☙Kapitel 2 - Idylle❧


Als der Morgen endlich anbrach und Shyra aus dem nun traumlosen Schlaf zog, stellte sie fest, dass Ionas schon längst fort war. Träge blinzelte sie ins Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel und genoss die frühen Stunden eines noch nicht zur Gänze angebrochenen Tages. Bei dem Gedanken an ihren Unterricht seufzte sie schwer. Wenn sie wenigstens gemeinsam mit ihrem Bruder lernen dürfte, dann wäre all das nur halb so langweilig. Aber da Ionas gute zwei Jahre älter war als sie und daher in den Stoffgebieten um einiges weiter, wurden die beiden Königsgeschwister separat unterrichtet.

Ein sanftes Klopfen riss Shyra aus ihren Grübeleien und nur wenig später öffnete sich die Türe zu Ionas Zimmer. Herein trat ihre persönliche Kammerzofe, eine magere, hochgewachsene Frau in strengen Kleidern und fest zurückgekämmten, grauen Haaren. Für Shyra war sie das Sinnbild einer Mutter, denn durch Aredhels langes Fortbleiben hatte sie sich angewöhnt ihrer Kammerzofe aufs Wort zu gehorchen. Alysia war streng doch korrekt und immer um das leibliche als auch seelische Wohl der Prinzessin besorgt, selbst wenn sie dies nicht sehr herzlich zeigte.

„Meine Prinzessin", sprach Alysia und verneigte sich kurz. „Ich wurde unterrichtet, dass Ihr euch erneut bei Eurem Bruder niedergelassen habt."

Shyra biss sich auf die Lippe. Aus ihrem Mund wirkte es wie eine Rüge, derer sich Shyra beugen musste, nicht umgekehrt. „Entschuldigt", murmelte sie daher. Die anderen Bediensteten wären der Prinzessin nie so harsch begegnet, doch für Shyra war dies Alltag, sie kannte es nicht wirklich anders. Außerdem war Alysia für sie zu einer Leitfigur geworden, die Disziplin und Beherrschung an erste Stelle brachte und den abenteuergetrieben Geist der Prinzessin wieder und wieder zurück auf den richtigen Weg lenkte.

Shyra verfiel nicht selten in die skurrilsten Tagträumereien, in denen sie sich viele Geschichten über ihre leibhaftige Mutter ausdachte, genährt nur von dem sporadischen Wissen über dessen, was sie eigentlich nebenberuflich trieb. Das Mädchen wusste nur, dass Aredhel Mitglied einer Gruppe an – wie ihr Vater es einmal ausgedrückt hatte – fanatischer Gläubiger war, die mit frevelhafter Zauberei hantierten. Shyra hatte das alles nie verstanden, nur, dass es böse war und dass ihr Vater dieses Treiben ungemein missbilligte.

Doch für Shyra war dies nichts, worüber sie sich Sorgen machte. Schließlich war Aredhel immer noch Aredhel, das was sie tat, war für die Definition eines Kindes für dessen Mutter unmöglich schlecht zu sein. Zumal Aredhel ihr und Ionas immer wieder abenteuerliche Geschenke mitbrachte, Schmuck und Waffen, welche sofort weggesperrt wurden, aber auch Bilderbücher aus fernen Ländern, die Shyra zwar nicht wirklich verstand, da sie die wenigen, erklärenden Sätze nicht lesen konnte, aber dennoch die Bilder hübsch fand. Über die wenigen Jahre, in denen Shyra von diesen illegalen Aktivitäten ihrer Mutter wusste, hatten sich in ihrem jungen Kopf langsam begonnen immer mehr und mehr atemberaubende Szenarien zu spinnen in denen sie sich ausmalte, ihre Mutter würde an der Seite andere tapferer Krieger gegen das Böse kämpfen. Was genau das war, konnte sie nicht definieren, aber Tatsache war, dass ihr diese Fantasien schon immer die Missgunst ihres Vaters eingebracht hatte. Sie wäre zu sehr wie ihre Mutter und während Shyra das als Kompliment und Lob aufnahm, so machte Endris ihr und ihrem Bruder oft genug klar, dass es das genaue Gegenteil war.

Jetzt allerdings wurden ihre abschweifenden Gedanken rasch wieder auf die richtige Bahn gelenkt, als Alysia ungeduldig die Arme vor der Brust verschränkend mit dem Fuß tappend im Türrahmen stand und darauf wartete, dass die Prinzessin sich auf den Weg machte.

Shyra beeilte sich aus dem Bett zu huschen und folgte ihrer Kammerzofe zurück in ihr eigenes Zimmer, wo sie kurz stehen blieb und das dunkle Erwachen in der Nacht zuvor rekapitulierte. Nie und nimmer habe ich mich so gefürchtet, schüttelte sie den Kopf und hüpfte um Alysia herum zu ihrem großen Wandschrank, in der all ihre Kleider und Schuhe verstaut waren.

Alysia fing an die Prinzessin einzukleiden, suchte nur die teuersten und prunkvollsten Acessoires heraus und rückte zum Schluss noch das Diadem zurecht, nachdem sie Shyras hüftlangen Haare gebändigt hatte.

Und so begann für die Prinzessin ein Tag wie jeder andere. Sie wurde in die große Speisehalle zum Frühstück geführt, tauschte dort Triviales mit ihrem Vater und Ionas aus, hatte den König über ihre Fortschritte im Unterricht zu informieren, ehe man die beiden Geschwister entließ, damit Endris seinem Amt als König nachgehen konnte.

Shyra zögerte das Verlassen des Saals hinaus, da sie keine wirkliche Lust auf Unterricht hatte, indem sie einen Umweg durch die weniger betriebsamen Flure des Schlosses machte.

Sie wusste, dass sie nicht hinaus zum Drachenturm konnte, man würde sie bloß zurück schicken, auch wenn die Aussicht von dort am schönsten war. Sie suchte sich lieber gezielten Schrittes einen Weg durch die unzähligen Gänge hindurch, über kleine Brücken und Türme am Rand des Gebäudes, in den hinteren Teil des Schlosses, vorbei an stillen Räumen und verlassenen Terrassen, bis sie begann die Treppen zu erklimmen und schließlich wieder in den belebteren Trakt des Hofes gelangte.

Hier befand sich Aredhels Wintergarten, ein Prachtstück aus der Laune der Langeweile heraus entstanden, in welchem die Königin vor etlichen Jahren begonnen hatte alle möglichen Blumen, Sträucher und Bäume aus aller Welt zusammen zu tragen und in dem geschützten Klima eines geschlossenen Glashauses aufzuzüchten. Sie hatte den Forscherdrang ihrer Mutter schon immer geliebt, vor allem wie sich ihr Gesicht aufgehellt hatte – ganz egal was für einen Zwist sie davor mit Endris gehabt hatte – wenn Aredhel sich in die Ruhe des Wintergartens zurückzog und ihre jüngste Tochter dabei auf dem Arm trug, waren ihre tristen Launen wie weggeblasen.

Shyra dachte auch jetzt daran, wie sie vor allem früher, bevor der garstige Unterricht angefangen hatte, immer wieder auch ganztags mit ihrer Mutter durch die beinahe schon verwunschen aussehenden Korridore unter dem Dach aus Blättern und Stauden gewandert war. Wie ihre Mutter ihr mit leuchtenden Augen die wissenschaftlichen Namen versucht hatte beizubringen – sowohl von Pflanzen, als auch dem Getier, welches hier durch die Erde kroch – aber Shyra hatte sich nie wirklich dafür interessiert. Sie mochte zwar die Schmetterlinge und Blüten, aber für garstige Ranken und krabbelnde Spinnen hatte sie mehr Abscheu als Faszination empfunden, woraufhin Aredhel nur gelacht hatte.

Aber wenigstens hatte die junge Prinzessin so schon relativ früh mitbekommen, dass es anscheinend in fernen Ländern begann Probleme mit der Flora und Fauna zu geben und Aredhel viele der hier vertretenen Pflanzengattungen nur deswegen angepflanzt hatte, weil sie meinte, dass es sie in ihren Heimatländern bald nicht mehr geben würde. Dass die Wurzeln der Bäume nicht mehr tief genug reichten, um an Wasser zu kommen und dass vor allem die Südländer in Saar'Akand immer öfter mit Dürreperioden zu kämpfen hatten, obwohl es dort nicht seltener zu regnen schien, als in Mondrodij. Und hier waren die schroffen Hügel und felsigen Küsten trotz allem voll üppigem Grün und blühender Wälder.

Shyra erkannte dies selbst jetzt, als sie die letzten tief hängenden Blätter eines Baumes zur Seite schob und an den Rand des Wintergartens trat. Der Weg, den sie gekommen war, war selbstverständlich ein befestigter gewesen, nur das letzte Stück bis an die gläserne Wand des Gartens war die Prinzessin durch ungestutztes Terrain gestiefelt und obwohl es nur ein paar Schritte gewesen waren, fühlte sie jetzt schon die kühle Feuchte der Erde im Unterholz, wie sie begann in ihre Samtschuhe zu dringen.

Das ungute Gefühl fürs erste ignorierend, blickte Shyra aus dem Fenster und ihr Blick fiel auf das vertraute Reich unter ihr. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein Land mit weniger Wäldern und Flüssen auskommen sollte, als Mondrodij und doch hatte sie in Aredhels Bilderbüchern selbst schon Beweise für diese vegetationslosen Länder gesehen. Oder spärlicher bewaldeter Regionen, denn eine totale Wüste war selbst Aredhel noch nie unter gekommen, hatte sie zumindest damals behauptet.

Shyra seufzte nun, als sie erneut das Meer erblickte und der schroffen Felsküste entlang nach Westen folgte. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie in weiter, weiter Ferne die hoch aufragenden Klippen erkennen, welche das Ende des Festlandes und somit ihrem Königreich kennzeichnete. Dort war sie noch nie selbst gewesen, aber sie stellte sich die fernen Häfen umso beeindruckender vor und wünschte sich schon seit Aredhels Erzählungen von ihren früheren, weit in der Vergangenheit liegenden Seefahrten, selbst einmal in See zu stechen. Dass sie dafür vermutlich einen zu schwachen Geist und Magen hatte, ignorierte sie in ihren Tagträumen geflissentlich.

Fürs erste musste sie mit dem ihr zugänglichen Strand in Portija haushalten, eine Stadt, die von hier oben näher aussah, als sie in Wirklichkeit war, aber dennoch bloß wenige Wegstunden vom Schloss entfernt lag und nicht selten zu einem Freizeitziel der Königin und ihren Kindern wurde. Genauso gerne, wie Aredhel Ionas und Shyra zum Strand brachte, besuchte sie einen engen Freund der Königsfamilie ein wenig weiter im Süden auf dem Anwesen der Bahrons, einem extravaganten Fürsten – fand Shyra – den sie selber noch nicht oft gesehen hatte, aber die raren Besuche auf seiner Sommerresidenz dennoch genoss. Er versäumte es nie ihnen exotische Süßigkeiten anzubieten und die beiden Königsgeschwister im, dem Süden nachempfundenen, Garten spielen zu lassen, wann immer die Erwachsenen über Erwachsenendinge reden mussten.

Und dann hatte Fürst Bahron und seine Frau eine Tochter bekommen und die Besuche hatten beinahe abrupt aufgehört. Shyra hatte seine Tochter auch noch nie gesehen und bis heute verblieb sie als eine Geschichte, die laut Aredhel entzückend und laut Endris abartig war.

„Eure königliche Hoheit!", rissen sie mit einem Mal schrille Rufe aus den Gedanken und die Prinzessin blinzelte irritiert mit den Lidern. Sie hatte sich mit den Handflächen an das warme Glas gelehnt und war so nahe an die Wand getreten, dass es aussah, als würde sie schweben. Ihr Magen machte einen Satz, der ihr das Adrenalin durch den Körper schickte, aber gleichzeitig auch einen aufregenden Nervenkitzel bescherte.

„Shyra!", ertönte die Stimme ihrer persönlichen Kammerzofe nun erneut und schon ein wenig näher. Wenn die Prinzessin näher hinhörte, konnte sie das aufgeregte Stapfen und Rascheln hören, als Alysia durch den Wintergarten trippelte, um ihre entlaufenen Aufgabe wieder zu finden.

„Prinzessin, Euer Politikprofessor wartet nicht ewig!", drang es schrill durch den friedvollen Garten und Shyra seufzte.

Sie wollte noch nicht wieder in den Unterricht, aber ihre Kammerzofe warten zu lassen, schickte sich auch nicht, also beschloss sie, Alysia entgegen zu kommen, aber nicht ohne vorher noch eine der unzähligen Mohnblüten zu pflücken und sich summend ins Haar zu stecken.

Als sie Alysia schlussendlich vor die Füße sprang, zuckte diese mit einem Aufschrei zusammen und fasste sich ans Herz.

„Prinzessin, Ihr könnt nicht einfach durch dieses Urwald hier laufen!", schalt sie das junge Mädchen aber Shyra zuckte nur beschämt mit den Schultern.

„Weißt du, ich sehe mir nur gerne die Blumen an, damit ich Mutter beeindrucken kann, wenn sie wieder kommt", sagte sie mit einem reizenden Lidaufschlag und schlug dann die Augen nieder. Sie wusste, dass Alysia ihr niemals lange böse sein konnte, auch wenn ihre Mine immer säuerlich blieb.

„Also schön, aber treibt Euch nicht einfach ohne ein Wort zu sagen hier herum! Wenn Ihr euch verirrt!"

Shyra nickte, obwohl sie Alysia gerne gesagt hätte, dass sie sich sicher nicht verlaufen würde, beließ es aber dabei, da sie ihre Kammerzofe nicht zusätzlich noch verärgern wollte.

Durch unzählige Lehrstunden hindurch begann Shyra den Traum langsam zu vergessen und obwohl sie nach dem Aufwachen davon überzeugt gewesen war, dass ihr die beunruhigenden Bilder keine Furcht mehr einflößten, ertappte sie sich zu Mittag doch dabei, wie erleichtert sie war, dass nichts auf dieses verräterisch ungute Gefühl in der Nacht hindeutete. Die Kammerdiener und Zofen gingen ihren Tätigkeiten wie zuvor auch nach und Alysia wies sie auch wie sonst immer zurecht. Sie sollte aufrechter sitzen, nicht mit dem Essen spielen und sich auf ihre Konversationspartner – in diesem Fall Alysia selbst – konzentrieren und nicht so respektlos sein. Shyra gehorchte zu Alysias Erstaunen erfreut auf ihre Abmahnungen und machte sich nach dem Mittagessen wieder auf den Weg in den Unterricht. Ihren Vater und Bruder sah sie erst wieder zum Abendessen.

So verging die gesamte restliche Woche, der Unterricht nur gelegentlich aufgelockert durch Shyras Zusammensein mit Ionas in den warmen Abendstunden auf dem Balkon angrenzend zu den Wohnhallen, die um diese Stunden allerdings noch recht gut besucht waren und nichts an die stille Unruhe jener Nacht erinnerte.

Zwischen den Stunden von Mittagessen und Nachmittagsunterricht fand die junge Prinzessin ab und an Zeit hoch auf den Drachenturm zu steigen, um sich dort mit den wundersamsten Geschöpfen ihrer Lande zu umgeben, den Purpurdrachen mit ihren weichen, fast samtgleichen Schuppen und den warmen winzigen Schnauzen, mit denen sie sich in Shyras Arme kuschelten, bis sie einen wichtigen Brief zu überbringen hatten. Die Prinzessin fühlte sich immer erholt und ausgeglichener nachdem sie ein wenig Zeit für diese Boten erübrigen konnte und versprach sich die nächsten langweiligen Stunden bis zum Abend auch zu überstehen. Was ihr Vater über den ganzen Tag tat, wusste sie nicht. Ionas vermutlich, denn er hatte neben seinem Allgemeinunterricht ebenso Lektionen an der Seite ihres Vaters, um ihn, als älteren und somit legitimen Thronerben, auf seine baldigen Pflichten hin vorzubereiten.

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