☙Kapitel 9 - Lang lebe der König❧

Ionas hatte den restlichen Tag mit anhaltender Nervosität bestritten. Dass Shyra fort war, fiel anfangs gar nicht auf. Er hatte Alysia abgefangen, ehe diese in das Zimmer der Prinzessin eilen konnte und ihr versucht zu erklären, dass seine Schwester zu aufgewühlt war, um an den sozialen Tätigkeiten teilzunehmen, zumindest war es das, was sie ihm gestern noch erklärt hatte.

Die Kammerzofe hatte besorgt genickt, aber dennoch diesen strengen Zug um die Lippen gehabt. Ionas ahnte, dass seine Lüge nicht halten würde können und er wusste, dass er, wenn der Zeitpunkt gekommen war, eine gute Erklärung liefern musste.

Allerdings hatte er nicht gedacht, dass dies so rasch passieren würde. Sein Unterricht bei seinem Privatlehrer über Politik hatte soeben begonnen, als die Türe zu seinem Studierzimmer aufgestoßen wurde und Endris im Türrahmen stand.

„Eure Hoheit!", entkam es Ionas Lehrer erschrocken und er umklammerte seine Bücher zum Schutz vor dem Zorn des Königs.

„Ionas", donnerte Endris und schritt den Lehrer ignorierend in das Studierzimmer. Der Junge machte sich innerlich gefasst, auf das, was jetzt kommen würde. Wenigstens war sein Lehrer so schlau ohne weitere Worte das Zimmer zu verlassen und die Türe hinter sich so leise wie möglich zu schließen.

„Ja, Vater?", antwortete Ionas beinahe augenblicklich und stand so ruhig wie möglich auf.

„Shyra ist fort", herrschte der König und legte all seine verbale Kraft in das letzte Wort.

Ionas starrte seinen Vater an und suchte nach einer passenden Antwort. „Was?"

Endris griff sich an die Stirn und fing an energisch im Zimmer auf und ab zu marschieren, der Kronprinz konnte erkennen, wie seine Gedanken arbeiteten. „Sie ist nicht mehr hier. Alysia ließ mich unterrichten, Shyra ist nicht in ihrem Zimmer, das Bett verwaist und ihr Zimmer völlig durcheinander", erklärte Endris in einem bemüht beherrschten Tonfall.

Ionas schluckte. „Aber sie kann doch nirgends hin. Ihr Zimmer ist am äußeren Rand des Schlosses."

Der König hielt am Fenster inne und starrte in die Tiefe.

„Niemand könnte an den Felsen hochklettern und ihr etwas angetan haben", versuchte er seinen Vater zu beruhigen, doch er wusste, dass es ihm gar nicht darum ging.

„Das Szenario lässt sich aber schlagartig ändern, wenn wir davon ausgehen, dass sie ihr Zimmer freiwillig verlassen hat und direkt in die Fänge ihrer Feinde gelaufen ist!", fuhr Endris ihn an und wandte sich ruckartig um.

Ionas seufzte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dem Brief gefolgt ist", meinte er vorsichtig und mit einem Mal war die ganze Kraft aus seinem Vater gewichen. Sein Vater, der immer erhobenen Hauptes durch die Gänge geschritten war, seine Krone mit Würde und Achtung getragen hatte, sank nun am Fenstersims zusammen und bedeckte sein Gesicht mit einer Hand. „Meine Shyra ... fort. Fort wie Aredhel", hauchte er erschlagen und Ionas fühlte einen schmerzhaften Stich im Herz. Endris wirkte so müde.

„Vater...", fing er vorsichtig an, doch dieser hob nur die andere Hand und Ionas schwieg. Betreten stand er neben dem Häuflein Elend, welches der König dieses Landes war und stützte sich an der Tischkante hinter sich auf.

Es vergingen einige Momente der Stille, ehe Endris schwer seufzte und sich über den Bart strich. „Junge", meinte er und streckte den Arm nach seinem Sohn aus. Der Kronprinz eilte sofort zur Stelle und half dem alten Mann wieder auf die Beine zu kommen.

„Es müssen sich einige Dinge ändern", meinte Endris und strich sich die Haare, die Krone anhebend, glatt.

„Vater?"

Der König blickte in Ionas Notizen und strich sich über den Bart. „Wie geht deine Ausbildung voran?"

Ionas starrte ebenfalls auf seine Notizen hinunter. Er blinzelte träge, denn eine dunkle Vorahnung machte sich in ihm breit. „Viel gibt es nicht mehr zu lernen. Vielleicht ein bis zwei Jahre-"

„Ionas", unterbrach Endris seinen Sohn und dieser kniff die Augen zusammen. „Ich werde abdanken. Ich kann diese Bürde nicht mehr tragen."

„Vater! Dafür ist es zu früh", versuchte Ionas dagegen zu halten, aber Endris hob nur die Hand, um ihm zu gestikulieren, dass er zu schweigen hatte.

„Ich werde dir den Thron überlassen ... mein Sohn, zulange schon drückt mir dieser Goldreif aufs Gemüt, es wird Zeit mich gehen zu lassen." Seine Mimik war so schwer, dass Ionas ganz bang wurde. „Ich habe versagt. Der Westen ist immer noch in Aufruhr, eure Mutter starb, meine Tochter ist ihr gefolgt, jede meiner Entscheidungen haben schlussendlich zu diesem Ergebnis geführt. Es ist an der Zeit, dass ich meinen zerstörerischen Einfluss zurückziehe."

Ionas neigte leicht den Kopf. „Vater, das ist nicht wahr. Viel mehr Faktoren haben in all das hier hineingespielt, keine einfache Entscheidung."

„Und mein verhasstes Bild aus dem Volk nehme, Ionas", seufzte Endris, Ionas völlig ignorierend und schüttelte das Haupt. „Mein Beschluss steht fest. Ich werde es in den nächsten Tagen kund geben. Doch fürs erste, muss ich ruhen. Wir unterhalten uns noch. Fahr mit deinem Unterricht fort."

Mit diesen Worten klopfte Endris dem Kronprinzen auf die Schulter und zog sich zurück. Der Junge stand erstarrt neben seinem Pult und schaffte es nur mit Mühen, den Kopf zu heben. Er hatte sich vor diesem Tag gefürchtet und doch gewusst, dass er früher als später kommen würde.

„Lang lebe der König", flüsterte er in die Stille des sonnendurchfluteten Raumes.

Shyra erwachte, als sie ein kühles Tuch auf ihrer Stirn spürte. Sie blinzelte schwach und wurde sogleich von grellem Sonnenlicht geblendet, ehe sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten und sie über sich das Blätterdach erkennen konnte. Die Sonnenflecken hüpften auf ihrem Gesicht vor und zurück, sodass ihr das Fokussieren nicht leicht fiel. Die Prinzessin nahm tiefe Atemzüge und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Nur mühselig kamen ihre Erinnerungen zurück und sie schluckte schwer. Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an, wie Sandpapier und ihr Schädel pochte auf unangenehme Weise. In der Nähe konnte sie einen Bach plätschern hören und über all dem lag das freundliche Tschilpen von Vögeln, sowie das sanfte Rauschen des Windes im Geäst.

Mit einem leisen Stöhnen versuchte sich Shyra aufzusetzen und stemmte sich hoch, als ihr direkt neben ihr eine Stimme davon abriet. „Langsam."

Das Mädchen hielt inne und drehte ihren Kopf. Samiro saß neben ihr auf der Decke und griff nach dem Tuch, ehe es von ihrer Stirn rutschen konnte.

„Samiro?", fragte sie schwach und blinzelte dem Jungen ins Gesicht.

Seine Mimik war ernst aber neutral, keine Regung schien sich in seinen Augen zu spiegeln, als er ihr die Hand anstatt des Tuchs auf die Stirn legte und sie musterte.

„Was-?", fing sie an, bereute es aber sofort, dass sie versucht hatte zurückzuweichen, denn leichter Schwindel erfasste sie und der Junge beeilte sich, sie mit seinem Arm zu stützen.

„Ich sagte ja, langsam."

Sie blickte stumm auf ihre Knie, als Samiro ihr half sich aufzusetzen und an einen Stamm zu lehnen. Erst dann hörte sie ihn seufzen und wandte ihm den Blick wieder zu.

„Was ist passiert?", fragte sie und die Bilder dieser Nebelgeschöpfe glitten ihr wieder ins Gedächtnis. Der schreckliche Lärm und der Schmerz. Fast automatisch wanderte ihre Hand an ihren Hinterkopf.

„Trink zuerst mal." Samiro reichte ihr einen Becher Wasser, den sie dankbar entgegen nahm und beinahe in einem Zug leerte. Nach einer kurzen Weile, in der Samiro das Mädchen nur betrachtete, darauf bedacht sie wieder auf zu fangen, sollte sie erneut schwächeln, fing er an mit leerem Gesicht zu sprechen: „Wir wurden von mordlüsternden Ratten angegriffen, die mein Geschrei am Nachmittag mitbekommen haben und erpicht darauf gewesen sind, die Prinzessin von Mondrodij zu entführen und im Zuge dessen eine saftige Belohnung zu kassieren."

Shyra musste unweigerlich lächeln und schüttelte dann vorsichtig den Kopf. „Treib keine Späße mit mir."

„Entschuldigt, Eure Hoheit", grinste Samiro süffisant und reichte ihr das kühle Tuch erneut.

Das Mädchen nahm auch dieses dankbar an, verzichtete aber darauf, auf seine Provokation einzugehen.

Der Junge zögerte noch kurz und erst als Shyra ihn immer ungeduldiger zu mustern schien, schnalzte er kurz mit der Zunge und fing an zu erklären.

„Wir wurden von jungen Nachtschatten angegriffen."

„Wie bitte?", fragte die Prinzessin genervt.

Samiro rollte mit den Augen. „Ich sagte ja, es würde länger brauchen dir das alles zu erklären. Deswegen wäre es besser und zeitsparender, wenn ich es ließe."

„Ich will es aber jetzt wissen", herrschte sie und spürte augenblicklich, wie ihr hochschnellender Puls ein erneutes, schmerzhaftes Pochen in ihren Kopf jagte.

„Ich hab aber keine Lust ausschweifende Erklärungen anzusetzen, zumal wir eigentlich schon längst wieder unterwegs sein müssten."

„Fein! Dann sag mir wenigstens, was das für grässliche Stimmen waren und warum du seelenruhig weitergeschlafen hast, während ich beinahe taub geworden bin", schoss sie beleidigt zurück.

Das brachte Samiro dazu, sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu mustern. „Da waren keine Stimmen, Shyra. Nachtschatten heißen unter anderem so, weil sie eben so lautlos sind wie Schatten. In der Nacht."

Das Mädchen starrte ihn fassungslos an. „Warum belügst du mich andauernd?"

„Andauernd?", fragte Samiro entrüstet und stand auf. „Du träumst wohl schlecht. Sei froh, dass du nur eine Nacht weggetreten warst und – hoffentlich – keine Gehirnerschütterung davon getragen hast", setzte er grimmig hinzu und machte sich an ihrem Gepäck zu schaffen.

„Hey!", rief sie erbost auf und versucht aufzustehen, stemmte sich am Stamm hinter sich mühselig auf die Beine und deutete auf Samiro. „Lass gefälligst meinen Tornister in Ruhe!" Als der andere sie allerdings zu ignorieren schien, fluchte sie leise und wollte zu ihm herüber taumeln, als er sich endlich abwandte und mit einem Teil ihres Proviants zurück zu ihr kam.

„Du isst, ich packe."

„Du hättest mir meinen Tornister auch einfach bringen können, ich hätte schon was gefunden", fauchte sie und ließ sich trotzdem erleichtert wieder zu Boden sinken, den Proviant entgegen nehmend.

Samiro aber grinste nur belustigt. „Hättest du nicht. Dein Bruder hat für dich gepackt, keine Chance, dass du da je was gefunden hättest, so organisiert bist du nicht."

Zornesröte schoss ihr in die Wangen und sie verspeiste energisch ihre erste Mahlzeit seit über einem Tag.

Erst als Samiro seine Stute gesattelt hatte fiel Shyra auf, dass von ihrem Pferd weit und breit nichts zu sehen war. „Wo ist denn das andere Pferd abgeblieben?"

Samiro hielt kurz inne ihren Tornister ebenfalls fest zu zurren und wandte sich um. „Ach das? Ist vergangene Nacht durchgegangen und abgehauen. Nicht mehr zurück gekommen. Nimms ihm nicht übel – ich war auch nicht gerade froh, diese Biester zu sehen, geschweige denn zu ... töten."

Shyra schluckte. Er hatte sie alle umgebracht? „Wie soll es jetzt weitergehen ... und sag ja nicht", setzte sie rasch an und hob die Hand, „dass wir ein Pferd-„

„Du läufst. So wie ich. Wir werden den Rest des Weges zu Fuß gehen. Meine Stute wird das ganze Gepäck tragen."

„Du nimmst mich auf den Arm, oder?"

Samiro brach in plötzliches Gelächter aus. „Warte, dachtest du das hier wird einfach? Ich würde dich tatsächlich auf Händen tragen? Das Pferd ist weg, Prinzessin, es wird nicht wieder kommen und wie kommt Bec", er deutete auf die braune Stute die im Nachmittagslicht mit den Hufen scharrte, „dazu uns beide durch den verwucherten Wald zu schleppen? Wenn ich mich nicht irre, hast du zwei gesunde ... naja, mehr oder weniger gesunde Beine, mit denen du laufen kannst." Er hielt kurz inne um ihren fassungslosen Gesichtsausdruck zu studieren. „Und ich hab bloß geschworen dein Leben zu beschützen, nicht deinen Komfort zu fördern." Samiro sah, wie sie mit ihrer Fassung zu ringen hatte und wandte sich mit Genugtuung ab. „Roll die Decke zusammen und lass uns gehen."

Shyra stand auf und versuchte, die Decke, auf der sie gesessen hatte, so gut es ging zusammenzurollen, aber es gelang ihr nicht. Im Endeffekt hatte sie bloß ein großes Bündel in der Hand und reichte es dem Jungen beschämt und wütend. Wie sollte ich denn wissen, wie man es besser macht?

Samiro warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu, der um Längen herablassender gewirkt hätte, wenn er eine Lesebrille getragen hätte, dachte Shyra und band das wirre Bündel ohne Worte an die Satteltaschen.

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