☙Kapitel 32 - Aufzeichnung eines Verbrechens❧
Er hatte sich davor nie wirklich darauf konzentriert, sie war eine Fremde, niemand, der ihm nahe stand also hatte er ihr auch kaum Beachtung geschenkt. Was dumm war, dachte er ärgerlich bei sich. Immerhin war sie es gewesen, die den Brief verschickt hatte. Folglich musste sie einen sehr hohen Rang und eine außerordentliche Autorität besitzen – dass er nicht früher darauf gekommen war ließ ihn selbstverfluchend die Augen zusammenkneifen.
Er legte den Zettel behutsam neben sich auf den Boden und fing wieder an zu lesen. Es stand nicht viel unter diesem Namen, aber mehr, als er sich erhofft hatte.
Juna, registriert 453
geboren: 447
Anmerkung: stellvertretende Zirkelrätin seit 490 unter Aredhel
Ausbildung: vorwiegend taktischer Kampf (Rekruteneinheit 27 unter Nemes)
Auszeichnungen: ...
Es folgte eine lange Liste an Errungenschaften und besonderen Dienstleistungen, Medaillen und Titel, die dieser Juna im Laufe ihres Daseins verliehen worden waren. Ionas überflog sie nur und sein Auge fiel auf einen langsam verblassenden Stempel neben der Unterschrift, die er nun deutlich als Junas erkannte. Der Stempel war einmal von einem leuchtenden Rot gewesen und sagte: geprüft.
Vielleicht hätte es ihn beruhigt, das zu sehen, wenn nicht gleich daneben ein dunkelgrünes Rufzeichen aufgeleuchtet hätte. Er fuhr mit dem Zeigefinger darüber und kratzte leicht an der Farbe. Das Rufzeichen war um viele Jahre frischer als der Stempel. Stirnrunzelnd versuchte sich der junge König einen Reim darauf zu machen. Bedeutete das Rufzeichen, dass Juna vertrauenswürdig war, oder dass man die Sache lieber noch einmal untersuchen sollte? Er überlegte nicht lange und riss die Seite heraus. Dann blätterte er hektisch weiter, denn der Name seiner Mutter war ihm nicht entgangen. Mit einem Kribbeln im Magen durchsuchte er den restlichen Ordner. Vielleicht würde er hier Dinge über Aredhel erfahren, die nicht einmal Endris kannte!
Die Liste war nicht nach Alphabet geordnet, sondern nach Jahreszahlen von denen er annahm, dass sie das Beitrittsdatum des jeweiligen Mitglieds markierten. Er wusste nicht genau, wann Aredhel mit dem Zirkel angefangen hatte zu verkehren, aber er musste doch Anhaltspunkte finden.
Er versuchte sich zurückzuerinnern und runzelte angestrengt die Stirn, während er sich über die Brauen strich. Aredhel war immer schon sehr beschäftigt gewesen und hatte sich mehr für das mythische als das politische interessiert. Erfahren hatten sie von ihren dunklen Machenschaften, als er sieben gewesen war. Was war damals wirklich passiert? Warum hatte Aredhel plötzlich zu dieser Zeit angefangen unaufmerksam zu werden? Damals war Shyra fünf, überlegte er. Oh. Natürlich, schoss es ihm durch den Kopf. Dieser Tag.
Es war ein sonniger Tag gewesen und Aredhel und Shyra waren hinunter zum Strand gefahren. Er hatte an diesem Tag auch mit gewollt, aber Endris hatte es ihm verboten. Er hatte Unterricht gehabt und musste anstatt mit Shyra und seiner Mutter an den Strand zu fahren, den Tag in der muffigen Bibliothek verbringen. Als die Königin und ihre Tochter von dem Ausflug zurückkamen, herrschte helle Aufruhr. Die Wachen und Kammerzofen flüsterten von einem Angriff, gar einem Überfall und Endris war außer sich vor Wut gewesen. Er musste mindestens die halbe Eskorte seiner Königin entlassen haben. Shyra war an diesem Tag ohne Bewusstsein zurückgekehrt und war auch die gesamte darauffolgende Woche wie ihres Lebens beraubt im Bett gelegen. Keiner der Hofärzte hatte sagen können, was ihr fehlte. Einige hatten auf Lebensmittelvergiftung getippt, andere auf Seekrankheit. Vollkommener Schwachsinn. Shyra hat das Meer immer geliebt. Und seekrank kann man bloß werden, wenn man sich auf der See befindet. Nein, Ionas hatte damals gewusst, dass etwas anderes passiert sein musste und Aredhel ebenso. Sie hatte die Ärzte allesamt fortgeschickt und sich eigenhändig Hilfe geholt.
Ionas hätte das alles niemals erfahren dürfen, das hatte er selbst als Siebenjähriger gewusst. Und er war sich nicht sicher, ob Endris es überhaupt wusste, er selbst hatte es ihm nie gesagt und nach allem, was er bis jetzt herausgefunden hatte, war sich Ionas sicher, dass Aredhel die letzte gewesen wäre, die ihrem Gatten davon berichtet hätte.
Ionas war damals mitten in der Nacht aufgewacht, unruhig und ängstlich, an die restlichen Gegebenheiten dieses Zeitpunktes erinnerte sich der junge König kaum mehr. An das, was er in Shyras Zimmer erlebt hatte, aber umso besser. Seine Schritte hatten ihn zu ihrem Zimmer getragen, aus Sorge oder Beschützerinstinkt konnte er nicht sagen, er war sieben gewesen, sein Handeln hatte keinem höheren Zweck gedient, aber es hatte ihm eine Seite an seiner Mutter gezeigt, die ihm einen fürchterlichen Schrecken eingejagt hatte.
Als er an der Tür ankam, unter deren Spalt schummriges Licht hervor geleuchtet hatte, war er auf Stimmen aufmerksam geworden, diskutierende, fremdländische Stimmen, beziehungsweise die Stimme seiner Mutter, die in fremdländischen Lauten gesprochen hatte.
Doch was er gesehen hatte, nachdem er erwartungsvoll die Türe geöffnet hatte, war fremder und verstörender gewesen als alles was er sich je hätte denken können. Seine Mutter war neben dem Bett gesessen aber auf der anderen Seite seiner kleinen Schwester hatte sich eine unbekannte Gestalt über das leblose Gesicht des Mädchens gebeugt.
Groß und dunkel hatte sie sich erschrocken zu dem Königssohn umgedreht, bronzefarbige Ohren hatten leicht im flackernden Kerzenlicht gewippt. Katzenohren. Ionas hatte schreien wollen, doch seine Mutter hatte ihn auf den Arm genommen und wieder herausgetragen. An den Rest erinnerte sich Ionas nicht mehr, aber an den Streit, der in den folgenden Tagen zwischen Aredhel und Endris stattgefunden hatte, sehr wohl. Er hatte das seltsame Gefühl, dass es seine Schuld gewesen war, hatte er doch mitangesehen, wie ein südländischer Verbrecher wer wusste was mit seiner Schwester angestellt hatte, mit glühenden Augen, gehüllt in dunkle Kleidung, bewaffnet mit Messern und Krallen.
Jetzt war sich Ionas bewusst, dass seine kindliche Fantasie wohl mit ihm durchgegangen war, denn die Fíer-Sen besaßen weder leuchtende Augen noch animalische Krallen, der Schauer, der ihm selbst jetzt über den Rücken kroch, wurde aber auch ganz ohne diesen Eindrücken real.
Wie lange war Aredhel zu diesem Zeitpunkt schon Mitglied? Wie lange trieb sie sich schon in den Hintergassen ihrer Heimat, ihrer Welt, herum? Und auch wenn der Rat jenes Verbrechers seine Schwester von dem geheilt hatte, was ihr widerfahren war, regte sich Unruhe und Misstrauen in Ionas. Gefallen solcher Art kamen immer mit einem Preis und eine dunkle Vorahnung machte sich in ihm breit. Was, wenn dieser Preis Shyra gewesen ist? Was wenn der Preis für ihr Leben gar ihr Leben selbst gewesen ist! Ein Leben in dieser Sippe von Fanatikern! Ionas knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zusammen. Es war nie Shyras Absicht gewesen sich diesen Gläubigen anzuschließen. Nein, es war allein Aredhels Selbstsucht und ihr schrecklicher Egoismus!
Energischer als zuvor blättert er durch die Seiten und suchte nach einem Datum zwischen den Jahren 480 und 500. Als die Sache mit Shyra am Strand passiert war, musste Aredhel bereits Mitglied dieses Zirkels gewesen sein. Allein das erklärte, warum sie Verbindungen zu den südländischen Kulten gehabt hatte. Und tatsächlich. Schon bald fiel sein Blick auf den fein säuberlich geschriebenen Namen seiner Ziehmutter.
Aredhel Thiamata Verenden, registriert 481
geboren: 456
Ionas schluckte, las dann aber verbissen weiter. Egal was jetzt kam, es würde ihn nicht mehr überraschen oder schockieren.
Anmerkung: Königin von Mondrodij, Mutter eines Sohnes (Ionas) und einer Tochter (Shyra), Zirkelrätin seit 489
Ausbildung: Faust- und Nahkampfwaffen (Rekruteneinheit 39 unter Nemes), Runenlehre, Siegelmagie (Lehrgruppe 12 unter Wollemia)
Auszeichnungen: schnellster Aufstieg seit Acamar (274), sechsmalige Auszeichnung für Führerqualität, Medaille für ehrenhaftes Handeln im Kampf, ...
Ionas verschwamm beinahe das Bild vor den Augen. Die Liste ging fast bis ans Ende der Seite, vermerkte Ereignisse und Auszeichnungen für Dinge, die er noch nie zuvor gehört hatte, aber es floss einfach durch ihn hindurch. Aredhel hatte sich mit Runen und Siegeln beschäftigt. Ionas blinzelte und schüttelte leicht den Kopf. Ihm war klar gewesen, dass man solchen Hokuspokus vermutlich in diesem Zirkel betreiben würde, die Fíer-Sen sowieso, aber Aredhel? Sie war doch Königin des Hohen Volks gewesen! Mit rasendem Herz las er weiter.
Zusatzvermerkung: nimmt Samiro unter ihre Fittiche (489), Forschungen auf dem Gebiet der Runen-, Siegel- und Äthermagie, erster Versuch Äther zu binden (siehe Ordner 187, Seite 394 ff.)
Vieles passierte gleichzeitig in Ionas Kopf. Zuerst blitze Erkennen durch sein Gedächtnis, als er den Namen Samiro las. Dann machte sich Verwirrung breit, als er Äthermagie in seinem Kopf wiederholte. Und dann flitzen seine Augen zurück zu dem Namen. Samiro. Sein Herz setzte für einen Moment aus, als er den zusammenhänglichen Vermerk erneut studierte. Nimmt Samiro unter ihre Fittiche. Nimmt Samiro unter ihre Fittiche?! Es war schwer zu beschreiben wie Ionas sich in diesem Augenblick fühlte.
Wütend, ja. Verraten, oh ja! Verwirrt, auf jeden Fall und enttäuscht gleichermaßen. Er brauchte einige Minuten um das zu verkraften. Samiro, den Jungen, den er in den letzten Wochen am liebsten eigenhändig erdolcht hätte, war wie er ein Ziehsohn seiner Mutter? Der Königin höchstpersönlich? Wie ich! Er ist wie ich ein Waise, dem die Güte Aredhels zuteil wurde. Die Worte fühlten sich seltsam hohl in seinem Kopf an. Als wären sie nicht wahr, als wäre es ein übler Scherz. Es gab nichts, was sie beide verband. Er hasste Samiro und das würde sich niemals ändern. Trotzdem spürte er ein dumpfes Stechen in der Magengegend. War das Mitgefühl? Nein, Hass, Ionas. Das ist purer Hass. Er hat dir nicht nur Shyra gestohlen sondern auch deine Mutter. Lieber war sie bei diesem Bastard als bei mir und Shyra. Zornig schlug er das Datum nach, das neben Samiros Namen geklammert stand und fand unter anderen den Namen des Jungen.
Samiro, registriert 489
geboren: 484
Anmerkung: Vollwaise seit 489 (Niederschlag der Rebellion gegen König Endris, 489)
Ausbildung: doppelte Schwertführung, Nahkampf (Rekruteneinheit 4 unter Neva)
Auszeichnungen: Ehrenmedaille für hervorragende Tapferkeit und Kameradschaft im Einsatz, Vervollständigung des Lehrmeisterschaftsgrad unter einem Jahr (abgelehnt)
Zusatzvermerkung: Ziehsohn Aredhels, Testobjekt in Aredhels Ätherforschungen (siehe Ordner 187, Seite 394 ff.)
Noch mehr Verwirrung. Ionas verzog irritiert das Gesicht und rieb sich heftig die Augen. Das flackernde Kerzenlicht half nicht im Geringsten, sich zu konzentrieren. Aredhel hatte ihren eigenen Ziehsohn als Testobjekt verwendet? Aber wofür? Konnte Aredhel überhaupt soetwas zustande bringen? Vielleicht, sinnierte Ionas. Ich habe sie so gut wie nicht gekannt, gehe ich davon aus, dass alles, was hier drin steht auch der Wahrheit entspricht. Er las sich den kurzen Absatz unter Samiros Namen noch einmal durch.
Da stand kein Nach- oder Zweitname. Und er war Waise. Im Grunde so wie er selbst auch. Seine Eltern waren im Laufe der Rebellion von 481 bis 489 ums Leben gekommen. Ionas wusste das aus dem Geschichtsunterricht. Man hatte die Krönung seines Vaters anfangs nicht gut geheißen. Zumindest ein Teil der Bevölkerung, vor allem die Südländer und das Fahrende Volk. Sie erfreuten sich unter Endris nur noch wenig Schutz und Endris war gegen die Aufständler hart vorgegangen. Die Rebellion im Keim ersticken, ehe sie Fuß fassen und zu einem ernstzunehmenden politischen Problem werden konnte. Ionas musste zugeben – leichtes Mitleid erfasste ihn, als er an den blonden Jungen dachte. Nur kurz, denn dann erinnerte er sich selbst, dass Samiro eigentlich kein Junge mehr war, sondern ein neunzehnjähriger Mann, der Shyra entführt hatte, durch Runen und Siegel vermutlich vollkommen verstümmelt und geistig unzurechnungsfähig geworden war und wer wusste was mit seiner Shyra trieb.
Und dann war da noch sein Purpurdrache. Ionas Atem beschleunigte sich, als er an das angsteinflößende Bild zurück dachte, die hohlen Augen, das grässliche Maul zu einem gehässigen Grinsen verzogen.
Samiro war kein Mensch mehr. Er war ein durch Äther völlig der Realität entrissenes Monster. Und Aredhel hatte das getan? Ionas fühlte, wie sein Magen ins Bodenlose abzusacken drohte, wie seine eigene Welt bedrohlich ins Schwanken geriet, als ihm die Ausmaße dessen bewusst wurden, was nicht nur eine Einzelperson, sondern eine Ordner um Ordner gefüllte Ansammlung an Namen trieb. Er riss die Seite mit schwachen Fingern heraus, als ihn ein übelkeitserrgendes Gefühl zum Zittern brachte. Er blickte nach oben zum Schreibtisch und zog sich, der aufgeschlagenen Order achtlos von seinem Schoß rutschend, an der Tischkante auf die Beine. Vor ihm fiel sein Blick auf die Buchbände, die er ganz zu Beginn entdeckt, aber Aufgrund seines Unwissens, ignoriert hatte. Mediziner der Neuzeit und Anatomische Ätherlehre.
„Samiro ist kein Mensch", wisperte Ionas zu sich selbst und der Terror, der ihm nach dieser Erkenntnis durch die Glieder fuhr, trieb ihm die Tränen in die Augen.
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