☙Kapitel 28 - Wachträume❧

Der König ließ sich mit einem lange Seufzen zurück in die Pölster sinken, zog den Goldreif von seinem Haupt und beobachtete geistesabwesend die bunte Vielfalt des Wintergartens. Für einige Augenblicke war er sich sicher, dass Shyra mit einem quietschenden Lachen durch die Büsche brechen würde, um ihn zu verspotten, dass er sie einmal mehr beim Versteckspiel nicht gefunden hatte.

„Meine Hoheit?", ertönte dann eine helle Stimme hinter ihm, sodass er heftig zusammen zuckte und nur wenig später trat Cheiri in sein Blickfeld. „Soll ich gehen?"

Ionas zog die Brauen hoch, schüttelte sich wiederfangend den Kopf und deutete auf den Tisch. „Nimm dir etwas von dem Kuchen, wenn du möchtest."

Seine Zofe trat zögerlich näher an den Tisch heran.

„Setz dich, wenn du schon dabei bist", meinte Ionas dann leicht erschöpft und beobachtete das Mädchen, wie es sich den Rock glatt streichend, auf einen der gepolsterten Sessel niederließ.

„Ich darf also deine Krümel vom Teller schlecken, Meine Hoheit", stellte sie fest und Ionas rollte nur mit den Augen.

Eure."

„Eure Krümel", wiederholte die Südländerin und griff nach dem klebrigen Nusskuchen.

„Ich meinte Eure Ho- ach vergiss es", gab Ionas es auf, sie zu belehren und betrachtete erneut die filigrane Figur seiner Dienerin.

„Darf ich dir eine Frage stellen?", fing er nach einiger Zeit des Schweigens wieder an und Cheiri blickte sich übertrieben überrascht um.

„Sprecht Ihr mit mir? Denn wenn sonst noch welche hohen Hoheiten anwesend sind, die man fragen muss, ob man fragen darf, dann würde ich denken meine Augen sind kaputt."

Ionas setzte sich ganz auf, legte den Goldreif auf den Tisch und fuhr sich durch die Haare.

„Es ist eine ... persönliche Frage", erklärte er und stützte nun seine Ellenbögen auf die Knie. Das Mädchen kniff ihre Lider leicht zusammen, entgegnete aber nichts, sondern biss nur ein weiteres Mal von dem Nusskuchen ab. „Also schön, es geht um Saar'Akand und gewissermaßen deine Heimat."

„Sag einfach, mich beleidigt so flott noch nichts", sagte sie dann und wie schon so oft davor klang ihr Akzent leicht genervt durch ihre sonst so bemühte Ausdrucksweise. Bemüht ja, erfolgreich eher weniger.

„Du kommst aus Saar'Akand, aber hast keine ...", er deutete sich selbst mit dem Zeigefinger auf den Scheitel.

„Ah", machte Cheiri und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich wusste nicht, dass Ihr einer von der Sorte bist, ich meine seid."

„Wie bitte?", fragte Ionas irritiert und legte den Kopf schief.

Cheiri stopfte sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund und kaute genüsslich. „Die hohen Herren, die einen nur anstellen wegen der Ohren."

Der Junge starrte das Mädchen mit verständnislosen Augen an.

„Wieso sollte man-", er stockte kurz und richtete sich dann fast erschrocken auf, als Cheiri die Augenbrauen hob und ihn vielsagend anblickte. „Cheiri", rief er bestürzt und kam sich mit einem Mal furchtbar inadäquat vor. „Du denkst doch nicht, dass ich- ... dass wir hier – so ein Blödsinn!"

„Schon gut", meinte die Südländerin und hob abwehrend die Hände, das neckische Grinsen verließ ihr Gesicht aber trotzdem nicht. „Man zieht solche Gründe für Anstellungen an noblen Höfen nur immer in Betracht, denn oft sind es edle Leute, Nobelleute", sie machte eine einschließende Handbewegung in Ionas Richtung, „die für Bespaßung an diesen Körpermerkmalen interessiert sind."

Ionas brauchte einen Moment, in dem sich sein polterndes Herz und die Hitze in seinem Gesicht wieder etwas beruhigt hatten, bevor er sich räusperte, um zu antworten.

„Ah, darum geht es mir ganz gewiss nicht, Cheiri, sollte ich jemals den Anschein gemacht haben-", er stockte und suchte nach den rechten Worten.

„Nein, gar nicht", winkte seine Zofe ab und wischte sich grinsend über den Mund. „Du ganz bestimmt nicht, ich meine Ihr."

„Es geht bloß darum, dass ich dachte in Saar'Akand würden die Fíer-Sen leben und da du aus selbigem Land kommst ..."

Das Mädchen hob die Schultern. „Saar'Akand ist groß, so wie Mondrodij, da gibt es viele Völker. Naja, fein, hier hat man es nicht so mit anderen Leuten, die fremd sind. Vom Aussehen, meine ich."

Ionas nickte, immer noch peinlich berührt und griff nun nach seiner Mappe. „Also schön."

Seine Zofe legte das freche Grinsen erst ab, als sie wieder im unteren Schloss angekommen waren und Ionas sie bat für den restlichen Tag jegliche Störung von seinen Gemächern fern zu halten.

„Gilt meine Anwesenheit als Störung?", wollte sie dann wissen und Ionas hielt kurz die Luft an, um sich nicht gegen die Stirn zu schlagen, ehe er sagte: „Deine ganz besonders und jetzt mach dich anderswo nützlich!"

Cheiri lachte kurz auf, was ihre Augen zu kleinen Halbmonden formte, die Ionas zu seinem Erstaunen entzückend fand, und dann war das Mädchen um die nächste Ecke verschwunden.

Ein Wispern drang durch ihren Kopf wie ein sanftes, verlockendes Flehen. Das Säuseln war so sachte, dass die Worte nicht zu verstehen waren und dennoch meinte Shyra, eine federleichte, rauchige Silbe immer und immer wieder zu hören. Komm, schien sie zu hauchen, komm. Ein kalter Sog erfasste zuerst ihre Haare, dann ihre Hände und schließlich ihren Oberkörper, zogen sie fort, leisen Schrittes aus dem Bett, fort, hinaus in die Dunkelheit, einen kalten Korridor entlang auf ein Tor zu, welches sich geräuschlos öffnete. Shyra glitt auf weichen, federleichten Schritten immer näher, bis die Dunkelheit hinter dem Tor begann nach ihr zu greifen. Komm, zischte es in ihrem Kopf, mit einem Mal laut und hallend, als würde ihr jemand in den Nacken atmen und im nächsten Moment leuchteten milchige Augenschlitze vor ihr in der Schwärze auf. Ein erstickter Laut wollte sich Shyras Kehle entringen, doch ihre Lungen waren träge, verklebt von der Endgültigkeit des Todes, als sich unter den Augen ein viel zu breites Maul, gefüllt mit nadelspitzen Zähnen, öffnete und keine Sekunde später nach ihrem Gesicht schnappte.

Shyra fuhr mit einem kehligen Laut aus dem Schlaf, ihr Herz zerriss ihr beinahe den Brustkorb und sie schnappte gierig nach Luft. Ihr gesamter Körper zitterte, doch ihre Glieder waren wie gelähmt, die Todesangst versperrte ihre Gelenke mit einer unheimlichen Endgültigkeit.

Sie schwitzte und heftige Schmerzen hinderten sie vernünftig durchzuatmen. Ihr standen Tränen in den Augen bei dem Zeitpunkt, an dem sich ihr Körper aus den horrorartigen Überresten des Albtraumes zu winden begann und das Gefühl der Realität langsam wieder in ihr Gemüt sickerte.

Das Mädchen versuchte sich zu beruhigen. Was auch immer sie in ihrem Traum gesehen hatte, war nichts weiter, als das: eine Albtraumgestalt. Aber die Stimme hatte so real geklungen, so nahe und echt, sie hatte die Kälte auf dem Gesicht gespürt, die nadelspitzen Zähne in ihr Fleisch schlagen gefühlt. Erneute Panik jagte in der Prinzessin hoch und ohne nachzudenken rappelte sie sich auf, achtete dabei nicht auf das Stechen und Ziehen in ihrem Körper und trat schluchzend die Decken von ihrem durchgeschwitzten Körper, bevor ihr bewusst wurde, was sie da eigentlich tat. Sie war so darauf trainiert in solchen Situationen zu ihrem Bruder zu laufen, dass sie erst innehielt, als ihre Hand an der Türklinke lag. Er ist nicht hier. Ich bin nicht dort, dachte sie verzweifelt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Aber war sie nicht schon längst über so ein Verhalten hinausgewachsen? Konnte sie sich nicht selbst um diese Gefühle kümmern? Nur die Ruhe, sagte sie sich und blickte sich um, während sie die Panik hinunter würgte. Es gab keine Lampen im Zimmer und so musste sie die Vorhänge zur Seite ziehen, um das schwache Mondlicht hereinzulassen. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, denn seine Position hatte sich kaum verändert.

Die Szenerie in ihrem Traum hatte sich angefühlt wie damals, als sie vom Tod ihrer eigenen Mutter geträumt hatte und dieser Traum hatte sich auch bewahrheitet. Hieß das, dass die Kreatur ihr tatsächlich auflauern würde? Oder war es gar nur ein kindliches Hirngespinst, geschürt von den Erzählungen der Aposperitis? Einfach nur ein Traum und weiter nichts? Das Mädchen seufzte zittrig und befühlte unbewusst die Bandagen um ihre Rippen, ehe sie in ihre Stiefel schlüpfte und zur Tür hinaushuschte. Auch wenn sie nicht recht wusste, was sie mit diesem Traum anfangen sollte, so wusste sie dennoch eins: sie wollte jetzt unter gar keinen Umständen alleine sein.

Zuerst dachte sie an Saíra, doch sie war nicht da. Immer noch nicht! Als nächstes kam ihr Juna in den Sinn, doch von ihr wusste sie nicht einmal, wo sie sich aufhielt, geschweige denn, dass sie sich überhaupt im Quartier befand. Bestürzt schlang sie die Arme um das dünne Wams und fröstelte. Es war wirklich nicht mehr Sommer. Die letzte Ausflucht, die ihr in den Sinn kam, beunruhigte sie gleichermaßen, wie sie Shyra erregte. Samiro.

Doch auf ihr leises Klopfen reagierte niemand und auch als sie vorsichtig die Klinke hinunterdrückte, gab sie nicht nach. Ein wenig enttäuscht, ließ sie die Hand wieder sinken, lehnte sich mit den Rücken neben die Tür und sank an der Wand zu Boden. Natürlich war er nicht da. Samiro war nie da, wenn man ihn brauchte. Beunruhigt und unzufrieden schlang sie die Arme um die Knie und legte ihren Kopf darauf.

Sie wollte nicht einschlafen und der kalte, harte Stein half ihr dabei. Zu sehr fürchtete sie sich vor den Bildern in ihren Träumen. Was, wenn sie nur Wirklichkeit werden, wenn ich sie sehe, schoss es ihr mit schriller Stimme durch den Kopf. Ja, was wäre dann? Dann dürfte ich einfach nie wieder schlafen. Ein schwaches Schnauben rang sich ihre Kehle empor ehe sie es begriff. Lächerlich. Shyra drehte den Kopf zur Seite und blinzelte Tränen fort. Was geschehen musste, würde geschehen, ganz egal, ob sie davon träumte oder nicht. Und wer wusste schon, ob der Traum ihrer toten Mutter nur zufällig an jenem Tag ihr Unterbewusstsein belastet hatte, an dem man sie von ihrem tatsächlichen Ableben unterrichtet hatte.

Erst ein dumpfes Stechen machte sie darauf aufmerksam, dass sie immer stärker zugepackt hatte und ihre Beine durch das Einschneiden ihrer Fingernägel zu schmerzen anfingen. Sie lockerte ihren Griff und richtete sich ein wenig auf. Die kauernde Haltung machte ihr das Atmen schwer, aber Shyra war entschlossen weder einzuschlafen, noch aufzustehen, ehe nicht Samiro vorbei kam und sie tröstete.

Erst näher kommende Schritte rissen sie aus der unbequemen Position und ein heftiger Drang sich zu verstecken machte sich in ihr breit – nur gab es in dem leeren Flur keine Versteckmöglichkeit. Also tat Shyra das einzige mögliche – sie blickte der Silhouette entgegen, die kurz inne hielt, als sie das Mädchen dort auf dem Boden sitzen sah. Wer auch immer das war würde Shyra bestimmt nichts tun, oder zumindest hoffte sie das, als die Gestalt nun dicht vor ihr zum stehen kam und zu ihr hinunter blickte.

„Shyra", stellte diese fest. „Richtig?"

Das Mädchen blinzelte erneut. Das hier war keines Falls Samiro, aber die Stimme kam ihr dennoch bekannt vor. Sie musste dem schwarzhaarigen Jungen gehören, den sie früher am Abend getroffen hatte.

„Ja", wisperte sie mit zugeschnürter Kehle.

„Was machst du spät nachts halb nackt auf den Fluren? Hast du dich verlaufen?", fragte Leander nun mit einer Stimme, die schwer zu lesen war.

Shyra verstärkte den Griff um ihre Knie erneut und schüttelte den Kopf.

„Ich habe mich nicht verlaufen", flüsterte sie dann mit papierdünner Stimme und meinte im fahlen Mondlicht, welches durch das Bleiglasfenster am Ende des Ganges fiel, den jungen Mann die Brauen heben zu sehen, ehe er vor ihr in die Hocke ging.

„Was tust du denn dann hier?", fragte er jetzt mit steifer Stimme und unleserlicher Mine.

Shyra aber zuckte nur mit den Schultern und wich seinem Blick aus.

„Du weißt aber schon, wo du bist – wenn du dich nicht verlaufen hast."

Jetzt blickte sie doch zu ihm zurück, leicht verärgert über eine so dumme Feststellung. „Natürlich weiß ich, wo ich bin! Ich wollte ..."

„... zu Samiro", beendete Leander den Satz für sie. „Ich weiß. Ich auch."

„Wie – du auch?", rutschte es Shyra entgeistert heraus.

„Ich wollte auch zu ihm."

„Ich - ... ja, das habe ich schon verstanden, aber warum?"

Leander blickte sie mit blankem Gesicht an. „Was wolltest du von ihm?"

Shyra blickte rasch weg und hob die Schultern. „Ich wollte ... gar nichts." Oder sollte sie ihm doch erzählen, was ihr mit jedem Herzschlag Beunruhigung durch den Körper pumpte?

Leander blickte sie eindringlich unter zusammengekniffenen Augenbrauen an, drängte sie aber nicht dazu zu sprechen.

Schließlich seufzte sie mit geschlossenen Augen und entspannte sich ein wenig. „Ich hatte einen bösen Traum", meinte sie leise. Sie wollte nicht unbedingt mit diesem Jungen darüber sprechen, zumal er ein wenig bedrohlich wirkte, bedrohlicher als Samiro alle Mal, aber Shyra spürte diesen Drang sich mitzuteilen, zu sehr daran gewöhnt diese verstörenden Träume praktisch sofort loszuwerden, dass sie sich dazu entschied einfach loszureden. Außerdem wie bösartig konnte er schon sein, wenn er Juna unterstellt war?

„Ein böser Traum", wiederholte Leander und legte den Kopf schief. „Mit denen kenne ich mich aus", fügte er dann hinzu und ließ sich nun in respektvollem Abstand neben Shyra an die Wand sinken. „Wenn Samiro nicht hier ist, wird er auch die restliche Nacht nicht wieder kommen."

„Warum nicht?", fragte Shyra beklommen, aber Leander blickte sie einfach von oben herab an, dass es dem Mädchen ganz unwohl wurde.

„Was war das für ein Traum?", fragte er dann und Shyra wandte den Blick ab, richtete ihn zu dem bunten Bleiglasfenster hin, dessen rote Glaspartien den hellen Fußboden in geometrische Blutflecken verwandelte. Sie schluckte.

„Ich-", fing sie an und befühlte ihre Brust mit zittrigen Händen. Der grässliche Sog fiel ihr wieder ein, dieses ekelhafte, entkräftende Gefühl, welches sie manchmal in ihren Träumen verspürte und das aber seit ihrem Aufbruch, um Junas Brief zu folgen, immer stärker zu werden schien.

„Ich spüre eine Kraft", wisperte sie rau. „Die mich fortzieht. Wie Ebbe und Flut. Doch ich weiß, dass mich am Ende des Soges die scharfkantigen Brandungsfelsen des Todes erwarten", keuchte sie mit erstickender Stimme.

„Klingt heftig", meinte Leander.

„Ja und dann war da-", Shyra unterbrach sich, als ein Schatten vor den Mond glitt und das Licht aussperrte.

Komm, wisperte es in Shyras Gedanken und der Schatten schob sich dichter an das Fenster, sodass eine Silhouette sichtbar wurde. Das Mädchen spürte eine Eiseskälte durch Mark und Bein rieseln. Komm. Sie konnte einen gekrümmten Rücken ausmachen, der zu einem Tier gehören musste, das größer war als ein Pferd und als die Umrisse der Silhouette zu verschwimmen begannen, sich wie feiner Rauch völlig lautlos auseinanderzogen und wieder verdichteten, blieb ihr die Luft weg. Ein einzelnes, glühendes Auge öffnete sich direkt vor dem Buntglasfenster und raubte ihr jegliche Handlungsfreiheit. Komm.

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