☙Kapitel 35 - Bedauern❧

Erst, als der Brief mit einem zerzausten Falken auf seine lange Reise geschickt worden war, schien endlich eine Last von Shyras Herzen zu fallen. Die allgemeine Anspannung, die sich die vergangenen Tage in ihr breit gemacht hatte, wich einer weichen Teilnahmslosigkeit, welche sie nun die nächste Woche in den angeordneten Trainingseinheiten vergrub.

Sie hatte von Neva einen vorübergehenden Plan erhalten, an den sie sich halten sollte. Da noch nicht sicher war, ob Cycas sie unterrichten würde, stand dieser Teil noch aus, aber die Zirkelmeister hatten es ohnehin für sinnvoller gehalten Shyra für den Anfang in ein allgemeines Aufbauprogramm zu stecken. Shyra beruhigte sich in jeder freien Minute damit, dass sie ohnehin nichts anderes tun konnte, weder nach Hause zurückkehren, noch mehr in Erfahrung bringen. Ihr waren die Hände gebunden, solange Juna fort war.

Diese war diesmal tatsächlich länger verschwunden und nun bewaffnet mit Stift und Papier schrieb sich das Mädchen eifrig all die Fragen nieder, die ihr während dem anfänglichen, und auf ihren Gesundheitszustand angepassten, Aufbautraining einfielen. Woran Aredhel gearbeitet hatte, was ihre Routinen waren, mit wem sie sich regelmäßig getroffen hatte, ob sie Kontakte nach außen gehabt hatte. Was die Salvatori für einen Zwist mit den Aposperitis hatten und warum Diplomatie zwischen diesen beiden Lagern völlig versagt hatte.

Aber auch die banaleren Dinge setzte sie auf ihre Liste, wie die Frage nach dem Äther, was das für ein merkwürdiges Schimmern gewesen war, das sie auf der Lichtung an den Händen ihrer Angreifer gesehen hatte, ob es stimmte, dass Baldrian eine Wechselwirkung mit dem Äther hatte und woher die Götter kamen. Vor allem, was das Symbol an der Spitze des kleinen Kapellenturms zu bedeuten hatte.

Trotz allem sehnte sie sich in den Dämmerstunden nach Gesellschaft. Sie verbrachte so viel Zeit sie konnte im Krankensaal bei Saíra und Gabriel, welcher allerdings nur wenige Tage später schon wieder aus dem Bett durfte. Shyra freute sich für ihn, aber das bedeutete auch, dass der junge Mann so gut wie von der Bildfläche verschwand. Das Mädchen verstand immer noch nicht so genau, wie diese Aufträge funktionierten, war sich aber durch Saíras Erklärung sicher, dass Gabriel bereits wieder im Zuge derer unterwegs war.

Nuah war immer noch ohne Bewusstsein, und Shyra fühlte sich selbst grauenvoll, als sie den Jungen von Tag zu Tag dahin vegetieren sah.

„Die Mediziner haben ihn so zugerichtet", flüsterte Saíra ihr eines Mittags zu, als die beiden Mädchen an dem Bett der Südländerin aßen.

„Du meinst die Salvatori?", fragte Shyra nach und warf der leblosen Gestalt einen bedauerlichen Blick zu.

Saíra nickte und schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund. „Er hat versucht sie in Schach zu halten, damit ich mit Bec ... es hat nicht funktioniert, sie waren zu schnell. Mediziner sind eklige Leute", meinte sie dann und rümpfte die Nase.

„Ich weiß", stimmte Shyra zu und griff sich erneut an die Rippen. Die Bandagen hatte sie ablegen dürfen, laut Tilias eingehender Untersuchung vor einigen Tagen, als die Frau ihren Brustkorb mit weich leuchtenden Fingern befühlt hatte, war das meiste wieder in Ordnung. „Mich haben sie auch so zugerichtet."

Saíra blickte sie groß an. „Was? Echt?! Du hast nie erzählt, was eigentlich vorgefallen ist."

Shyra hob die Schultern und umklammerte ihre warme Schüssel ein wenig fester.

„Juna meinte ein Mediziner hätte mich angegriffen, ich war so schnell ... außer Gefecht, dass ich gar nicht sagen kann, was passiert ist", wisperte sie dann leise und dachte an Samiro zurück und dass er ihr gesagt hatte, sie solle alles schleunigst wieder vergessen.

„Samiro hat sie aber getötet und dann bin ich erst hier wieder aufgewacht", log sie teilweise, denn über die beunruhigende Wachträume wollte sie jetzt nicht sprechen. Außerdem ging ihr Samiro seit ihrem Zusammentreffen vor dem Krankensaal mürrisch aus dem Weg, sodass Shyra ohnehin nicht an ihn denken wollte.

Saíra hatte bloß gemeint, dass er viel Zeit bei Wollemia verbrachte, wollte aber auch nicht so wirklich mit der Sprache rausrücken weswegen. Es machte sie bloß traurig und wütend, sie verstand seine passive und anschuldigende Haltung ihr gegenüber überhaupt nicht. Es stimmte schon, dass sie die letzten Tage, seit sie den Brief geschrieben hatte, öfters mit Leander gemeinsam aß und sich mit ihm unterhielt, während er ihr immer wieder diesen Baldriantee brachte und sie fragte sich, ob Samiros Abwesenheit tatsächlich an Leanders Anwesenheit lag.

„Den Teil hat er mir verschwiegen gehabt, es tut mir sehr Leid", rissen sie dann Saíras Worte aus den deprimierenden Gedanken. „Ich hätte bei dir sein müssen. Bec hätte bestimmt-", sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe, bis sie ihr Gesicht verzerrte. „Das alles war eine Katastrophe", hauchte sie dann und stellte ihre leere Schüssel auf den Beistelltisch.

Shyra nickte stumm und fügte die Frage um Becs Identität ihrer ewig länger werdenden Liste an Fragen hinzu. Das Pferd war immer noch nicht wieder aufgetaucht und das schien stärker an Saíra zu nagen als alles andere.

„Sieh es positiv", meinte sie daher und zwang sich breit zu lächeln. „Du wirst heute entlassen und kannst sie suchen gehen."

Saíra warf dem anderen Mädchen ihrerseits ein mattes Lächeln zu und nickte. „Wird auch langsam Zeit. Ich beflecke vermutlich die Ehre meiner Familie, weil ich eine Woche lang bettlägrig gewesen bin!"

„Hey", meinte Shyra empört und legte den Kopf schief. „Das war ich auch."

Saíra grinste. „War ja bloß ein Scherz. Aber sag mal, hast du nicht Pflichten?"

Shyra blickte erschrocken auf und nickte. „Du hast Recht, entschuldige, ich sollte nicht zu spät kommen. Barlor will mich heute das erste Mal mit einem Stock kämpfen lassen."

„Schon? Nach einer Woche?", fragte Saíra bestürzt und musterte das Mädchen vor sich auf dem Hocker.

Shyra zuckte mit den Schultern und sammelte ihr Geschirr ein. „Er meint, das war Zeit genug. Ich fühle mich, Dank Tilia, auch schon viel besser. Außerdem so schwach, wie ich wirke, bin ich nicht!", meinte sie trotzig und verabschiedete sich von einer lachenden Saíra.

Obwohl sie erst knapp eine Woche bei Bewusstsein bei den Aposperitis verbracht hatte, hatte sie sich überraschend schnell an ihren neuen Zeitplan gewohnt. Sie musste früher Aufstehen als gewohnt, sich selber kleiden und die Wege finden. Nicht nur einmal war es ihr passiert, dass sie verschlafen hatte und dann ohne Frühstück oder ungewaschen antreten musste. Langsam begann sie sich die Namen der momentan anwesenden Leute zu merken, auch wenn sie Cycas und Wollemia nicht mehr zu Gesicht bekam und Tilias Versprechen, dass sie auf sie zurückkommen würde, schien langsam an Bedeutung zu verlieren, was Shyra schade fand.

Trotz der Nervosität, die sich in ihr breit machte, als sie, nachdem sie die Schüsseln in der Küche abgestellt hatte, auf die Trainingshalle zuging, hieß Shyra ein echtes Gefecht willkommen. Es war eine angenehme Abwechslung von eintönigem Muskel- und Ausdauertraining und das Mädchen konnte es schon gar nicht mehr erwarten ihre Mitschüler, die sich allerdings immer noch etwas von ihr fern zu halten schienen, einzuholen. Weswegen war ihr teilweise klar. Sie musste auf die meisten wie ein Geist wirken. Ein über dreißig Jahre jüngerer Geist meiner Mutter, dachte sie und schluckte heftig gegen das kalte Gefühl der Trauer an, welches sie seit Wochen mit aller Kraft unterdrückte. Sie würde nicht weinen und sicher nicht darüber nachdenken.

Auf dem Weg zu der Trainingshalle wäre Shyra beinahe mit Samiro zusammen gestoßen, als dieser plötzlich nach der nächsten Ecke auftauchte.

Verlegen stolperte sie einige Schritte zurück. Sie war ihm seit dem Gespräch vor dem Krankensaal, als ihre anderen Freunde zurückgekommen waren, nicht mehr allein begegnet. Kurz hatte sie erwartet, er würde sie wieder anschnauzen, doch zu Shyras Erstaunen sah er besser aus, etwas müde, aber nicht mehr ganz so griesgrämig. Obwohl es schien als hätte er einen Bluterguss am rechten Wangenknochen, grinste er breit. „Na, wohin des Weges?"

„Falls es dir entgangen ist – ich trainiere. Zum Trainingsraum", meinte sie dennoch schnippisch. Sie vergaß ihm sein Verhalten nicht, obwohl sie sich freute, ihn besser gelaunt vorzufinden.

„Oh, ja – tut mir Leid, aber du wirkst immer noch so mager und schwach wie ein Huhn."

Shyra funkelte ihn wütend an, konnte den Blick aber nicht lange halten, denn ein unfreiwilliges Schmunzeln schlich sich auf ihr Gesicht. Ja, das war der Samiro, den sie kannte.

„Sag, was ist passiert, dass du plötzlich strahlst wie die Sonne?", fragte sie dann und verschränkte die Arme vor der Brust.

Samiro blickte sie irritiert an und etwas von der glücklichen Laune schien sich wie ins Nichts aufzulösen. „Ich strahle nicht."

Shyra runzelte die Stirn. „Und den Bluterguss hast du woher?"

Jetzt blickte er erschrocken und das Mädchen sah, wie sich seine Kiefermuskulatur anspannte. „Weißt du, ich denke nicht, dass das eins von den Dingen ist, die dich was angehen."

„Oh, fein", meinte Shyra verärgert und schob sich an ihm vorbei den Gang zur Trainingshalle hinunter. Die Freude ihn zu sehen hatte sich aufgelöst wie Samiros gute Laune. Aber der Junge folgte ihr und das Mädchen wandte sich genervt um. „Was?"

„Wie was?"

„Warum folgst du mir?"

Jetzt grinste Samiro wieder sein hinterhältiges, maskierendes Grinsen. „Du und Training? Das lass ich mir unter gar keinen Umständen entgehen!"

Shyra hob beide Augenbrauen leicht an. „Vergiss es."

„Wovor hast du Angst? Ich hab dich schon mal Kämpfen gesehen."

„Das – ist ... du hast mich halb sterben sehen!", herrschte Shyra verärgert. „Außerdem geht es mir nicht so sehr darum, dass du zusiehst, sondern vielmehr darum, dass ... dein Verhalten war die letzten Tage nicht gerade charmant."

Samiro lachte. „Stimmt, ich hab vollkommen vergessen, dass ich allein aus dem Zweck, dir zu dienen, existiere. Hör zu, Prinzessin, auf deinem fantastischen Schloss mag es ja so gewesen sein, dass dir ein jeder zu Füßen gelegen hat und deine Diener sich darum gestritten haben, dir deine Wünsche von den Lippen zu lesen, aber hier laufen die Dinge anders. Ich hab auch ein eigenes Leben."

„Ja, das daraus besteht dich mit Leander zu prügeln, obwohl er dein Vorgesetzter ist."

Wie bitte?! Woher-"

„Ha! Bloß geraten, aber schau an! Ich mag da zwar kein Musterbeispiel sein, aber an anderen seinen Frust auszulassen ist unfein."

„Du hast Recht – du bist die letzte, die man sich da als Vorbild nehmen sollte", meinte Samiro ausweichend mit steinerner Miene. „Weißt du was, ist schon gut. Geh einfach zu deinem Training – du hast es schließlich noch nötig."

Shyra kniff die Lippen zusammen um auf ein gehässiges Kommentar zu verzichten und eilte einfach die Treppen zur Halle hinunter.

Dieses dumme, dumme Mädchen! Aber Shyra hatte Recht. Er fühlte sich besser, aber aus Gründen, die ihn – jetzt, wo er wieder daran erinnert wurde – wütend machten und in ihm den Wunsch entfachten sich wehzutun.

Seit er vor zwei Wochen mit Shyra angekommen war, hatte er seine meiste freie Zeit bei Wollemia verbracht. Er hatte gewusst, was auf ihn zukommen würde, als er damals auf der Lichtung sein fremdes Ich geweckt hatte. Er sich selbst geweckt hatte. Nein du dich geweckt hast. Er schüttelte den Kopf.

Man hatte ihn bestraft. Gewissenhaft und präzise, sodass sich der junge Mann fragte, weshalb sie ihn überhaupt erst zu Cycas geschickt hatten, um seine Wunden zu versorgen. Das stimmte nicht ganz. Sie hatte nicht ihn bestraft, sondern sein fremdes Ich. Aber sie waren eins, es war schwer, so schwer zu trennen. Wollemia hätte all diese Dinge nicht freiwillig getan, seine Venen brannten immer noch und ein Schauer lief ihm über den Rücken und kroch seine Kopfhaut entlang, als er an die diesigen Tage kurz nach seiner Rückkehr dachte.

Dann war Juna bei ihm gewesen und hatte ihn besorgt nach den Gegebenheiten und den Ausmaßen gefragt, er hatte geantwortet, mit brennender Niederlage und Scham jedes Detail offenbart. Er sprach wieder häufiger mit ihm, fast fanatisch, aber seine abartige Tendenz Shyra zu bedrohen, sie immer wieder in sein Bewusstsein zu ziehen, verschwieg er. Die Beweggründe des Dämons blieben ihm auch weiterhin verborgen, lauerten wie dunkle Schatten in den hintersten Winkeln seiner Gedanken und Samiro fragte sich aufs neue, wie so oft schon in den letzten Jahren, warum er Aredhel damals zugestimmt hatte.

Er war zurück in sein Zimmer gelaufen und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. Nicht sicher, ob die Stille das beste für ihn war, ließ er sich auf sein Bett nieder und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und dann durch die Haare, befühlte die feinen, schwarzen Narben auf seiner Kopfhaut und ließ seine Hände dann sinken. Vielleicht weil Aredhel mich gebeten hat und ich ihr alles verdanke, das ich bin, dachte er bei sich und sein Blick fiel auf den leeren Nachttisch. Auf die geschlossene Schublade. Güte. Wissen. Verstand. Die Mohnblumen der frühen Sommertage, rot wie Blut-, er stockte und schnitt sich selbst den Gedankenstrang ab. Niemals.

Niemals durfte er daran denken, nicht hier, nicht mit diesem Dämon, nicht wenn dessen Grinsen direkt hinter seinem Eigenen Gesicht lag.

Nicht, solange sie keine Lösung für den Missglückten Versuch gefunden hatten. Doch jetzt ist Aredhel tot. Und es ist deine Schuld. Leander hatte ihn damals gewarnt, aber er hatte nicht gehört, zu geblendet von der Vision seines Idols. Und dann war alles aus gewesen. Rot wie Blut.

Sie hatten alles versucht, abwarten, nach Hilfe suchen, Korrespondenz mit den Erén-Fatah im Süden, bis sie sich schließlich auf Wollemias Variante geeinigt hatten.

Außer Wollemia selbst. Sie war dagegen gewesen, aber gegen Juna und auch Aredhel konnte sie nichts sagen. Natürlich führten sie weiterhin Korrespondenz mit den Südländern, doch all das so geheim wie möglich zu halten war schwierig, beinahe unmöglich, denn dadurch, dass damals etwas schief gegangen war, ein kleines Detail, welches Samiro bis jetzt keinem anvertraut hatte, hatten sie viel zu viel Äther gebunden, eine unkontrollierbare Menge, die über die Jahre genau das geworden war: unkontrollierbar.

Und er versagte, versagte auf ganzer Strecke und jetzt mussten alle die Konsequenzen tragen. Selbst Shyra, fluchte er und verkrampfte seine Hände in seinen Haaren.

Er hatte sich ehrlich gefreut, als sie endlich aufgewacht war, dass es ihr halbwegs gut zu gehen schien, auch wenn sie selbst nach dem Aufwachen, wie eine Leiche ausgesehen hatte. Doch dieses Aufwachen hatte ihm nach den diffusen Tagen seiner Strafe wieder vor Augen geführt, dass er ebenfalls Kameraden hatte, die seine Hilfe brauchten. Deswegen war er verschwunden, doch kaum war er zurück, erfuhr er, dass Shyra keine Sekunde gewartet hatte, um sich Leander um den Hals zu werfen. Er wusste, dass er ungerecht war, es war nicht ihre Schuld, sondern Leanders.

Er hasste ihn so sehr, dass er sich mit jeder Faser seines Körpers wünschte, er hätte damals auf ihn gehört. Dann wäre nichts von alle dem passiert und alles noch unbefleckt. Rot wie Blut.

Samiro stand auf, sein Brustkorb hob uns senkte sich hektisch und die unbändige Wut in seinem Inneren brannte in seinen Muskeln, die ihn dazu drängten dem ganzen ein Ende zu bereiten. Ihm ein Ende zu bereiten. Mit seiner gesamten aufzubringenden Kraft trat Samiro gegen den Nachttisch und atmete so tief durch wie er konnte. Saíra und Bec, beruhige dich. Güte, Wissen, Verstand.

Er verdrängt die Auseinandersetzung, wie Shyra es genannt hatte, mit seinem Vorgesetzten aus seinem Bewusstsein und machte sich auf den Weg, um seine Kameraden zu besuchen.

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