☙Kapitel 4 - Entscheidung❧
Als Shyra erwachte, war das erste, das sie wahrnahm, die weiche Matratze ihres eigenen Bettes. Als nächstes das fahle Dämmerlicht, das die wenigen Stunden vor dem tatsächlichen Tagesanbruch ankündigte, die Ecken ihres Zimmer im Dunkeln ließ und noch ein langes Warten auf die ersten Strahlen der Sonne versprach. Dann merkte die junge Prinzessin, dass Ionas neben ihrem Bett in einem der Korbsessel saß und schlief. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich sanft im Takt seiner Atemzüge und Shyra holte tief Luft. Dieses kleine und doch so bedeutende Detail zerrissen ihre anfänglichen Überzeugungen, sie hätte nur schlecht geträumt. Ionas würde hier nicht sitzen, wenn nichts vorgefallen wäre.
Doch was ist passiert? Sie spürte das Brennen in den Augen, als sie an die Decke blinzelte, wusste, dass sie im Dachgarten gelegen und heftig geweint hatte und dann?
Dann brach die Welt über Shyra zusammen, als alles andere zurück in ihr Gedächtnis stürzte. Endris, der Brief, Juna und ihre Mutter. Ihre verstorbene Mutter. Schlief sie immer noch? War der Alptraum immer noch nicht zu Ende? Würde er das jemals tun? Enden? Was, wenn ich ihn in diesem Augenblick bereits lebe? Kalte Erkenntnis rieselte in ihr Bewusstsein.
Aredhel war tot.
Aber zwischen gestorben und ermordet liegt ein riesiger Unterschied. Durch die überwältigende Welle an Emotionen spürte Shyra leichte Irritation, weswegen sie dieser Definitionstrennung bedurfte, doch das Mädchen klammerte sich krampfhaft an dieses belanglose Detail. Ganz gleich was es war, sie wollte diese erdrückende Last der Trauer nicht über sich zusammenschlagen lassen, jegliche Ablenkung war eine willkommene.
Sie setzte sich auf und starrte aus dem Fenster. Und was, wenn es doch nicht wahr war? Vielleicht war es trotz allem nur eine Lüge gewesen, eine Intrige von Banditen oder Räubern, Feinden des Königs und seiner Familie, die Lügen verbreiteten um so Verwirrung und Zwiespalt zu sähen.
Shyra senkte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Endris würde sie niemals gehen lassen. Wollte sie überhaupt diesem Brief folgen und diese Juna treffen? An einen Ort gehen, der ferner gar nicht sein könnte? Das Mädchen wusste beim besten Willen keine Antwort darauf, also versuchte sie es anders herum. Wollte sie nach all dem hier bleiben? An dem Ort, an dem sie beinahe alles an ihre verstorbene – ermordete – Mutter erinnerte? Weiter den Unterricht besuchen, weiter leben wie bisher, sich vermählen, Kinder bekommen und ihre Blutlinie fortsetzen? Wo jedem die Trauer und der Verlust ins Gesicht geschrieben stehen würde und sie konstant daran erinnern täte was sie verloren hatte? Die kalte Klaue der Trauer begann wieder zuzupacken und so schlug Shyra die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
Sie würde gehen, sie würde dieser Juna auf den Grund gehen, dem Verschwinden ihrer Mutter einen Sinn geben und dann zurückkommen. Sich zumindest aus erster Hand ein Bild machen.
Wenn sie ehrlich zu sich war, dann war der Brief nur der letzte entscheidende Schubs in die richtige Richtung gewesen, um ihr einige Entscheidungen zu erleichtern. Vielleicht wünschte sie sich am Ende des Tages unterschwellig neben dem Reichtum und dem Luxus das Abenteuer. Sie hatte schon als kleines Kind atemberaubenden Geschichten gelauscht und gierig alles in sich aufgenommen, was sie über die Welt da draußen gelernt hatte. War es dann absonderlich, dass sie endlich diesen einen Schritt tat und ihre lebhaften Tagträume umsetzte? Und obwohl der vermeintliche Tod ihrer Mutter diese Gedanken überschattete, fühlte sich das Mädchen plötzlich voller Tatendrang. Aber wenn sie ging, dann musste es schnell sein. Heute, jetzt sofort! Jetzt oder nie.
Noch war vermutlich keiner wach und das würde auch noch einige Zeit so bleiben – wenn sie jetzt ging, dann würde sie niemand aufhalten.
Bevor sie sich umentscheiden konnte, öffnete sie so leise wie möglich ihren Kleiderschrank und suchte nach dem Trainingsgewand, das sie für einfache Übungen mit dem Schwert von ihrer Mutter bekommen hatte – auch etwas, wogegen Endris sich quer gestellt hatte, aber Aredhel mit ihrem Dickkopf durchgesetzt hatte. Allerdings fand sich die Prinzessin vor ein banales und erschütterndes Problem gestellt. Seit Shyra denken konnte, war sie immer von ihrer Zofe eingekleidet worden. Sie konnte es selbst nicht, denn das hatte man der Prinzessin nicht beigebracht.
Verunsichert versuchte sie sich hinter dem Paravent in die ihr völlig fremden Kleider zu zwängen, immer wieder zu Ionas blickend, um sicher zu gehen, dass er noch tief und fest schlief. Dem war auch noch so, als Shyra nach einer Weile endlich fertig war und die fremde Tracht an sich selbst im Spiegel begutachtete. Die Farben waren alles andere als passend, sie machten ihre ohnehin schon blasse Haut noch bleicher, der feste Stoff kratzte und die Stiefel waren ungewohnt eng. Von der Hose ganz zu schweigen. Eine derartige Bekleidung schickt sich nicht für eine Prinzessin, dachte sie naserümpfend bei sich, kam aber nicht umhin sich selbst bewundernd im Spiegel zu mustern.
Das leise Knarzen des Korbsessels in der Ecke ließ das Mädchen zusammenfahren. Hektisch blickte sie zu Ionas, doch dieser schien immer noch tief zu schlafen. Sich wieder bewusst werdend, dass sie eigentlich auf einer Mission war, nahm die Prinzessin den nächsten Schritt in Angriff. Proviant und Gepäck. Sie versuchte nur das allernötigste in ihren edlen Tornister zu schlichten, doch selbst das sprengte jeglichen erdenklichen Rahmen. Nur mit Widerwillen räumte sie die dicke, weiche Decke wieder zurück, blieb bei einer einfacheren, ließ die Bürste da, den Schmuck und das Wechselgewand. „Ich werde es bereuen", seufzte sie und warf das Säckchen mit duftendem Badeöl, Seife, Schwamm und Puder zurück in die Schublade. Aber noch immer war zu viel in ihrem Rucksack. Dieses Unterfangen wurde mehr und mehr zu einem unüberwindbaren Hindernis. Sie wandte sich lieber zuerst dem letzten Problem zu.
In der Hofküche traf sie auf Stille und so begann sie hektisch alles einzupacken, was sie tragen konnte, während sie sich nebenher den Bauch vollschlug. Wer wusste, wie viel Gelegenheit sie später noch dafür bekommen würde. Eilig lief sie zurück zu ihrem abgelegenen Zimmer und hätte beinahe alles fallen gelassen. Sie zuckte heftig zusammen, als sie Ionas auffand, wie er neben ihrem halb gepackten Tornister saß und ihr Gepäck nachdenklich herumsortierte.
Sein Blick richtete sich auf sie. „Wo glaubst du, dass du hinwillst?", seine Stimme war tadelnd und dennoch leicht verschlafen.
Shyra presste die Lippen zusammen, fest entschlossen nicht zu antworten. Doch ihre Augen verrieten sie ohnehin, denn Ionas folgte ihrer Blickrichtung und entdeckte den roten Umschlag.
„Nein, Shyra. Du kannst nicht gehen."
„Warum nicht?", fragte sie und wagte immer noch nicht ihm ins Gesicht zu blicken. Sie kannte seine Antwort schon längst.
„Weil du mich nicht verlassen kannst. Nicht jetzt", sagte Ionas sanft.
„Du kommst prima alleine zurecht", setzte sie mit schwachen Widerworten an. „Du hast bloß Furcht vor der Vorstellung, dass mir das gleiche wie Mutter passieren könnte."
„Und wenn es so ist? Wäre das so verkehrt, in Anbetracht der Tatsachen?", setzte ihr Bruder ebenso sanft fort und Shyra merkte, wie ihre Entschlossenheit zu bröckeln begann. „Bleib hier und hilf Vater und mir damit fertig zu werden."
Das war der Fehler, der das Mädchen wieder dazu brachte energisch aufzublicken. „Vater? Ihm ist das alles doch völlig gleich! Du hast ihn ja gehört! Mutter ist für ihn diejenige, die all die Schuld trägt!" Sie blickte ihn herausfordernd an.
Ionas unterdrückte ein Lächeln und stand auf. „Das weißt du doch gar nicht. Du hast Recht, Vater ist in dieser Hinsicht eigen, aber er trägt auch sein Herz nicht auf der Zunge." Hier bedachte er seine Schwester mit einem vielsagenden und entschuldigenden Blick. „Er ist vielleicht genauso in Trauer und Gram versunken wie du es bist. Oder ich. Nur als König hat er auch andere Verpflichtungen, die es ihm gar nicht ermöglichen zusammen zu brechen", fuhr Ionas nun leise fort und wandte den Blick ab. Das würde eines Tages auch seine Realität werden und es gefiel ihm nicht, dass Shyra so kurz vor dem Ende seiner Ausbildung anfing ihm durch die Finger zu gleiten. Aber im Grunde wusste er, wie es enden würde. Er kannte Shyra zu gut. „Du musst lernen, dass viel mehr in den Herzen der Menschen steckt, als sie bereit sind zuzugeben, wenn du über sie urteilen willst", meinte er daher schwermütig. „Wie wolltest du überhaupt gehen? Ohne mir Bescheid zu geben?"
Das Mädchen schluckte und trat an das Bett heran, zögerlich den Proviant niederlegend. „Ich wollte dir einen Brief schreiben."
Ionas konnte ein Lachen nicht ganz verstecken. „Nein, Shyra, ehrlich?"
Sie druckste herum und versuchte verzweifelt den Tornister zu packen. „Ich wäre ja wieder zurückgekommen! Nachdem ich alles in Erfahrung gebracht habe, das in Erfahrung gebracht gehört. Oder vertraust du einfach so einem ... Brief? Derart vernichtenden Worten aus der Feder einer Fremden?"
Ionas sah seine Schwester von der Seite an und runzelte besorgt die Stirn. „Du sagst es. Wer traut schon so radikalen Worten auf einem Fetzen Pergament?"
„Und deswegen muss ich herausfinden, was es wirklich bedeutet."
„Shyra, das ist viel zu gefährlich, du bist die Prinzessin, du kannst nicht einfach verschwinden!"
„Dann mach es mir so einfach wie es nur geht, damit ich bald wieder zurück sein kann", hielt sie energisch dagegen und ihr Gesicht verzog sich zu der wütenden Mimik, die Ionas wehmütig und unfreiwillig zum Lächeln brachte. Sie würde nie von ihrem Vorhaben ablassen. Also schloss er kurz die Augen und atmete tief durch, ehe er sich an die Stirn griff und seufzte. „In Ordnung. Aber ich schicke dich nicht alleine fort."
„Ich gehe auch nicht alleine. In dem Brief stand von einer Begleitperson, die auf mich warten wird."
„Wenn du durch das Schlosstor spazierst?"
Shyra schlug nach ihm und er grinste, wurde dann aber rasch wieder ernst. „Also schön, aber so geht das nicht." Er deutete auf ihren Tornister und sie gab sich in dieser Hinsicht geschlagen. Sie beobachtete, wie Ionas den Inhalt ihres Tornisters neu sortierte und ärgerte sich, warum bei ihm alles seinen Platz fand. Er suchte noch einige Dinge aus ihrem Zimmer zusammen und reichte ihr am Ende zwei Dolche. Sie starrte ihn entsetzt an.
„Geschenke von Mutter?", fragte er erklärend und deutete ihr, sie an ihren Gürtel zu hängen. „Und den an die Innenseite deines Stiefels, siehst du hier ist eine Halterung, ... bist du sicher, dass du überhaupt weißt, was du tust?"
Das Mädchen schlug erneut nach ihm. „Ich kann damit umgehen, danke vielmals!"
Ionas schüttelte den Kopf. „Hoffen wir, dass du sie niemals wirst einsetzen müssen, Schwesterherz."
Dann schritt er zu ihrem Schrank und reichte ihr den langen, dunklen Trauerumhang, den sie bei der Beerdigung ihrer Großmutter getragen hatte. „Den legst du erst ab, wenn du weit aus Nordja fort bist, keiner darf dich erkennen, ist das klar?" Shyra nickte stumm und warf sich den Umhang über, die Kapuze im Gesicht.
„Und ... nimm den hier mit", er reichte ihr einen simplen in Leder gebundenen Kompass. „Trage ihn immer bei dir, denn er sagt dir wo Norden ist. Damit du niemals vergisst, wo deine Heimat ist und welchen Weg du wählen musst."
Shyra schluckte schwer und nickte. „Das heißt dann wohl endgültig Lebwohl, oder?", flüsterte sie und blinzelte gegen die Tränen an.
„Ich werde mitkommen, um deine Begleitung unter die Lupe zu nehmen, aber ich schätze ja. Ich werde dir meinen Purpurdrachen so oft es geht nachschicken, schreib mir, halte mich auf dem Laufenden, ich wache über dich so gut ich es vom Schloss aus kann. Ich hoffe, dass ist keine ungemein fatale Entscheidung. Shyra, es wäre besser, du gehst nicht."
Das Mädchen schulterte den Tornister und machte sich auf den Weg. „Juna ... Aredhel wollte mich zu sich holen, aus Gründen, die keiner bis jetzt versteht. Ich muss es herausfinden", meinte sie entschlossen und nickte, mehr für ihre eigene Überzeugung, als zu Ionas'.
Ihr Bruder gab sich geschlagen und nickte ebenfalls. „Dann los."
Gemeinsam liefen sie durch die Korridore des Schlosses, den Routen ihrer Kindheit folgend, von denen sie sich sicher sein konnten, dass auch das frühe Morgenpersonal diese nicht benutzte und nach einigen Umwegen gelangten sie durch einen Seiteneingang bei den Ställen hinaus aus dem Schloss. Ionas führte sie an der Mauer entlang durch die Hecken dicht am Kliff des Schlossberges entlang vor das Gelände. Sie durften nicht Gefahr laufen von irgendjemandem entdeckt zu werden und Ionas hoffte, dass diese Begleitperson, die ihnen versprochen wurde, so rasch wie möglich auftauchen und bloß kein Aufsehen erregen würde.
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