☙Kapitel 31 - Unheilvolles aus dem Archiv❧
Es dauerte nicht lange und Barlor kam wieder zurück. Er klopfte ihr auf die Schulter und fing gleich wieder an zu sprechen.
„Mir kam zu Ohren, dass du bereits Übung im Umgang mit Waffen hast." Shyra wollte gerade antworten, als er schon wieder fortfuhr. „Ich beginne gleich eine Trainingseinheit für unsere Soldaten in Ausbildung – du könntest mitkommen und dich ein bisschen umsehen, mir erzählen, was du schon kannst. Damit ich weiß, mit was wir arbeiten können."
Shyra wollte protestieren, ihm ebenfalls erklären, dass sie doch gar keine Zeit für solcherlei Dinge hatte, aber der Ältere war schon den halben gang hinunter marschiert, sodass sie laufen musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Fein, solange Juna beschäftigt ist und sich keine Zeit für mein Anliegen nehmen kann, kann ich genauso gut etwas lernen, dachte sie erbost bei sich und kam aber nicht umhin den wiederkehrenden Knoten aus Unruhe in ihrem Bauch zu spüren.
Als Barlor in einen verdeckten Gang hinter dem Krankensaal einbog und dort auf eine gähnendes Loch in der Mauer zusteuerte, verlangsamte die Prinzessin ein wenig, denn zu Shyras Schreck führten die Stiegen dahinter in die Tiefe. Unsicher folgte sie Barlor dennoch weiter und stieg mit ihm die breiten Steinstufen hinunter. Doch Shyras Schreck legte sich rasch, als helles Sonnenlicht die letzten Stufen erhellte und sie hinaus in eine große Halle traten. Weit über ihren Köpfen meinte das Mädchen statt einer steinernen Decke ein riesiges Eisengitter zu erkennen, durch welches das Sonnenlicht fiel. Pflanzen und Moos bedeckten die Stangen und warfen laubähnlichen Schatten auf den Boden, der wie Shyra jetzt erkannte, zwar aus Stein bestand, aber flächenweise dem Waldboden erstaunlich ähnlich sah.
„Beeindruckend, nicht?", fragte Barlor stolz und beobachtete nun selbst die Trainingshalle. „Die Natur lässt sich niemals aussperren und so auch in einem Kampf nicht. Wir lassen die Halle wie sie ist, denn so gewöhnen sich unsere Soldaten bereits in der Ausbildung an ihre Umgebung."
Shyra nickte mit staunendem Blick. So etwas hatte sie bestimmt nicht erwartet, als sie an eine Trainingshalle gedacht hatte. An eine weiten, gesäuberten Fechtsaal vielleicht, so wie sie einen auf dem Schloss hatten, aber ganz sicher keinen verwilderten Flecken Natur.
„Also gut!", rief der Mann neben ihr nun laut und die wenigen Leute in der Halle beendeten ihre Gespräche und kamen folgsam näher. Jetzt erkannte Shyra auch, dass sie alle das gleiche Wams, Hosen und Jacken trugen, wie sie diese schon häufiger auf dem Gelände – und an Samiro – gesehen hatte.
Barlor klatschte in die Hände, als die Gruppe, bestehend aus fünfzehn Kindern und Jugendlichen vor ihnen zum Stehen kam.
„Das hier ist Shyra", er klopfte ihr mit der schweren Hand auf die Schulter und schob sie ein wenig nach vorne, was dem Mädchen leichtes Unwohlsein bescherte. War sie eine Art Absonderlichkeit, die es galt vorzuführen? Aber die Jungen und Mädchen blickten sie neugierig an und Shyra erkannte sogar die drei Kinder von heute morgen wieder.
„Sie ist die Tochter Aredhels, ich denke, mehr muss ich dazu nicht sagen." Leises Raunen ging durch die kurzen Reihen. „Sie wird in der nächsten Zeit an unserer Trainingseinheit teilnehmen und ich werde mich für den Anfang um ihre Grundausbildung kümmern, deshalb", er hob die Stimme und deutete nun auf die linke Wand der Halle, wo sich lange Gestelle mit Holzwaffen befanden, „wärmt euch alle einmal auf. Einer gegen einen, wenn ihr wollt, geht auch in Gruppen zusammen. Na los!"
Die kleine Menge zerstreute sich jetzt wieder tratschend und folgte Barlors Befehlen ohne Widerworte.
„Arbeitest du immer mit so vielen Schülern?", fragte Shyra dann, als Barlor sie in die entgegengesetzte Richtung zu einer schmalen Tür hin führte. Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. So viele, wie du vielleicht gedacht hast, sind wir nicht. Ich habe nur vorrübergehend Nevas Einheit übernommen, weil sie wichtiges mit Juna zu besprechen hat. Du musst wissen, dass es gerade mal fünf Lehrkräfte gibt."
„Nur so wenige?", entfuhr es Shyra überrascht, aber wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie sich nie groß Gedanken darüber gemacht.
„Ja. Neva und ich kümmern uns um die Krieger – wobei jeder von uns andere Stärken unterrichtet, Cycas ist unser leitender Mediziner, Wollemia ist unsere einzige Siegel- und Runenmeisterin und Leander stellvertretender Koordinator und Zirkel-Meister, unterrichtet aber nicht direkt. Sie sind gleich nach Juna die autoritärsten-"
„Wie bitte?", platze es aus Shyra heraus, gerade als sie die Türe durchschritten und in den dahinterliegenden Raum kamen. „Leander?"
Barlor warf ihr einen fragenden Blick zu. „Hast du ihn schon kennen gelernt?"
„I-ich ... ja, nein. Vielleicht, ich bin ihm kurz begegnet – wie kommt er dazu?!"
Barlor runzelte die Stirn. „Er ist einer unserer besten Soldaten. Da er allerdings selbst oft in Aufträgen unterwegs ist, ist er kein Lehrer geworden. Man hat es ihm angeboten, aber er hat abgelehnt. Der Bursche fühlt sich wohler da draußen, zwischen Feinden, wo er keine Rücksicht nehmen muss."
Shyra starrte ihn immer noch an. Leander? Der ... Mann, der mich letzte Nacht begleitet hat, der zu Samiro wollte, ist eine derartige Autorität? So alt hat er gar nicht gewirkt!
„Aber zurück zu dir", rissen sie die Worte des anwesenden Mannes aus den Gedanken und verleiteten sie dazu, ihre neue Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.
„Das hier ist unsere Waffenkammer."
Shyra starrte auf die gigantische Sammlung an glänzenden Schwertern, Bögen, Dolchen und anderen Waffen, die sie aber nicht zuordnen konnte.
„Bemerkenswert", rutschte es ihr heraus und Barlor lachte.
„All das hier sind ausgezeichnete Waffen, aber beginnen wirst du wie alle anderen – mit einem Holzstock. Ich hab dich heute mitgebracht, weil ich dir ein Gefühl für die Sache geben will und damit du mir sagst, was deine Stärken sind – sofern du welche hast."
Shyra runzelte verärgert die Stirn. „Natürlich habe ich Stärken." Der Mann schmunzelte. „Naja", fuhr das Mädchen nun doch etwas zögerlich fort. „Immerhin habe ich diesen Angriff der Salvatori überlebt. Und zuhause ein wenig Unterricht mit dem Dolch gehabt ... kurz auch mit dem Schwert. Das war der Monat, in dem mein Vater auf Rundreise war und nicht vorausdenkend genug war, die Schwerter wegsperren zulassen."
Barlor lachte herzlich. „Ziemlich ungestüm für eine Prinzessin! Aber Überleben ist die Mindestanforderung in einem Kampf, fürchte ich", fügte ihr neuer Lehrmeister dann ernst hinzu und schüttelte den Kopf. „Du hast noch viel zu lernen, Mädchen. Daheim hat es gereicht, wenn du deinen Trainingskameraden das Holzschwert-„
„-scharfe Klinge-„
„-an die Kehle gehalten hast, aber das hier ist kein Spiel. Hier draußen kann dich Mitgefühl und Gnade um dein Leben bringen." Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Solange du nicht bereit bist für dein eigenes Überleben zu töten, hast du im Gefecht nichts verloren."
Shyra blickte Barlor bedrückt an. Dass ihre Leistung so sehr unter den Scheffel gestellt werden würde, hatte sie nicht erwartet. Sie hatte ihre Sache doch gut gemacht? Niemand war entkommen, als sie und Samiro gegen die Salvatori gekämpft hatten, oder? Auch wenn das nicht gerade ihr Verdienst gewesen war.
„Nun, ich bin hier um zu lernen", sagte sie dann leise und schluckte die Enttäuschung hinunter. Jetzt lächelte der Mann wieder und nickte. „So ist es gut. Wir fangen mit einfachem Ausdauer- und Krafttraining an."
Shyra stöhnte, war aber gewillt sich fürs erste leiten zu lassen, da sie ohne hin hier fest saß und Trübsal blasen wollte sie auch nicht, zumal der Gedanke an ihr leeres, unpersönliches Zimmer nicht gerade einladend war.
☬
Die Sterne waren das einzige Licht am Firmament, als Ionas aufseufzte. Er saß seit mehreren Stunden in der Dunkelheit seines Zimmers, abwartend, bis seine geschäftige Dienerschaft ebenfalls zu Bett gegangen war. Er wagte es nicht einmal eine Kerze zu entzünden, akribisch darauf bedacht, niemandem Anlass zu bieten, an seine Türe zu klopfen.
Wenn er heute wieder hinausschlich, dann wollte er ungestört sein und keiner Wache, keinem Diener und definitiv keiner Cheiri, die ihre Nase in für sie völlig unangebrachte Situationen steckte, über den Weg laufen.
Leise erhob sich der König und nahm die Tasche vom Tisch, die bloß mit Notizbuch, Stiften, Streichhölzern und einer beinahe schon bedenkniserregenden Menge an Kerzen gefüllt war.
Auf dem Korridor war es ruhig und dank der samtenen Teppiche wurden seine Schritte bis ins Geräuschlose gedämpft und so kam Ionas ohne Zwischenfälle bei Aredhels Studierzimmer an, schlüpfte durch die Türe und versicherte sich, dass sie hinter ihm wieder fest verschlossen war.
Als nächstes machte er sich daran die heruntergebrannten Kerzen durch neue auszutauschen und entzündete sie. Ein Blick in seine Tasche verriet ihm, dass er acht geben musste, dass sie ihm nicht ausgingen.
Er hatte begonnen die Bücher aus den Regalen zu holen, die er auch tatsächlich lesen konnte, aber war nicht sehr weit gekommen damit, denn zu viel, das er fand, verstand er nicht. Es war in fremden Sprachen geschrieben, durchsetzt mit Symbolen und Zeichnungen, die wie Ionas vermutete, Runen und Siegel sein mussten, Anleitungen zu Ritualen und Herstellung von skurrilen Heilmitteln und Talismanen. Er ließ seinen Blick kurz über die Bücher schweifen, denen er ein wenig mehr Bedeutung zukommen hatte lassen, schüttelte aber nur den Kopf.
Er hatte bereits fast alle durchgeblättert, bis auf die, welche mit den Alten Göttern zu tun hatten. Zu unbehaglich war das Gefühl, das von ihnen ausging, als würden die Dinge auf den brüchigen Seiten seinen Gedanken lauschen, wenn er sie aufschlug. Auch wenn er den Namen, den er in seinem Notizbuch unterstrichen hatte, nicht mehr aus dem Kopf bekam. Lhimeliel.
Ionas schloss kurz die Augen und wandte sich dann den Regalen mit den Ordnern zu. Er hatte sich vorgenommen heute tiefer in die Aufzeichnungen dieses Zirkels zu blicken, mehr an die empirischen Bereiche heranzutreten, an Fakten und Daten, die ihm mehr Einblick in das aktive Leben seiner Ziehmutter geben würden. Es war entmutigend, aber ein inneres Feuer hielt in ständig am Laufen. Er musste mehr herausfinden, musste verstehen, warum Shyra wirklich keine andere Wahl gehabt haben sollte, was mit seiner Mutter passiert war und wie er das alles aufhalten konnte, ehe sein Königreich darüber zerbrach.
Auch wenn diese unbekannte Macht in der Politik nicht mitmischte, so war sie dennoch etwas, das – von dem Ionas mittlerweile wusste – allgegenwärtig und fundamentaler war als sein eigenes Amt. Wer wusste schon, vielleicht gab es neben den Mächten der Menschen noch eine versteckte Welt zu der sie einfach alle die Tür geschlossen hatten, die aber zu jeder Zeit hinter jeder Ecke lauerte. Was, wenn sich die Menschen seit Jahrhunderten selbst belogen? Im Grunde war er sich da sogar ziemlich sicher. Es gab Runen- und Siegelmagie, es existierten Religionen, es war nichts Neues und dennoch erschreckend fremd. Lhimeliel. Ein Gott aus der Alten Welt, dem die kleine Mönchsunterkunft in Sajanuwé neben Magrad geweiht ist.
Ionas kaute am Nagel seines Daumens ehe er verärgert die Hand sinken ließ. Er hatte nicht mehr Nägel gekaut seit er sieben geworden war. Die vielen späten Stunden taten ihm nicht gut und dazu kam, dass er, seit Cheiri in seine Dienste getreten war, umso vorsichtiger sein musste.
Unangenehme Fragen kamen in seinem rastlosen Geist zusammen und machten seine Lage nur unnötig kompliziert. Früher oder später würde er sich mit den Religionen und dem damit verbundenen Äther eingehend beschäftigen müssen und allein das Vorhaben, Shyra da wieder herauszufischen ehe sie den selben fatalen Fehler wie Aredhel beging, nahmen ihm nicht den Wind aus den Segeln.
Also trat er mutig an die Regale heran und blickte an den Ordern entlang, versuchte die verschnörkelten und teilweise schon verblassenden Beschriftungen zu entziffern, bis er an eine Reihe an Mappen kam, die alle mit dem selben Wort betitelt waren. Personenregister.
Aufregung brachte sein Herz zum schneller Schlagen, als er am unteren Etikett jedes Ordners eine andere Jahreszahl fand. Demnach waren sie chronologisch geordnet und sofort begann der junge König nach den Daten zu suchen, die für Aredhel relevant waren. Er rangierte alle Ordner aus, die vor der Geburt seiner Ziehmutter beschrieben worden waren und kam schließlich zum letzte in der Reihe, der die Jahreszahl 400 trug. Geschickt fischte er den Order mit der freien Hand aus dem Regal und kehrte mit dem Kerzenhalter in der anderen zurück zum Schreibtisch, ließ sich aber daneben im Schneidersitz auf dem Boden nieder, da auf der Tischplatte an sich ohnehin kein Platz mehr gewesen war.
Er blätterte durch die endlosen Seiten, bis er auf etwas Interessantes stieß. Neugierig betrachtete er das Blatt, das die darauffolgenden Seiten von den vorherigen trennte. Es war simpel und aus hartem Papier und hatte in fein säuberlicher Schrift oben die Worte Verzeichnis nach 413 geschrieben. Es war nicht die Schrift von Aredhel, aber das machte nichts. Endlich kam er dem Geheimnis, das seine Mutter, war näher.
413 musste eine Jahreszahl sein, aber eine ziemlich zufällig gewählte. Er konnte sich nicht erinnern, dass im Jahr 413 irgendetwas Bahnbrechendes passiert war. Außer, dass es erst etwa hundert Jahre in der Vergangenheit lag. Stirnrunzelnd schlug er Seite um Seite um, las sich durch viele Namen, bis er weiter hinten dieses Registers auf einen stieß, bei dem es in seinem Kopf Alarm schlug. Juna.
Er hatte den Namen schon zuvor gelesen und einer plötzlichen Eingebung folgend langte er in seine Tasche hinunter und zog das zerfledderte Bündel hervor, das einmal ein Brief gewesen war. Er trug ihn immer bei sich, wenn er hier her kam. Auch wenn er ihn schon seit Tagen nicht mehr gelesen hatte, hoffte er immer einen Hinweis zu finden, wenn er über dem kurzen Schreiben grübelte. Er strich das weich gescheuerte Papier auf seinem Knie glatt und überflog den Text zum hundertsten Mal. Und genau da stand der Name.
Juna.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top