☙Kapitel 22 - Die drei Fundamente des Seins❧
Shyra brachte den Mund nicht auf, selbst als Juna ihr Zeit zum Verarbeiten und Nachdenken gegeben hatte. Das soll Juna sein?! Das Mädchen atmete schwer, ein fieses Stechen begleitete allerdings jede Bewegung und so blieb ihr nichts anderes übrig als sich darauf zu konzentrieren, jeden Atemzug so vorsichtig wie möglich zu nehmen. Ihr Herz allerdings schlug unkontrolliert heftig in ihrem Brustkorb und brachte ihn als ganzer wieder zum Pochen. Sie wusste, sie musste etwas sagen, irgendwas zumindest, aber im Moment schossen ihr zu viele Gedanken durch den Kopf, dass sie gar nicht wusste, womit sie anfangen sollte.
Gerade wollte sie wenigstens zu einer Begrüßung ansetzen, als Juna wieder das Wort erhob.
„Ja nun, ich denke das ist jetzt nach dem Aufwachen wohl etwas viel. Vielleicht komme ich später noch einmal, wenn du dich ordentlich ausgeruht hast", meinte sie mit einem milden Lächeln und war drauf und dran sich zu erheben, als das Mädchen sich einen Ruck gab und es endlich schaffte sich zu Wort zu melden.
„Nein! Ich meine ... mir geht es schon besser. Und hätte man mir nicht geholfen, dann wäre ich vielleicht wirklich schon tot", sagte sie mit einer seltsam rauen Stimme, als hätte sie diese seit Tagen nicht benutzt. Mit trockener Kehle räusperte sie sich. Dann hatte sie es also tatsächlich geschafft, das hier war Juna und sie selbst endlich am Ziel. Alles war vorbei.
Shyra spürte die Tränen in ihren Augen brennen und blinzelte hastig. Es half allerdings nichts und wenig später entkam ihr ein leises Schluchzen, welches immer noch begleitet von stechenden Schmerzen nicht gerade erleichternd wirkte.
Juna grinste und rückte mit ihrem Hocker ein wenig näher ans Bett. „Lass es ruhig raus", sagte sie beruhigend, wagte es aber nicht, die Prinzessin zu berühren, aus Respekt vor ihrem momentanen Gemütszustand.
Shyra schluckte schwer und versuchte sich die Augen auszuwischen, alles tat ihr weh und langsam wurden die Schmerzen wieder allgegenwärtig, eine unangenehme Nebenwirkung des Erwachens.
„Also haben Sie mir den Brief geschrieben?", piepste das Mädchen aufgelöst. Sie war so weit gekommen, sie konnte endlich an Ionas schreiben, ihn aufklären, ihm sagen, dass es ihr gut ging und der Stein, von dem sie nicht einmal geahnt hatte, dass er noch auf ihrer Brust lastete, fiel ihr endlich vom Herzen.
Die Ältere nickte andächtig. „Ja, und ich möchte dir noch einmal mein größtes Beileid ausrichten. Shyra ... so zu gehen ist einfach untröstlich. Sie hätte das alles nie von dir – von euch verlangen sollen und es tut mir Leid, dass ich es nicht verhindern konnte."
„Haben Sie ... Sind Sie mit meiner Mutter, damals ... war das-waren Sie dabei?", stammelte Shyra atemlos und fing an zu merken, wie sehr das Sprechen bereits seinen Tribut forderte.
Juna musterte sie leicht bestürzt. „Tut mir Leid, Shyra. Ich kann dir nicht viel mehr mitteilen, aber wir sind an der Sache dran." Sie wandte kurz den Blick ab, als würde sie sich an etwas erinnern müssen, dann breitete sich wieder das einladende Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Aber das sind sowieso Gespräche für einen düstereren Tag, sei dir aber versichert, dass ich alles daran setzen werde dem allen auf den Grund zu gehen."
Die Prinzessin nickte schwer. Leichte Enttäuschung breitete sich in ihr aus und sie ließ die Schultern hängen. Alles zu seiner Zeit, ermahnte sie sich gedanklich und widmete sich vorerst greifbaren Dingen. Sie musste unbedingt mehr in Erfahrung bringen, wenn sie Ionas so bald als möglich Nachricht zukommen lassen wollte.
„Sie tragen da so ein Symbol an ihrem Gürtel", stellte sie dann fest und ihre Augen fielen auf das dicke Stofftuch, welches unter dem Waffengurt um Junas Hüften geschlungen war.
Die Frau blickte verwundert an sich hinunter und als sie fand, worauf Shyra deutete, löste sie das Tuch mit einem fragenden Lächeln von ihrem Gürtel und breitete es vorsichtig über Shyras Schoß aus.
„Du weißt nicht, was das ist?"
Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf, als sie zuerst Juna, dann den kalligraphisch verschlungenen Baum studierte.
„Nun", fing Juna an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es wundert mich ein wenig, zugegeben ... und anderseits auch gar nicht", grinste sie und lehnte sich nach vorne. „Ich hatte geglaubt, dass Aredhel euch wenigstens diese Grundlagen beigebracht hätte."
„Grundlagen?", fragte Shyra tonlos und fuhr sanft über den groben, dunklen Stoff.
„Im Grunde bedeutet dieser Fetzen, dass ich das Oberhaupt der Aposperitis bin, von denen hast du aber schon gehört, richtig?", grinste sie sanft und Shyra nickte. „Und mit Grundlagen meine ich eben genau das: die Grundlagen unserer Welt."
„Sie meinen ... die Zusammensetzung unserer Welt...?"
„Shyra", seufzte Juna leicht belustigt. „Ich meine die Grundlagen, welche zugleich die Gesamtheit unseres Seins ausmacht."
Die Prinzessin schluckte und zog ihre Hände von dem Symbol zurück. „Sie meinen ... den Glauben."
Juna nickte leicht resigniert, wirkte aber um keinen Deut unfreundlicher. „Ich spreche vom Glauben, das ist richtig, aber du wirst feststellen, dass das, was das Hohe Volk als Glauben bezeichnet, vor vielen tausend Jahren einfaches Wissen war."
Shyra schluckte, wagte aber nicht zu widersprechen. Viel wusste sie nicht von der Alten Welt und bei allem was ihr Recht war, sie konnte nicht sagen, ob sie das herausfinden wollte. Aber bist du nicht aus genau dem Grund hier? Zu verstehen, was Mutter getan hat um... Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Gegenüber und musste dennoch sehr skeptisch ausgesehen haben, denn Juna lachte.
„Hör zu, Shyra. Ganz gleich, was wir hier vertreten und – ja – glauben, du wirst hier zu nichts gezwungen. Dein Kommen ist an kein Bleiben gebunden ... obwohl ich dir abraten würde sofort wieder aus dem Bett zu springen!"
Shyra musste nun auch lächeln und das ungute Gefühl begann sich langsam zu verziehen.
„Wie könnte ich auch", meinte sie dann schwach und hüstelte ungesund. „Ich bin euch wirklich dankbar ... und ich habe das Gefühl, ich sollte das wieder wett machen."
„Ganz deine Mutter", lächelte Juna und um ihre Augen bildeten sich Lachfalten, die in Shyra das merkwürdige Gefühl von Geborgenheit hervorriefen. Die letzte Person, die sie mit solch einer Zuneigung und Behutsamkeit belächelt hatte, war Ionas gewesen.
„Aber um dir wenigstens einmal einen Ansatz zu liefern, wenn ich darf, dann würde ich dir gerne erklären, was dieses Zeichen zu bedeuten hat", fuhr Juna nun fort und rückte ein Stück näher an das Bett.
Shyra bemühte sich ihren Argwohn fallen zu lassen. Bei Saíra war es doch das gleiche. Beruhige dich, sei nicht so verkniffen wie Endris, schalt sie sich und biss sich auf die Lippen, um Juna auch auf keinen Fall zu unterbrechen.
„Wir, hier bei den Aposperitis, vertreten den drei-Fundamente-Glauben." Sie strich mit dem Zeigefinger über den Aufdruck des Baumes, fuhr die Wurzeln behutsam entlang. „Die Wurzeln des Baumes stellen die vier Elemente unserer Welt dar. Feuer, Erde, Wasser und Luft. Die Baumkrone im Gegensatz dazu, wird durch den Äther definiert", sie unterstrich ihre Worte, indem sie die stilisierten Blätter einzeln berührte und dann die Mitte des Stammes hinabfuhr. „Und der Stamm bildet das Leben selbst, also alles, was wir sind und du dort draußen sehen kannst." Juna sah für einen Moment verträumt aus, als sie fortfuhr.
„Die Wurzeln stellen das Fundament dar, ohne sie würde nichts anderes existieren können und der Äther, auf der anderen Seite, erfüllt alles, was zwischen Himmel und Erde liegt mit dem Atem der Welt. Ohne dem Stamm würde die Krone auf die Erde stürzen, ohne die Wurzeln würden Stamm und Krone welken und ohne Krone würde weder Stamm noch Wurzeln über die Energie zum Leben verfügen. Du siehst also, all das ist ein fragiles System, abhängig voneinander, in völligem Gleichgewicht und dieses Gleichgewicht zu wahren, ist unsere Aufgabe."
Juna hielt kurz inne und betrachtete das leicht irritierte Gesicht der jungen Prinzessin. „Es ist in Ordnung, wenn du skeptisch bist, auch ist es verständlich, wenn sich dir das ganze Bild noch nicht erschließt, lass dir nur gesagt sein, dass diese rudimentären Informationen nichts mit Glauben zu tun haben, sondern mit Wissenschaft."
Shyra blickte von dem Symbol auf in das Gesicht der Älteren. „Wissenschaft?"
In Junas Augen blitzte der Schalk. „Nichts anderes tun wir hier. Forschen."
Shyra wich ein wenig von ihrer Gesprächspartnerin zurück. In ihren Augen lag ein Funkeln, das sie an Aredhel erinnerte, bei weitem nicht so ekstatisch, aber dennoch ausreichend, um der Prinzessin einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sie kannte diese Juna doch gar nicht. „Das müssen aber sehr heftige Forschungen sein", meinte sie leise.
Junas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. „Bitte verzeih! Ich wollte dir damit nicht auf die Füße treten, lass uns ein ander Mal darüber sprechen, was meinst du?"
Das Mädchen nickte zögerlich und versuchte die wiederaufsteigende Trauer zu verdrängen und auf den ihr zweit dringlichsten Punkt zu kommen. „Was ist mit Samiro? Ist er ...?"
Juna winkte lachend ab. „Mach dir um ihn keine Sorgen! Er litt nur ein wenig unter Schlafmangel, der Bursche war nach einer langen Nacht schon wieder auf den Beinen."
Shyra glaubte ihr nicht ganz, wollte aber nicht unhöflich sein. Auf sie hatte er nach dem Kampf eindeutig nicht den Eindruck gemacht, als wäre er in Ordnung, aber dass Juna das nicht wusste, oder sagen wollte, machte sie ein wenig unsicher und bestätigte eigentlich die Befürchtung, dass mit Samiro an sich etwas überhaupt nicht stimmte. Der gruselige Anblick seiner Gestalt kam ihr wieder ins Gedächtnis gegeistert und sie schüttelte sich kurz. Allerdings würde sie deshalb lieber mit Samiro selbst, als mit einer ihr komplett Fremden, sprechen und vielleicht war es Samiro an erster Stelle gewesen, der ihr Glauben machen wollte, dass ihm nichts fehlte.
„Was ist mir überhaupt passiert?", fragte sie also und behielt ihre Zweifel für sich. Ihre Hand wanderte automatisch an ihren Brustkorb und strich ihren linken Ellenbogen entlang, befühlte die weichen Bandagen und den immer noch dumpf pochenden Schmerz.
Juna seufzte mit einem Mal schwer und rieb sich die Wangen. „Ich war ehrlich überrascht, dass sie nur so wenige geschickt hatten. Die Salvatori."
Als Shyra sie nur unverständlich anblickte, fuhr Juna fort. „Sie sind ebenfalls eine Gruppierung an Glaubensanhängern."
„Vertreten sie auch den ... drei-Fundamente-Glauben?"
„Ja und nein", meinte Juna gedehnt winkte aber ab. „Sie vertreten den selben Glauben, aber zwischen uns herrscht ein anderswo gelegener Interessenskonflikt, nicht der Rede wert. Jedenfalls befanden sich unter denen, die euch angriffen zwei Mediziner. Üble Leute, sie kennen die menschliche Anatomie in und auswendig. Mit gezielten Schlägen können sie interne Organe schädigen und ganze Nerven außer Kraft setzen oder sogar zerstören. So wie es mit deinen Lungen und Rippen passiert ist."
„Warum heißen diese Leute dann Mediziner?!", fragte Shyra schockiert und hatte bloß an ihre Hofärzte denken müssen, in langen Kitteln und Mundmasken, die ihr bei Erkältungen widerliche Kräutertinkturen und bei Prellungen ebenso übelriechende Pasten verschrieben hatten.
„Nun, ich verstehe, warum dich diese Bezeichnung etwas fehl leitet. Aber an die Definition eines Mediziners kommen sie einfach am besten heran. Selbstverständlich kann man dieses Wissen auch nutzen, um zu helfen ... so wie es mit jeglichen Wissen ist. Wissen ist neutral, so ist auch das Verständnis über den menschlichen Körper. Was deren Anwender allerdings damit anfangen steht auf einer anderen Seite geschrieben", meinte Juna bedrückt und leicht verärgert. „Sei aber unbesorgt. Die Schäden an deinem Körper hatten wir hier mit besagten Heilmeistern rasch wieder kuriert. Ein paar mehr Tage Bettruhe und du bist so gut wie neu. Dennoch solltest du dich etwas schonen. Du hättest sterben können, Shyra."
Das Mädchen schluckte träge und nickte, sich mit einem Mal wieder bewusst, wie grässlich zerschunden sie sich damals auf der Lichtung gefühlt hatte.
„Was ist mit Saíra, Gabriel und Nuah?", fragte sie dann und erinnerte sich, dass sie Gabriels Patrouille völlig verpasst hatten.
Auf diese Frage hin, warf Juna ihre Stirn in tiefe Sorgenfalten.
„Sie sind noch nicht wieder zurück. Was auch immer ihnen widerfahren ist ... nun, Samiro hat bereits alles erläutert", sagte sie dann nun sichtlich verärgert und Shyra wunderte sich wieso. Liegt es daran, worüber Samiro die ganze Zeit über lamentiert hat? Regeln und Missionsziele und vorbildhaftes Verhalten? Konnte Juna tatsächlich hinter all den freundlichen Lachfalten tatsächlich so akribisch auf die Ausführung von diesen Missionen achten?
„Viel können wir im Moment in unserer Position nicht tun, ich habe schon zwei Suchtrupps losgeschickt ... aber lass das nur meine Sorge sein. Was ist, hast du Hunger?"
Shyra blinzelte verblüfft, nickte dann aber.
„Fein. Kannst du alleine gehen, oder soll ich dir eine Krücke bringen?", frage Juna dann, als sie ihren Hocker wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück schob.
„Nein, ich denke, das schaffe ich", murmelte Shyra etwas verlegen und beobachtete Juna, wie sie das Stoffstück wieder an ihren Gürtel band.
„Alles klar. Ich warte vor der Türe, dort auf dem Sessel findest du frische Kleidung, die du vorübergehend anziehen kannst, bis wir – oder du – beschlossen haben, was nun weiter geschehen soll", zwinkerte sie der Prinzessin zu und verschwand dann durch die Türe.
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