☙Kapitel 45 - Ins Ungewisse❧
Der Tag hatte nach dem heftigen Gewitter der vergangenen Nacht nicht minder trist angefangen und hüllte die Anwesenden auch jetzt in leichten Nebel und feuchte Kälte.
So viele Leute hatte Shyra noch nie auf den Fluren und vor der Kapelle gesehen. Es mussten rund sechzig Personen sein – die meisten davon in Kampfmontur, die wenigsten in Baumwollkleidung und Trauergewand.
Sicher war sich Shyra nicht gewesen, was sie draußen erwartet hatte, aber alsbald sie durch das Seitentor in der Friedhofsmauer geschlüpft war, fiel ihr die große schwarze Kutsche sofort ins Auge. Obwohl sie aus schlicht bemaltem Holz bestand, strahlte sie eine allgegenwärtige Ehrfurcht aus, die Shyra andächtig näher treten ließ. Um die Kutsche herum standen die anderen Mitglieder, die Shyra durch den Hof begleitet hatten. Und unübersehbar, dort neben dem Verschlag an der Hinterseite der Kutsche stand Juna. Ihre langen schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf festgesteckt. Sie war komplett in schwarz gekleidet und blickte über die überschaubare Menschenmenge. Es war beinahe totenstill, als die Frau das Wort erhob.
„Meine Schwestern und Brüder", fing sie mit tragender aber gleichzeitig gedämpfter Stimme an. „Ihr wisst, weshalb ich euch heute hier versammeln ließ. Gern hätte ich jedem von euch den gebührenden Abschied zugestanden, den ein jeder von euch verdient hat, doch die Zeit drängt und in Aredhels Herzen werdet ihr immer bei ihr sein. Eine Liebe wie diese reicht selbst über die Grenzen des Todes hinaus und vergesst nicht – der Körper ist nur eine Illusion, die stirbt, sobald wir diese Welt verlassen. Er kehrt zum Fundament zurück um in den ewigen Kreislauf der Elemente einzugehen. Und die Seele entweicht dieser Sphäre und kehrt in ihren natürlichen Strom des Äthers zurück. Denn alles ist eins und jeher mit dem Sein verbunden."
Die Anwesenden senkten ihre Köpfe, nur Shyra blickte geradeaus. Dort lag ihre Mutter. Hinter den Türen dieser Kutsche war Aredhel. Kalt und verschieden aber da. Kurz trafen sich die Blicke von Juna und ihr selbst und die Frau verzog das Gesicht mitleidig. Shyra schluckte schwer und senkte ebenfalls den Kopf. Sie hätte nie gedacht, dass Juna eine Frau wäre, die sich zu Tränen rühren lassen würde.
Allmählich begannen sich die Versammelten zu zerstreuen. Einige blieben länger, manche schienen es nicht länger zu ertragen. Auch Shyra blieb stehen. Wenigstens sie musste Aredhel noch einmal sehen.
Unvorhergesehen legte sich ihr eine Hand auf die Schulter und als sie erschrocken hochfuhr, erkannte sie die weiße Hand von Saíra. Die Südländerin wirkte müde und erschöpft, schenkte Shyra aber ein aufmunterndes und mitfühlendes Lächeln. Das andere Mädchen versuchte ebenfalls die Mundwinkel zu heben, aber es wollte ihr nicht wirklich gelingen. „Saíra", begann sie leise, da sie ihrer Stimme nicht mehr zutraute.
„Shyra. Es tut mir so Leid."
Das Mädchen mit den ebenholzfarbenen Haaren schüttelte den Kopf und zog die Nase leicht hoch. „Das muss es nicht. Was geschehen ist, ist geschehen."
Saíra drückte sie noch einmal sanft und legte ihr dann den ganzen Arm um die Schultern.
„War sie ... war sie wenigstens glücklich? Hier?", schniefte das Mädchen dann nach einiger Zeit in der sie energisch die Tränen fortzublinzeln versuchte.
„Oh Shyra ...", flüsterte Saíra und ihre Katzenohren drückten sich flach an den Kopf. „Sie hat dich und deinen Bruder sehr geliebt. Andauernd hat sie von dir geschwärmt, sie hat dich niemals vergessen."
Die Prinzessin presste die Lippen fest zusammen, denn sie wollte nicht schluchzen. Nicht hier vor Juna und dem Andenken ihrer Mutter. Bestimmt hätte sich Aredhel gewünscht, dass sie auch Anbetracht ihres Todes stark und unerschütterlich blieb.
„Ich danke dir", holte sie daher zitternd Luft. „Es geht schon. Wie-", sie wischte sich energisch über Nase und Augen. „Wie geht es Bec? Hast du sie finden können?"
„Mhm", machte das Katzenmädchen und nickte.
„Du hast Rotz und Tränen über all auf deinem Gesicht", unterbrach sie eine gesenkte, leicht belustigte Stimme. „Schickt sich gar nicht für eine Prinzessin."
Shyra fuhr in der halben Umarmung des anderen Mädchens herum und sah Samiro nur wenige Schritte entfernt stehen. Auch er wirkte unausgeschlafen, so wie Saíra.
„Samiro", meinte Shyra leise und holte hicksend und unter einem neuen Schwall Tränen Luft. Dann zog sie sich aus Saíras Umarmung und taumelte ungestüm in die Arme des jungen Mannes. Dieser stolperte einen Schritt zurück ehe er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte und legte zögerlich die Arme um Shyra. Sie umklammerte ihn so fest, dass er kaum Luft bekam.
„Ist ja gut Shyra", presste er daher hervor und tätschelte ihr kurz den Rücken, ehe er sie leicht von sich schob. „Es ist alles gut", wiederholte er jetzt ruhig und blickte ihr mühsam lächelnd in die Augen.
„Du warst nach dem Aufwachen nicht mehr da", flüsterte sie jetzt mit erstickter Stimme und wischte sich erneut über das Gesicht.
„Wo hätte ich denn sein sollen?", fragte Samiro jetzt leicht irritiert und hob die Augenbrauen. Aber Shyra wurde nur rot und schüttelte leicht den Kopf.
„Ich ... n-nichts gar nichts. Ich muss...", sie brach ab und wand sich peinlich berührt aus seinem Griff.
Jetzt kam auch Juna zu den drein hinzu und legte Samiro eine schwere Hand auf die Schulter. „Shyra muss sich auf den Weg machen. Gabriel wartet nicht ewig und unsere Kunden auch nicht."
Das riss die beiden anderen ihrerseits aus der bedrückten und dennoch irgendwie feierlichen Stimmung.
„Shyra muss was?", entfuhr es Samiro und Saíra starrte Juna entgeistert an. Diese nickte nur. „Sie und Gabriel werden einen kurzen Botengang unternehmen – Samiro sieh mich nicht so an, Gabriel ist dabei."
„Und durch mich wurde der Auftrag abgesegnet", ertönte dann Leanders Stimme. Samiro fuhr herum und erkannte den Schwarzhaarigen langsam auf sie zukommen. Er war einer der wenigen, der wie Juna in komplettes Schwarz gewandet waren. „Es ist kein gefährlicher Auftrag und wie Juna bereits erwähnte, ist Gabriel für sie da. Er kümmert sich eben um die Pferde, es wird nicht mehr lange dauern."
Juna nickte nun und versetzte Samiros Schulter noch einen warnenden Druck, ehe sie ihn losließ und sich die behandschuhten Finger gegen die Kälte rieb. „Meine Zeit drängt auch – Shyra."
Das Mädchen wirkte zunehmends verwirrt, blickte nun aber erwartungsvoll zum Zirkeloberhaupt auf. „Wenn du deine Mutter noch sehen möchtest – jetzt ist deine allerletzte Chance."
Shyra nickte und folgte Juna zu den Türen der Kutsche. Die ältere Frau öffnete diese ohne ein Geräusch und zog die Schiene mit dem Sarg darauf vorsichtig ein Stück vor. Der Sarg aus dunklem Ebenholz besaß keinen Deckel, schien aber von einem schimmernden Netz bedeckt zu sein.
„Das sind Siegel", meinte Juna jetzt leise und betrachtete das Gesicht ihrer Freundin liebevoll. „Sie halten die Zeit an, in der die Natur ihren Weg geht, Shyra. Aredhel war wahrhaftig eine Schönheit – ein Geschenk, das man nur ungern gehen lässt."
Unter dem feinen Lichternetz erkannte Shyra nun die anmutigen Gesichtszüge ihrer Mutter. Sie sah aus, als würde sie bloß schlafen. Aber zu ruhig. Das hier war kein Schlaf, der über den Tod hinwegtäuschte, sondern ein Schlaf der genau durch diesen charakterisiert wurde. Aredhel trug das selbe schwarze, eng anliegende Kampfgewand, welches auch Juna in diesem Moment trug und erst, als Shyra ihre Mutter, der sie so ähnlich sah, eingehend musterte, stellte sie fest, dass sie ebenfalls jenes schwarze Kampfgewand besessen hatte. Es war das Geschenk ihrer Mutter gewesen und mit einem Mal trauerte sie dem dunklen Genwand, welches sie bei ihrer Anreise getragen hatte, nach. Wenn sie gewusst hätte, dass Aredhel in eben jenen Kleidern gekämpft und gestorben war, dann hätte sie bestimmt besser darauf acht gegeben.
Um den leblosen Körper waren unzählige Blumen und Gräser geschichtet. Sie umrahmten das schmale Gesicht, verflochten die Haare und liebkosten die schmale Taille der ehemaligen Königin. Es stimmte. So wunderschön hatte Shyra ihre Mutter auch noch nie gesehen, oder vielleicht lag ihre Schönheit nun viel mehr darin, dass sie mit Aredhels letztem Atemzug vergänglich geworden war und dies hier nur die letzte Erinnerung an eine einst strahlende Ikone sein sollte.
Unwillkürlich griff sie nach einem der filigranen Metallringe an ihren Fingern, die meisten waren aus Silber, aber einfach und Shyra hätte zu jedem eine Geschichte erzählen können. Doch einer war ganz besonders. Sie hatte den kleinen Ring vor vielen, vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen, es war der erste in einer Reihe an Andenken, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte und jetzt, da Aredhel tot war, fühlte es sich an wie eine offene Wunde, die Shyra zu schließen versuchen musste.
„Juna, darf ich ihr etwas mitgeben?", fragte sie daher zögerlich und Juna nickte. „Natürlich. Greif ruhig durch die Siegel hindurch. Es schadet dir nicht."
Shyra stieg vorsichtig in die Kutsche und zog sich den Ring vom Finger. Dann griff sie mit pochendem Herzen durch das Siegelnetz und schob Aredhel das Schmuckstück an den Finger. Er war ein wenig zu eng, aber das würde sie nicht weiter stören.
Dann kletterte sie unbeholfen wieder aus der Kutschte und nickte, als schließe sie hiermit ein Kapitel ihres Lebens ab.
Es gab nichts mehr zu sagen, also kehrten die beiden zu den anderen drein zurück.
„In Ordnung. Ich mache mich dann auf den Weg", meinte Juna sachlich und warf Leander einen Blick zu. „Sieh zu, dass uns Samiro hier nicht die Unterkunft zerlegt."
„Keine Sorge, das wird er schon nicht", meinte der Zirkelmeister mit einem kühlen Lächeln, das dem anderen jungen Mann galt. Samiro ignorierte seinen Vorgesetzten allerdings geflissentlich und verschränkte fest die Arme.
„Es tut mir Leid, dass ich so viel Papierkram zurücklasse", fuhr Juna dann noch stirnrunzelnd fort. Bitte Wollemia, dass sie dir zur Hand geht. Ach und es wäre gut, wenn du mit Cycas sprechen könntest, während ich weg bin. Verständige Wollemia ebenfalls, aber sie wird vermutlich ein geringeres Problem damit haben, Shyra in ihre Lehrdienste zu nehmen."
Leander nickte und die Augen aller drei richteten sich neugierig auf das Mädchen. „Äh ja ... ich würde es gerne erlernen", nuschelte sie peinlich berührt und zuckte halb mit den Schultern.
„Gut. Des weiteren liegt alles in meinem Büro, was du brauchst. Ich bin bald wieder zurück." Damit schloss Juna die Unterredung und eilte leichtfüßig zur Kutsche zurück, schwang sich auf den Kutschbock und gab den beiden vorgespannten Pferden einen hastigen Schlag mit den Zügeln. Alle vier blickten dem Zirkeloberhaupt nach, bis das Gefährt vom Nebel verschluckt und das Hufgetrappel verklungen war.
Nicht viel später kam Gabriel um die Ecke und führte zwei Pferde neben sich her. Mit einem Mal wurde Shyra wieder flau im Magen. Ihre erste große Reise unter dem Namen des Aposperitis würde beginnen und sie wunderte sich, ob sie Ionas nicht noch einen Brief hätte schreiben sollen. Aber sie überlegte, dass sie dies bestimmt auch unterwegs machen könnte und Gabriel bestimmt nichts dagegen hätte.
„Ich hatte nicht erwartet eine so zahlreiche Verabschiedung zu erhalten", meinte Gabriel überrascht, als er vor der kleinen Gruppe zum Stehen kam und eine handvoll eingewickeltes Essen an Shyra weiterreichte.
„Tut mir Leid, du wirst wohl unterwegs frühstücken müssen." Das Mädchen schüttelte nur den Kopf und lächelte dankbar ehe sie hungrig in ihr spärliches Frühstück biss.
„Keine Sorge, deinetwegen sind wir gar nicht hier", neckte Saíra und zwinkerte Gabriel zu.
„Oh. Na vielen Dank auch", murmelte er dann, neigte kurz den Kopf in Leanders Richtung und richtete dann seinen Blick auf die Jüngste. „Also, können wir?"
Shyra nickte nervös und wischte sich die Brösel vom Mund. „Ja."
„Also schön", seufzte Samiro leise und wandte sich dem Mädchen zu. „Stell nichts dummes an und sieh zu, dass du am Leben bleibst. Ich hab mich schließlich nicht umsonst den weiten Weg bemüht."
Shyra schnalzte ungehalten mit der Zunge. „Wie auch immer."
Leander unterdrückte ein Husten und wischte sich über den Mund, um ein Grinsen zu vertuschen, ehe er Shyra zuzwinkerte.
Samiros Mine versteinerte und er biss die Kiefer kurz zusammen, ehe er ein Lächeln sehen ließ, das seine Augen alles andere als erreichte. „Wie du weißt standen mir nicht die Informationen zur Verfügung, die ich benötigt hätte, Leander", stieß er kaum beherrscht aus, mied es allerdings dem Zirkelmeister in die Augen zu blicken. Saíra legte ihm rasch eine Hand auf den Unterarm und Samiro entspannte sich ein wenig.
„Machs gut, Shyra", meinte die Südländerin dann und drückte sie kurz an sich.
„Keine Sorge", versicherte ihr Leander nun mit einem ermutigenden Lächeln, das sie erwiderte. „Du bist schneller wieder zurück, als dir lieb ist!"
Das Mädchen schnaubte kurz ein unterdrücktes Lachen, ehe Gabriel sie dazu drängte endlich aufzubrechen. Die beiden bestiegen ihre Pferde – ein Unterfangen, das bei Shyra immer noch mit einigen Komplikationen einherging – und folgten der Kutsche in den Dunst. So beginnt es also. Wenn ich zurück bin, steht mir nichts mehr im Weg, dachte die junge Prinzessin, die keine mehr war und umfasste mit einer noch nie dagewesenen Selbstsicherheit den Anhänger unter ihrer Kampfmontur.
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