☙Kapitel 8 - Nachtpreis❧
Shyra musste feststellen, dass es heute schon viel besser lief. Ihr Körper schien sich allmählich an die wenigen Reitstunden zu erinnern und sie traute sich schon viel mehr zu als nur Schritt. Als Samiro das bemerkte schlug er automatisch ein schnelleres Tempo an und Shyra, die keinesfalls nachgeben wollte hielt unter allen Umständen mit. Erst als er neckisch in Galopp wechselte platzte ihr beinahe der Kragen. Nicht lange konnte sie mithalten und zerrte keuchend an den Zügeln. Ihr Pferd wurde nur widerspenstig langsamer und warf den Kopf scheuend in die Luft. Von da an beschränkte sie sich auf Trab und versuchte Samiros selbstgefälligen Gesichtsausdruck zu ignorieren.
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Gegen Mittag erreichten sie den Wald, von dem er gesprochen hatte und dem sie nun nach Osten folgen würden. Seit der letzten Weggabelung, vor einigen Stunden, hatten sie keinen Karren oder Händler mehr gesehen und jetzt blieben sie stehen und musterten den Weg, der von den düsteren Stämmen alter Bäume verschluckt wurde. Ihr Pferd schnaubte nervös und scharrten mit den Hufen. Samiro tätschelte den Hals seiner Stute und murmelte etwas so leise, dass Shyra ihn nicht verstehen konnte. Außerdem galt ihre Aufmerksamkeit viel mehr dem Wald vor ihnen. Zwar standen die Bäume nicht so dicht wie in einem Nadelwald, aber wenn man von außen tiefer in den Wald blickte, wirkte er tatsächlich ziemlich bedrohlich. Unsicher fragte Shyra: „Können wir nicht lieber einen anderen Weg nehmen?"
Samiro lachte und wandte sich halb zu ihr um. „Hast du etwa Angst?", fragte er und trieb sein Pferd sachte vorwärts.
Das wollte sich Shyra natürlich nicht gefallen lassen also antwortete sie provokant: „Nein, ich wollte bloß feststellen ob du Angst hast!" Verärgert kniff sie die Lippen zusammen und folgte ihm den schmalen Weg in das düstere Grün.
Nach den ersten hundert Metern stellte sich allerdings heraus, dass der Wald gar nicht so bedrohlich war, wie er gewirkt hatte. Das Sonnenlicht fiel in breiten Flächen durch das spärliche Laubdach und der Wind tauchte immer wieder als warme Brise bis an den Boden hinab.
Allein ihr Pferd schien immer noch sehr nervös zu sein, ab und an scheute es und blähte die Nüstern, ganz im Gegenteil zu Samiros Stute, die gemächlich vor sich hin trottete. Der Junge warf ihrem Pferd immer wieder nachdenkliche Blicke zu und schlug dann vor für eine Strecke abzusitzen, um die Pferde zu entlasten.
Shyra fiel auf, dass sie schon bald einen Teil des Waldes erreichten, der mit einem Schlag viel verwüsteter aussah. Nicht, dass es offensichtlich gewesen wäre, aber dem Mädchen fiel auf, dass die Bäume aussahen, als hätten sie mehr Mühe gehabt zu wachsen und dass das Unterholz spärlich und verkümmert neben dem Weg kauerte. Es erinnerte sie ein wenig an die unregelmäßigen Laubwürfe der vergangenen Jahre. Sie hatte mitbekommen, als sie mit ihrer Mutter Ausflüge in die umliegenden Fürstentümer gemacht hatte, dass vielerorts das Grün begann asaisonal zu verwelken. Aredhel hatte immer großes Interesse an der Flora und Fauna gehabt und in ihrem Kopf blitzte die Erinnerung an einen kurzen Moment aus ihrer Vergangenheit auf. Shyra, das sind keine natürlichen Anzeichen von saisonaler Seneszenz. Das ist ein Artensterben, hatte ihre Mutter ihr damals erklärt, als sie neben ihr im Unterholz, ein wenig abseits der Kutsche, gehockt hatte und mit den Fingern über die trockenen Blätter eines Busches gestrichen war. Kein natürliches, ihre Lebensessenz verkümmert so schnell wie noch nie. Ansonsten war der Moment leer, sie wusste nicht mehr, was sie damals geantwortet hatte und auch jetzt blieb ihr nur das Gefühl im Bauch zurück, dass dieser Wald hier ebenso davon betroffen war.
„Eure königliche Hoheit?", riss sie plötzlich Samiros Stimme aus den Gedanken und sie starrte ihn erschrocken unter ihrer Kapuze hervor an.
„Bist du verrückt?! Sei gefälligst leiser und sprich mich nicht so an!", fauchte sie ihn an.
„Anders scheine ich deine Aufmerksamkeit aber nicht bekommen zu können, Hochwürden", meinte Samiro schulterzuckend.
„So gewinnst du nicht nur meine Aufmerksamkeit, sondern auch die jedes anderen Reisenden in diesen Wäldern! Willst du, dass man uns umbringt?", herrschte sie ihn an und stieß ihm mit dem Finger heftig vor die Brust. „Irgendwas stimmt mit diesem Wald nicht und ich will ehrlich gesagt nicht konfrontiert werden mit was auch immer dafür verantwortlich ist!", zischte sie wütend und hieb noch einige Male, zur Verdeutlichung, mit ihrem Finger auf Samiros Brust.
Für den ersten Moment blickte der Junge erstaunt auf sie hinunter, bevor sich wieder dieses herablassende Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Schneller, als das Mädchen realisieren konnte, hatte er ihr Handgelenk gepackt und ihren Arm schmerzhaft nach hinten weggebogen, sodass sie einknickte und gegen ihn sackte. „Du solltest das nächste Mal besser aufpassen und so gerne ich es auch habe, wenn du mich befummelst, ist es vielleicht nicht der richtige Augenblick." Er stieß sie zurück und richtete sich die Jacke, ehe er den Blick von ihr abwandte und durch den Wald schweifen ließ. „Ich bin mir durchaus bewusst, dass etwas mit diesem Wald nicht stimmt. Ich könnte es dir vermutlich auch erklären, wenn ich dazu nicht vor deiner Geburt ansetzen müsste, um deine Unwissenheit zu kompensieren."
Shyra starrte ihn erschrocken an und rieb sich das Handgelenk. Ihr Herz hüpfte wild auf und ab. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass er nach ihr gegriffen hatte, so schnell war das gegangen.
„Eigentlich hatte ich diesen Teil des Waldes vor Anbruch der Dunkelheit gerne durchquert aber ... man kann nicht alles haben. Dank deinem Bruder muss ich meine Prinzipien umplanen und jeder weiß, dass das im Grunde nicht funktioniert. Dann müssen wir uns eben hier ein Quartier für die Nacht suchen."
Das Mädchen hatte nur die Hälfte von dem, was aus Samiro hervorgesprudelt war mitbekommen aber realisierte sonnenklar, dass sie sich tatsächlich nicht mehr auf der Hauptstraße befanden und daher auch in keine Schenke einkehren konnte.
Jetzt unter gar keinen Umständen alleine sein wollend, beeilte sich Shyra wieder zu Samiro und den Pferden aufzuschließen und sie fing an fast automatisch näher neben dem Jungen herzugehen.
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Als das Blätterdach auch die letzten Sonnenstrahlen geschluckt hatte, hielt Samiro sie an und deutete neben die Straße auf einen Flecken Waldboden, der durch einen vermodernden Baumstamm Blickschutz bot. „Hier werden wir heute schlafen."
Shyra blickte ihn erschrocken an und ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. „Einfach ... so? Unter freiem Himmel?!"
Samiro stemmte die Hände in die Hüften und lachte. „Was dachtest du denn? Dass wir in einem Palast schlafen?" Er schüttelte den Kopf und stieg über den Baumstamm hinweg in das spärliche Dickicht dahinter. Dann streckte er eine Hand aus, um dem Mädchen über das Hindernis zu helfen, aber sie ignorierte ihn. Lieber kletterte sie unbeholfen selbst über dieses widerliche Stück Holz als sich noch einmal von ihm helfen zu lassen.
Samiro wandte sich einfach ab, band Shyras Pferd an einen niedrigen Ast und entlastete die Tiere. Die Prinzessin beobachtete ihn, wie er das vertrocknete Laub zusammenschob und seine Decke aus den Satteltaschen holte. Erst als er sein Schlaflager aufgebaut hatte, das Shyras Meinung nach nicht einmal einer Picknickdecke gerecht wurde, blickte er auf und legte den Kopf schief. „Ach, du willst die erste Nachtwache übernehmen? Find ich schön."
Shyra sah ihn mit großen Augen an, ehe sie ihren Tornister zu Boden schleuderte. „Ich hoffe, ich habe mich verhört!"
„Ganz und gar nicht", meinte der Junge bloß und streckte sich unter dem dämmrigen Licht aus. „Es dürfte nicht schaden, wenn du deine Sinne etwas schärfst, jetzt, da du raus bis aus der Königsfamilie."
„Wie bitte?"
„Das war mein voller Ernst. Du musst dich von jetzt an daran gewöhnen, Prinzessin."
Sie rümpfte die Nase. „Von wegen! Sobald ich mit Juna gesprochen habe, kehre ich um und reise wieder nach Hause."
Samiro prustete und schüttelte den Kopf. „Süß."
„Was? Was hat das zu bedeuten?", fragte sie alarmiert. „Außerdem wo soll ich den Schlafen? Es ist kalt und ich habe kein Bett! Samiro!"
Der Junge richtete sich stöhnend auf. „Also erstens, sei gefälligst leiser, du schreckst ja den gesamten Wald auf. Und zweitens, lass dir was einfallen. Mach ein Feuer oder so. Hör endlich mit diesem Gejammer auf und nimm die Dinge selbst in die Hand."
Damit war für ihn das Gespräch endgültig beendet und Shyra blickte sich nervös um. Im Flüsterton rief sie noch einige Male seinen Namen, aber er reagierte nicht mehr. Verunsichert und mit steigender Panik aufgrund der zunehmenden Dunkelheit setzte sich das Mädchen in ihren Umhang gewickelt neben den umgestürzten Baum.
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Die Nacht war schon bald vollends hereingebrochen und obwohl der fahle Mond ein wenig Licht spendete, reichte es nicht annähernd dazu, sich vernünftig orientieren zu können. Die nächtliche Geräuschkulisse war um Längen unheimlicher, als Shyra den Wald bei Tage empfunden hatte. Sie hatte sich nicht getraut Samiro zu fragen, wann sie ihn wecken sollte und seit sie sich immer tiefer in ihren Umhang gehüllt hatte, um am besten gleich mit dem Waldboden zu verschmelzen, wagte sie auch nicht mehr sich zu bewegen. Die Angst saß ihr im Nacken und sie atmete kurz angebunden, so flach wie möglich. Es war doch schon ihre Mutter in diesen Wäldern ums Leben gekommen, oder? Warum lief sie ihr dann bei der ersten Gelegenheit in ihren sicheren Tod nach? Zuhause hätte sie wenigstens ein weiches, warmes, sicheres Bett gehabt, sie hätte Ionas immer noch bei sich und nichts von dem, was die zwei vergangenen Tage passiert war, hätte passieren müssen.
Hätte ich doch bloß auf Ionas gehört,dachte sie bei sich und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass Samiro kein Feuer gemacht hatte. Es wurde langsam kühl und ihre Glieder von der gekrümmten Sitzposition fingen an steif zu werden. Viel Zeit konnte noch nicht vergangen sein und trotzdem hatte das Mädchen das Gefühl, als wäre sie schon ewig wach. Das einzig positive war, dass es das Adrenalin in ihren Adern so gut wie unmöglich machte einzunicken.
Plötzlich fuhr Samiros Stute hoch und mit ihr Shyra, die heftig zusammenzuckte, als das Tier den Kopf nach oben riss. Das Mädchen meinte noch im selben Augenblick ein merkwürdiges Säuseln zu hören und mit einem Mal wurde ihr innerlich fürchterlich kalt.
Am Rande der Lichtung nahm sie ein sanftes Flattern wahr, wie von samtweichen Flügeln, geräuschlos und dennoch schien sie wie gebannt davon. Die sanften, fast schon trägen Bewegungen der flatterhaften Flügel gehörte zu einem Schmetterling, der mindestens die Größe ihrer Hand hatte und erhellt von Mondlicht einen milchigen Schein zu haben schien. Sie hatte noch nie einen Nachtpreis gesehen, nur von ihnen gehört, dass sie in tiefsten Wäldern zum Vorschein kamen.
Nachtpreise sind schön anzusehen, aber lass sie bloß nicht auf deinem Kopf landen, grinste ihre Mutter und stupste ihr freundlich gegen die Stirn. Wieso denn nicht?, drang ihre eigene Stimme durch die wispernden Worte in ihrem Kopf. Weil sie dir deinen Geist verdrehen, dich verführen und noch tiefer in den Wald locken, wo dich niemand mehr finden kann, scherzte Aredhel mit großen Augen und zwickte das kleine Mädchen kurz darauf spielerisch in die Seite. Shyra quiekte laut auf und fing an zu lachen. Aber keine Sorge, mein Kind, du wirst ihnen noch nicht begegnen, darauf achte ich viel zu sehr. Doch der Blick, den Aredhel dem kleinen Mädchen zugeworfen hatte, war alles andere als beruhigend gewesen. Aredhel hatte Angst gehabt.
Und ihre Mutter war jetzt fort, sie tiefer in einem Wald, als sie es je für möglich gehalten hatte.
Mit einem Mal erschien ihr die kindische Gruselgeschichte realer als zuvor und wie gebannt betrachtete sie die weißen Flügel des Schmetterlings, wie sie immer näher kamen.
Komm.
Sie stieß ihren Atem in einem Zug aus und blickte sich hektisch um. Irgendwas stimmte von einem Wimpernschlag auf den anderen ganz und gar nicht mehr, sie richtete sich ruckartig auf und schluckte heftig. Das Herz schlug ihr bis zum Hals als der Nachtpreis scheinbar desorientiert über ihr und den Pferden taumelte, nahe genug, dass sie die wimpernfeinen Antennen erkennen konnte, wie sie in einer nicht vorhandenen Brise zitterten.
Samiros braune Stute hatte immer noch die Ohren aufgestellt und ihre durchdringend schwarzen Augen ruhten wie die Shyras' auf dem nebulösen Schmetterling.
Komm.
Und dann nahm Shyra eine Bewegung in ihrem Blickwinkel wahr, als sich das Gebüsch keine zwei Meter vor ihr teilte und ein Geschöpf durch das düstere Unterholz zu kriechen schien. Es sah aus wie ein kleines Tier, vielleicht in der Größe eines Hasen, das unter den Farnen durchschlüpfte und für einen Moment seufzte die Prinzessin erleichtert auf.
Zu Shyras Erstaunen schien es keine Geräusche zu machen, wenn es sich bewegte und auch die Bewegungen an sich waren so flüssig wie feiner Rauch. Es kam näher und näher und das Säuseln in Shyras Kopf wurde zunehmend lauter. Komm. Das Mädchen fing an zurückzuweichen, die Faszination schlug rasch in Entsetzen um und als sie erkannte, was da auf sie zukam war es bereits zu spät.
Die milchigen Augenhöhlen der Kreatur zu ihren Knien blickten sie durchdringend an und die Körperumrisse schienen nur flüchtig zu sein, was die Bizarrheit dieser Erscheinung noch verstärkte. Das Fell, wenn es denn eines hätte, formte sich wie feiner Nebel immer wieder neu um das Tier zusammen und machten es schwer die Bewegungen abzuschätzen.
In ihrer Peripherie nahm Shyra nun wahr, dass zwei weitere Nachtpreise aus dem Unterholz auftauchten, dann vier und acht, bis sie dachte, sie müsste halluzinieren.
Sie wollte nach Samiro rufen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das was nun aus dem Gebüsch gekrochen kam war kein Tier, das sie je gesehen hätte, es sah auch nicht aus wie ein Tier und als es versuchte sie mit seinen fingerartigen Pratzen zu greifen, sprang sie mit einem panischen Aufschrei zurück, stieß gegen den umgestürzten Stamm und schlug mit dem Kopf hart gegen das Holz. Ihr Blickfeld verschwamm für einen Augenblick und das Flüstern in ihrem Schädel wurde beinahe betäubend allgegenwärtig. Die Prinzessin schlug sich die Hände an die Ohren und versuchte die Stimmen auszublenden, doch es spielte keine Rolle. Was auch immer es war, es war in ihrem Kopf. Komm! Das Mädchen glaubte, ihr bekannte Silben auszumachen, aber verstand bis auf das eine Wort dennoch nichts.
Sie stieß einen gequälten Laut aus und schlug nach dem Tier, das nun hektisch näher kam, doch es wich ihrer Hand geschickt aus. Mit verzerrtem Gesicht griff das Mädchen nach dem Dolch an ihrem Gürtel und hieb ihn beidhändig in Richtung der Kreatur. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich mit einem Mal mehr und mehr dieser Nebelgeschöpfe neben den aus dem Dickicht lösten und das Säuseln in ihrem Kopf beinahe zu einem tosenden Geschrei anschwoll.
„Samiro!", schrie sie verzweifelt und riss die Arme über den Kopf, als sich die ersten Kreaturen auf sie warfen. Wie konnte er mit all den Lärm um ihn herum überhaupt schlafen?
Shyra konnte kaum mehr etwas wahrnehmen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte diesem Horror zu entkommen, spürte die Griffe der Pratzen auf ihrem Gewand und in ihrem Haar und die leere Kälte um sie herum ließ sie schaudern, bis plötzlich ein stechender Schmerz durch ihren Brustkorb fuhr, der so intensiv und allgegenwärtig war, dass ihr die Luft weg blieb und nur wenig später das Bewusstsein raubte.
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