☙Kapitel 29 - Götterbildnis❧
Leander war keine Sekunde später auf den Beinen, packte ihr Handgelenk und riss sie mit einem derartigen Ruck auf die Beine, dass ihr ohnehin der Atem verschlagen wäre. Das Wispern in ihrem Kopf schwoll an, die Silben verschwammen und in ihrem Geiste formten sich Laute, die fremder und vertrauter nicht sein konnten. Die leuchtenden Augen, die hinter dem Buntglasfenster sichtbar wurden schienen direkt ihrem Albtraum zu entspringen. Unfähig sich zu bewegen, starrte sie dem Nachtschatten entgegen, wie er seine Augen auf sie richtete, obwohl Shyra das gar nicht richtig feststellen konnte, aber sie spürte es, spürte diese milchigen Augenhöhlen, wie sie sich in ihren Geist fraßen und in ihren Brustkorb brannten.
Leander hatte ihr mehrmals zugerufen, aber die Prinzessin hatte ihn nicht gehört. Also packte er sie mit einem starken Arm um die Taille und zog sie von dem Fenster fort, zurück in Richtung des Hofes. Er drückte sie gegen die mittlerweile kalte Steinmauer und richtete einen Zeigefinger auf sie.
„Du bleibst hier", befahl er forsch und kaum hatte er sie losgelassen und einen Dolch gezogen, erschien eine weitere Gestalt aus der Richtung des Speisesaals, die „Leander!" rief und auf ihn zuhielt.
„Die Schutzsiegel, Wollemia", herrschte der schwarzhaarige bloß und die Angesprochene blieb nicht einmal stehen, sondern verschwand wie ein weißer Blitz durch einen Seitengang hinaus zu dem Nachtschatten.
Leander wandte sich zu Shyra um, die gegen die Mauer gelehnt zu Boden gesunken war, und fluchte. Er kniete sich zu ihr nach unten und hob ihren Kopf an. Sie atmete noch, war auch wach, aber sie schien außer sich zu sein.
Es war schwer zu sagen, wie Wollemia voran kam, aber Juna hatte extra gesagt, dass sie die Siegel um das Quartier stärken müssten, dass ausgerechnet heute Nacht ein ausgewachsener Nachtschatten aufs Gelände kommen würde, hatte er sich nicht gedacht.
Plötzlich schnappte das Mädchen unter ihm nach Luft und fing an zu Husten, woraufhin sie anfing Blut zu spucken und Leander sich ein wenig überfordert durch die Haare fuhr.
„Shyra", sagte er heftig und hob ihren Kopf an, als sie aufhörte zu husten. „Shyra, alles okay?"
Das Mädchen nickte und schluckte heftig. „Ja", krächzte sie und wischte sich zittrig über die Lippen.
Leander verzog den Mund und versuchte einen besseren Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, indem er sich auf seinen Fersen sitzend ein wenig näher zu ihr beugte.
„Das Blut ist schon okay. So wie du hyperventiliert bist, war das wohl alles etwas viel für deine Kehle. Ganz ruhig, okay? Hast du sonst Schmerzen?"
Das Mädchen schüttelte einmal den Kopf und versuchte so ruhig wie möglich durch die Nase zu atmen.
„Nicht außergewöhnlich mehr." Alles brannte und stach und zu allem Übel pochte ihr Schädel, als würde man mit Schmiedehämmern auf sie einschlagen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte hob sie den Kopf und suchte Leanders Blick. „Wo ist dieses ... Ding?"
„Nachtschatten", murmelte Leander und stand auf, um einen Blick in den Gang zu werfen, an dessen Fenster der Nachtschatten vorbei geschlichen war. „Er ist fort, keine Sorge."
„Gut", atmete Shyra und schlang sich die Arme um den Leib. „Das", meinte sie dann mit schwacher Stimme.
„Hm?"
„Das habe ich geträumt", flüsterte sie und ein erneuter Hustenanfall schüttelte sie durch.
Leander runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu, denn er hörte, wie das Gatter des Nebentraktes zur Kapelle zugeschlagen wurde und nur wenig später Wollemia durch das fahle Mondlicht auf ihn zukam.
„Du schläfst aber auch nie", stellte der junge Mann fest und stand auf.
„Offensichtlich und zu deinem dämlichen Glück, denn sonst keiner hier scheint die Fähigkeit zu besitzen mit diesen Situationen hier umzugehen", sagte sie gebieterisch. „Ich hab das Knistern der Siegel unten gehört, die Kuppel ist beinahe zischend in die Luft geflogen."
„Jetzt übertreib mal nicht. Geh und weck Cycas. Und Barlor."
„Pah", machte die Frau. „Alles bestens, kein Grund sich gleich nass zu machen."
Shyra versuchte einen Blick auf diese Wollemia zu werfen, doch da Leander in ihrem Blickfeld stand, und es noch dazu anfing zuzuziehen, war es viel zu dunkel, um überhaupt viel zu erkennen und der spärliche Mondschein reichte nicht bis unter die Arkaden.
„Dann schreib eine Nachricht und nagle sie an ihre Türen, ist mir egal, aber du wirst es ihnen mitteilen."
„Alles klar", grinste Wollemia und nickte dann in Shyras Richtung. „Auch Hilfe damit?"
„Ja." Leander wandte sich zu der Prinzessin um und half ihr auf die Beine, musste sie aber den gesamten Weg zurück zu ihrem Zimmer stützen, was jetzt nicht weiter schwer war, so leicht wie sie war.
„Kümmere dich um ihre Kehle, wenn du schon hier bist."
„Immer diese herrischen Befehle."
Shyra wollte nicht einschlafen, die Angst vor dem nächtlichen Terror in ihren Gedanken brachten sie beinahe zum Weinen, aber ihr schwaches Flehen wurde nicht erhört, sie war sich aber ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher, ob sie dieses laut aussprach. Die Welt verschwamm ihr ohnehin bereits vor den Augen, sodass sie kaum mitbekam, wie Wollemia sich zu ihr beugte und das letzte, was sie wahrnahm war ein sanftes, gelbes Glühen, das durch die Schlitze ihrer Lider drang.
☬
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne schon lange über den Horizont getreten und neben ihrem Bett lagen frische Kleider. Alles wirkte so normal und ruhig. Mit einem tiefen Atemzug, stemmte sie sich hoch und genoss für eine Weile das helle Licht, das durch die unverschlossenen Vorhänge fiel. Ihre Kehle fühlte sich immer noch rau an und die Bilder der vergangenen Nacht sickerten zurück in ihr Gedächtnis.
Dieser Nachtschatten war um so vieles riesiger gewesen, als die kleinen Geschöpfe, denen sie damals mit Samiro begegnet war und Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, als sie an den Traum zurück dachte. Wie hieß sie ... Wollemia? Wie hat sie eigenhändig diese Bestie bezwungen?, dachte sie bei sich und rieb sich die Unterarme. Vor allem wie kann sie dann noch Nerven für Scherze haben?
Sie blickte wieder hinaus in den Hof, der bei Tage freundlich und einladend wirkte und als niemand kam, um sie zu holen, stand Shyra von selbst auf und zog sich um.
Das war sie überhaupt nicht gewohnt. Normalerweise würde Alysia sie wecken, ankleiden und zum Frühstück begleiten – hier war alles anders. Sie war vollkommen auf sich allein gestellt und obwohl es ihr nicht behagte, fand sie sich damit ab, dass sie sich daran gewöhnen musste. Fertig angekleidet veranlasste sie ihr knurrender Magen, sich auf den Weg zum Speisesaal zu machen. Mit einem frisch gewaschenen Gesicht und mehr schlecht als recht mit Fingern gekämmten und zusammengebundenen Haaren, verließ sie das kleine Waschzimmer am Ende des Korridors.
Hungrig schlenderte sie durch den Flur, bis sie vor der Halle ankam, in der sie gestern gegessen hatte. Shyra drückte die Tür auf und betrat einen halb vollen Speisesaal und mit einem Mal kam sie sich wie ein Eindringling vor.
Die Gespräche in der näheren Umgebung verstummten und einige Blicke richteten sich neugierig auf sie. Peinlich berührt blickte sich Shyra nach Juna um, konnte sie aber nicht finden. Natürlich nicht, sie ist außer Haus.
Erst eine zögernde Stimme riss sie aus der aussichtslosen Suche. „Es gibt keine Sitzordnung, such dir einfach irgendeinen Platz."
Shyra blickte sich in ihrer näheren Umgebung um und erkannte einen kleinen Jungen, der soeben zu ihr gesprochen hatte. Er trug zwei Tabletts mit Essen darauf in den Händen.
„Oh. Okay", murmelte Shyra verlegen und blickte sich wieder um.
„Wenn du willst, kannst du dich zu uns setzen", fuhr der Kleine fort und lächelte ihr freundlich zu.
„Danke", murmelte Shyra und folgte dem Jungen durch die Halle zu einem der Tische. Dort saßen schon zwei andere Mitglieder der Aposperitis und zur Abwechslung schienen diese ein wenig jünger als Shyra zu sein. Angekommen, stellte sie sich vor und die anderen begrüßten sie mit großen Augen, während man ihr das Essen brachte.
„Man hat uns nie erzählt, dass Aredhel eine Tochter hatte", fing da plötzlich eines der beiden Mädchen an und betrachtete Shyra eingehend. Auch die anderen blickten jetzt von ihrem Essen auf und durchbohrten sie neugierig mit ihren Blicken.
„Äh ... ich schätze, das hat man wohl nicht für klug gehalten", meinte Shyra leise.
„Nein, nein!", meinte das Mädchen rasch und hob abwehrend die Hände. „Ich mein das keineswegs böse – es ist bloß so komisch, weißt du?"
Der Junge von vorher fiel jetzt auch ins Gespräch ein: „Es stimmt ... zuerst erfahren wir, dass Aredhel gestorben ist und nur wenige Tage später taucht eine kleine Kopie von ihr hier auf."
„Es tut mir Leid okay?", brauste Shyra dann plötzlich auf. Das Essen schmeckte mit einem Mal furchtbar und ihr Magen rumorte. „Es tut mir Leid, dass ihr statt eurer gottgleichen Ikone nun mich am Hals habt. Aber falls es den Leuten hier entgangen sein sollte, ich habe durch das alles auch eine Mutter verloren!"
Verbissen schluckte sie die Tränen, die erneut in ihre Augen kriechen wollten, hinunter, stand auf und eilte so anmutig wie möglich aus der Speisehalle. Dort blieb sie allerdings nicht stehen, sondern ging einfach weiter.
Im Hof und auf den Fluren begegnete sie so gut wie keiner Menschenseele. Allein in dem Kräutergarten, so vermutete sie, denn das eingezäunte, stark verwuchert aussehende Stück Garten grenzte direkt an die Speisehalle, konnte sie einige Leute still arbeiten sehen, welche das Mädchen allerdings nicht beachteten.
Vielleicht hatte sie da drinnen ein bisschen überreagiert, aber das war ihr egal. Sie fühlte sich gekränkt und ausgeschlossen und von dem Gefühl der Verbundenheit war kaum mehr etwas da. Ziellos lief sie an den Unterkünften entlang, stockte an Samiros Spange, entschied sich aber dagegen an seine Türe zu klopfen. Sie wollte sich keine Hoffnungen machen, nur um dann enttäuscht zu werden, wenn tatsächlich niemand öffnete. Überhaupt hatte Juna ihr verschwiegen, was sie denn tun sollte, bis sie zurück war, wo auch immer sie hingegangen war, und das stimmte Shyra zusätzlich unzufrieden und trotzig.
Aber auch neugierig, denn seit sie bei den Aposperitis angekommen war, hatte sie den Komplex noch nicht verlassen. Wenn nun ohnehin keiner da war, der ihr auf die Finger klopfen könnte, würde es sicher nicht schaden, sich ein Bild von der Umgebung zu machen.
Auch wenn es ihr wenig behagte auf die andere Seite der schützenden Mauer zu gehen, war sie nun von einem Entdeckerdrang gepackt, der Ionas vermutlich alle Haare zu Berge stehen lassen würde. Mit einem Kribbeln in den Fingern schritt sie also, sich leise umblickend, auf das Gatter zu, welches versteckt hinter den Arkaden zu dem Hinterausgang führte, durch den die geheimnisvolle Frau gestern ebenfalls verschwunden war. Auch, wenn sie immer noch an den Albtraum und die viel schlimmeren tatsächlich stattgefundenen Ereignisse denken musste, schaffte sie es nicht ganz, diesem Drang Einhalt zu gebieten. Außerdem konnte die junge Prinzessin nicht leugnen, dass sie auch ein wenig erpicht darauf war die Leiche eines Nachtschatten zu sehen, zu ergründen, was sich unter dem nebelartigen Umrissen verbarg und auch, wenn sie schauderte bei dem Gedanken ein totes Geschöpf zu betrachten, war die Neugierde zu verstehen, was ihr eigenes Leben gefährdete umso größer.
Zu Shyras Glück war das baufällige Holztor unverschlossen und das Mädchen fragte sich, ob hier denn keiner Angst vor Einbrechern hatte, bis sie sich erinnerte, dass die Leute innerhalb dieser Mauern vermutlich viel schlimmere Verbrecher waren, als irgendein armer Halunke außerhalb je sein würde.
Das leise Quietschen des rostigen Scharniers war für einen Moment das einzige Geräusch, als Shyra das Gatter mit einiger Gewalt aufdrückte, da unzählige Ranken und andere Kletterpflanzen bereits das durch Menschen erbaute Gebäude zurück zu erobern begonnen hatten. Vorsichtig lugte sie zwischen den Holzplanken hindurch und steckte dann den Kopf aus dem Hof, doch vor sich erstreckte sich bloß eine erdige Anfahrtstraße und ein lichter Laubwald dahinter. Die Geräusche der Singvögel und Insekten waren im Gegensatz zu der Atmosphäre gestern Nacht dermaßen friedlich und einladend, dass das Mädchen beinahe ohne Vorbehalte auf den kleinen Platz hinaustrat. Der Ort wirkte wie eine lang vergessene Idylle, ein Zufluchtsort für Leute, die dem Stress des Lebens entkommen wollten. Oder danach streben sich eines stressigen Mitbürgers zu entledigen, ging es ihr düster durch den Kopf und sie musste an die Erläuterungen von Juna und Barlor zurückdenken.
Shyra wandte sich zu dem Gebäude um und ging an der Mauer entlang an die Vorderseite. Die Lichtung wurde hier noch ein Stück größer und auf der anderen Seite der kleinen Kirche konnte sie das leise Schnaufen von untergestellten Tieren hören. Sie legte den Kopf in den Nacken, um den Stand der Sonne zu bestimmen, es war mittlerweile Mittag doch das machte es ihr unmöglich Osten zu erkennen. Ein wenig enttäuscht ließ sie also ihren Blick nun das Gebäude entlang zu Boden gleiten und erkannte an der Spitze des Kirchturms, der ebenso bereits von Kletterpflanzen heimgesucht wurde, eine metallene Scheibe mit ausgeschnittenen Mustern, die sie von hier unten allerdings nicht erkennen konnte.
Ein sanfter Windstoß fuhr die kleine Kirche und ihre angrenzenden Gebäude entlang und brachte die Blätter der Kletterpflanzen dazu sich in der Brise zu Wiegen.
Shyra schluckte und richtete ihren Blick auf die großen Bleiglasfenster, die mit ihren bunten Scheiben alles andere als freundlich wirkten. Aber vielleicht lag das auch nur an den darauf abgebildeten Motiven.
Das Mädchen erkannte aus spitzen Glassplittern geformte Wesenheiten, groß und majestätisch anzusehen. Recht hübsch, befand Shyra, auch wenn sie eine tiefe Unruhe bei deren Anblick packte. Die stilisierten Abbilder zeigten menschenähnliche Kreaturen, manche mit kantigen Flügeln, andere mit scharfen Klauen und gekrümmten Körpern und Hörnern, nicht minder ehrfurchtserweckend, aber was sie alle gemein hatten, waren die schwarzen, irislosen Augen, die in den glatten, menschenähnlichen Gesichtern saßen und auf manchen der Flügelstücke abgebildet waren, die wie Splitter durch die bunten Glasstücke zu schneiden schienen, erstarrt und dennoch durch das Sonnenlicht zum Leben erweckt. So etwas möchte ich nicht im Haus haben, dachte sie bei sich. Und wenn es nur spiritueller Natur scheint.
Mit wachsenden Unbehagen wich sie von den Motiven zurück, sich mit einem Mal wieder an die milchigen Augen des Nachtschatten erinnernd, als sie tiefer aus dem Wald plötzlich Geräusch vernahm. Keine natürlichen. Das Mädchen fuhr herum.
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