hätten geweint und geschrien, doch sie starrte Leif nur an.

Deswegen fragte er Leif.

„Was können wir tun?"

Leif zuckte mit den Schultern.

„Beten! Mehr fällt mir auch nicht ein!"



Sie waren nun schon nehrereTage hier, doch Yorrick war immer noch nicht aufgewacht.

Jule saß Tag und Nacht an seinem Lager. Nur ab und zu ließ sie es zu, dass Ileana sie ablöste, um ihre Notdurft zu verrichten oder sich notdürftig zu waschen.

Sie wusste, dass sie auch etwas essen sollte, aber sie bekam kein Bissen herunter aus lauter Sorge um den Jungen.

Auch jetzt saß sie wieder auf dem Boden und hatte die Hand ihres Sohnes an ihrer Wange gelegt. Sie sang leise die Lieder, die sie ihm immer vorgesungen hatte, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Doch sie hoffte, dass er das Vibrieren ihrer Haut spürte.

Lasse kam herein und legte Holz in die Nähe des Kamins. Sie beachtete ihn gar nicht und sah so auch nicht, wie er sein Gesicht verzog.

„Warum tust du das, mh?", fragte er leise.

Sie drehte ihren Kopf zu ihm.

„Was meinst du?"

Lasse schnaubte.

„Er ist ein Junge. Ein tauber kleiner Junge. Du versuchst ihn mit aller Gewalt bei dir zu halten, doch sein Geist ist schon mehr bei seinem Vater als bei dir!"

Langsam stand sie auf.

„Was willst du mir damit sagen?", fragte sie gefährlich leise.

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich habe Leif zugehört im Gegensatz zu dir! Er hat keine Hoffnung, dass der Junge jemals aufwacht. Er kennt bestimmt einige Kräuter, die den Jungen friedlich in die andere Welt gehen lassen!"

Jule schnappte nach Luft.

„Du willst, dass ich ihn umbringe?"

Lasse zuckte erneut mit den Schultern.

„Es wäre besser für alle! Er ist taub. Wer will sich schon mit einem Krüppel abgeben. Er wird nie ein richtiger Mann sein!"

Jule packte ihn an der Tunika und zerrte ihn nach draußen.

„Du bist herzlos, Lasse Gunnarson! So habe ich dich nicht in Erinnerung!"

Er lachte höhnisch.

„Mein altes Ich gibt es nicht mehr und du hast keine Ahnung, wie ich jetzt bin! Allerdings weißt du, wer mich so gemacht hat!"

Sie warf die Hände über den Kopf.

„Das will ich auch gar nicht wissen! Der Lasse, den ich kenne, hätte so etwas nie gesagt! Er hätte dafür gesorgt, dass es dem Jungen gut geht. Und er hätte sich auch nicht von seinem Sohn abgewendet! Und ich habe dich bestimmt nicht so gemacht! Das warst du selbst! Du und dein verdammtes Selbstmitleid!"

Lasse schnaubte.

„Mein Sohn! Mein Sohn kennt mich gar nicht und er denkt, er ist der Sohn von Ragnar!"

Jule schüttelte fassungslos den Kopf.

„Er ist ein kleines Kind, Lasse. Er hat beinahe keine Erinnerungen mehr an Ragnar. Alle meine Söhne sind noch jung und die Erinnerungen verblassen!"

Lasse winkte ab.

„Genau, Jule. Die anderen zwei sind nicht meine Söhne! Warum sollte ich mich mit einem Krüppel abgeben? Warum tust du es? Er ist nicht dein Sohn! Begreif das doch endlich!"

Jule stiegen die Tränen in die Augen.

„Du bist grausam!", flüsterte sie.

Er lachte höhnisch.

„Und du bist unvernünftig! Er wird nie das Leben eines Kriegers führen können! Er wird immer auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen sein! Du hast doch selbst gesehen, was passieren kann! Verdammt, ich hätte ihn liegen lassen sollen! Er geht mich nichts an!"

Irgendetwas zerbrach in Jule.

Sie stürmte auf Lasse zu und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

„Ich hasse dich!", schrie sie und stürmte wieder in die Hütte.

„Du weißt, dass ich Recht habe, Jule Stijnsdottir! Du weißt es!", rief er ihr hinterher.

Jule schloss leise die Tür und setzte sich wieder zu Yorrick. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie sich die Tränen weg.

Was war nur aus Lasse geworden? Seit wann war er so herzlos geworden?

Sie streichelte wieder die Hand von Yorrick und führte sie an ihre Wange. Wieder sang sie leise. Es gab ihr Trost.

Sie wollte es nicht wahrhaben, auch wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass er Recht hatte. Yorrick hörte nichts, aber er war klug. Und das wusste Lasse nicht! Er kannte Yorrick nicht. Er kannte keinen ihrer Söhne!

Jule war sich sicher, dass Yorrick seinen Weg gehen würde.



Lasse rieb sich die schmerzende Wange.

Bei allen Göttern, sie war immer noch so stur wie damals. Es musste ihr doch klar sein, dass der Junge keine Chance hatte. Vielleicht war es sogar der Wille der Götter, dass er sterben sollte, um ihm weiteres Leid zu ersparen.

Er hörte sie wieder leise singen und schnaubte. Das brachte doch gar nichts. Der Junge konnte sie gar nicht hören!

Er drehte sich um und sah sich direkt Leif gegenüberstehen. Ileana war hinter ihm und ihre beiden Gesichter zeigten Lasse, dass sie alles gehört hatten.

„Was hast du getan, Lasse?", knurrte Leif.

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Ich habe die Wahrheit gesprochen, Leif! Ich verstehe es einfach nicht!"

Ileana stürmte nach vorne, wurde aber von Leif zurückgehalten.

„Was verstehst du nicht? Die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn?", rief sie schrill.

„Er ist nicht ihr Sohn!", brüllte Lasse sie an. „Das sollte ihr bewusst werden. Keine anständige Frau würde so etwas für einen fremden Bastard tun! Es ist vergebliche..."

Leif holte aus und rammte ihm eine Faust ins Gesicht.

Lasse fiel zu Boden und starrte den Heiler fassungslos an.

Leif beugte sich über ihn. Sein Gesicht war wutverzerrt.

„Erinnere dich an deine Kindheit, Lasse Gunnarsson! War es nicht Tilda, die dich als ihren Sohn aufgezogen hat? Erinnere dich daran, wie viel Spott und Häme sie dafür einstecken musste. Auch du warst nicht ihr Sohn und trotzdem hat sie dich wie einen behandelt. Sie hätte es nicht tun müssen und wenn sie auch deinen Bruder liebt, hätte sie damals einen besseren Mann haben können. Einen, der ihr keinen kleinen Bruder ans Bein gebunden hätte. Und wie war es, als du krank warst? Wer saß nächtelang an deinem Bett? Wer wurde von Tjark mit dem Tod bedroht, falls du sterben solltest? Das, mein Freund, ist die Liebe einer Mutter, auch wenn sie das Kind nicht geboren hat! Und du kannst froh sein, dass du sie erlebt hast. Und spotte nun nicht über Jule, weil sie genauso empfindet wie damals Tilda!"

Leif stellte sich kerzengerade hin und verzog angeekelt das Gesicht.

„Ich kenne dich, seit du ein kleiner Bengel warst. Tjark und Stijn sind meine Waffenbrüder und ich bezeichne deinen Bruder sogar als Freund. Er war immer sehr stolz auf dich, aber ich bin mir sicher, dass er sich nun deiner Schämen würde!"

Er nickte Ileana zu und beide gingen in die Hütte.

Lasse lag im Dreck und starrte ihnen beide hinterher.

Verdammt!

Leif hatte Recht.

Er war ungerecht dem Jungen und Jule gegenüber. Doch seine Wut hatte ihn zu sehr erfasst. Nun wurde ihm klar, dass er wirklich den Jungs glich. Auch er hatte keine Eltern mehr gehabt und Tilda hatte ihn wirklich als ihren Sohn aufgezogen. Verflixt, er nannte sie manchmal sogar Mutter, weil sie das war!

Warum verurteilte er Jule nun deswegen?

Er war ungerecht und das wurde ihm auf einmal klar.

Doch er würde sich nicht bei ihr entschuldigen. Immer noch dachte er an die Schmach, die sie ihm angetan hatte. Er hatte sie geliebt und sie hatte sich diesem Dänen hingegeben. Nein, das konnte er ihr einfach nicht verzeihen!

Er holte sein Bündel und sattelte seinen Hengst.

Er würde nach Hause reiten, denn er konnte es nicht mehr ertragen, wie sie sich für den Jungen aufopferte und er wollte nicht zu sehen, dass sie auch krank wurde, weil sie sich selbst keine Ruhe gönnte.

Einen Moment hielt er inne.

Was war das für ein Gedanke? So dachten nur Männer über Frauen, die sie...

Er schloss die Augen.

Was machte er sich noch vor?

Er liebte Jule immer noch. Da konnte auch seine ganze Wut nichts daran ändern. Man hatte einfach nur seine Ehre verletzt, aber an den Gefühlen für Jule hatte sich nichts geändert.

Er musste nachdenken.

Schnell saß er auf und ritt davon.

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