☙Kapitel 16 - Verschollen❧
Auch der darauffolgende Tag an dem sie zu zweit durch den Wald liefen, neigte sich seinem Ende zu und nach nur einer kurzen Rast um etwas zu Trinken und einen Happen zu essen – trockenes Brot und alter Käse – machten sie schließlich in der trüben Dämmerung des Abends Halt.
Das erste Mal, als sie sich von den anderen getrennt hatten, standen sie am Rande einer etwas größeren Lichtung, die wie ein merkwürdiges Auge aus dem sonst so düsteren Wald herausstach, der aber im Laufe des Tages immer mehr dem seltsam verfallenen Wald zu ähneln begann, durch den sie ganz am Anfang ihrer Reise gekommen waren.
Obwohl die Sonne hier durchaus ein gutes Stück Boden beschien, wuchs kaum Vegetation aus dem knorrigen Wald ins freie Gelände und bis auf ein paar verkrüppelte Wurzeln bot die kleine Lichtung genügend Platz, um sich zur Abwechslung einmal vernünftig für die Nacht hinzulegen, was Shyra aber nur geringfügig erleichterte.
Sie hatte erneut dieses merkwürdige Gefühl der Verfolgung, als wären sie nicht mehr alleine und die Baumkronen durchsetzt von neugierigen Augen, milchig und hohl, wie die eines Skelettes. Außerdem war das Unterholz zwar noch immer allgegenwärtig, sah aber genauso verwüstet aus, wie sie es bereits einige Male gesehen hatte und der Hinweis ihrer Mutter kam ihr wieder in den Sinn. Ihre Lebensessenz verkümmert so schnell wie noch nie. Und zum wiederholten Male fragte sich das junge Mädchen, was es damit auf sich hatte und warum es ihr so sehr ins Auge stach.
„Sind wir ... sind wir da?", flüsterte Shyra allerdings nur keuchend und stemmte sich die Hände in die schmerzenden Seiten.
Samiro ließ nur ein undeutliches Murmeln hören und trat aus dem Schutz der Bäume zwischen den Wurzeln hinaus auf die Lichtung. Der junge Mann blickte sich schweigend um, drehte sich einmal im Kreis und hielt immer wieder den Kopf still, als würde er Lauschen. Shyra wagte es nicht, etwas zu sagen, und ihn zu unterbrechen, das Herz schlug ihr ohnehin schon wieder bis zum Hals und die Luft brauchte sie zum Atmen.
Gabriel war nirgends zu sehen und das Mädchen richtete ihre Augen ebenfalls zuerst auf die nähere Umgebung und dann nach oben zu den fernen, sich sanft im Wind wiegenden Baumwipfeln.
„Samiro ... sollten wir hier auf Gabriel treffen?", fragte sie verunsichert und trat näher an den jungen Mann heran.
Er ignorierte sie zuerst, ehe er kurz Luft holte, die Augenbrauen zusammenzog und nickte. „Ja."
„Vielleicht haben wir ihn aus Versehen überholt und er hat uns auch nicht bemerkt", schlug das Mädchen vor und versuchte zu erkennen, wie Samiro darauf reagierte.
„Unmöglich", meinte er schlicht. „Dass du ihn nicht bemerkt hättest ist mir klar, schließlich gleichen deine Sinne denen eines Grottenolms. Auf mich kannst du allerdings immer zählen", zwinkerte er ihr zu, wurde aber sofort wieder ernst, als er merkte, dass Shyra nicht darauf einging.
„Woher willst du überhaupt wissen, dass es gerade diese Lichtung war, auf der wir ihn hätten treffen sollen?", fragte sie stattdessen unruhig.
Samiro hatte die Arme verschränkt und mit den Fingern gegen seinen Oberarm getrommelt, als er sich genervt zu dem Mädchen umwandte und anschließend mit dem Kinn auf einen in der Nähe befindlichen Stamm deutete. „Zufrieden?"
„Nein, ich bin nicht zufrieden", herrschte die Prinzessin ein wenig gereizt. „Ich sehe bloß einen Baum, der aussieht wie jeder andere hier."
Jetzt schnalzte Samiro mit der Zunge und trat an den Baum heran, ließ sich auf seine Fersen sinken und zu ihr aufblickend meinte er dann: „Grottenolm passt tatsächlich sehr gut auf dich, denn auch die sind ziemlich blind."
Dann fuhr er mit Zeige- und Mittelfinger einige in die rissige Rinde gekerbten Schnitte nach, die ein simples Symbol zu bilden schienen.
„Sieh mal hier", war alles was er dazu erklärte und das Mädchen nickte nur. Sie wollte nicht schon wieder eine Frage stellen und mit einem herablassenden Lächeln bedacht werden. Die Müdigkeit machte sie nicht gerade gesprächiger.
„Oh. Okay. Von Gabriel, nehme ich an?"
Samiro stand wieder auf und streckte sich. „So ähnlich. Es markiert bloß unseren Treffpunkt. Erklären, warum Gabriel nicht gewartet hat, tut es das aber auch nicht."
Shyra schluckte. Sie wollte immer noch nicht glauben, dass Gabriel verschwunden sein sollte. Das machte doch alles keinen Sinn, doch es blieb auch weiterhin gespenstisch ruhig um sie herum und mit einem Mal fühlte sich das Mädchen wieder bedroht und ängstlich.
Nach einer Weile des Grübelns, richtete Samiro wieder das Wort an sie. „Also schön. Ich geb zu, ich weiß nicht, warum sie allesamt meine Anweisungen ignoriert haben. Trotzdem sollte uns das nicht aufhalten. Gerade deswegen sollten wir uns nicht aufhalten, denn ich fürchte, wir werden verfolgt."
Shyra blickte erschrocken auf und bedachte zuerst ihre Umgebung und dann Samiro mit einem weitäugigen Blick. „Sind es wieder diese Nachtschatten?", fragte sie mit einem Schauer, der ihr über den Rücken kroch. Also hatte ihr Bauchgefühl wieder Recht gehabt und diese widerlichen Schattenbiester waren tatsächlich wieder in der Nähe.
Der Junge hob die Schultern und ließ sie nach einigen Augenblicken der Stille wieder fallen. „Gut möglich. Aber nicht nur."
„W-wie meinst du das?", stammelte Shyra und trat sich paranoid umblickend näher an Samiro heran.
„Komm schon", entgegnete er schlicht. „Wir sollten hier nicht bleiben."
„Aber was, wenn Gabriel doch noch auftaucht?"
Samiro holte leicht genervt Luft. Wann würde sie endlich verstehen, dass sie sich hier auf nichts verlassen konnten? Wenn Gabriel auf Abwege gelangt war, dann hatte das seinen Grund, den er, als Abgeschnittener von der Gruppe, ganz gewiss nicht in Erfahrung bringen würde. Und auch, wenn ihn das ärgerte, hatte er es zu akzeptieren.
„Selbst wenn, ist es zu gefährlich an einem bekannten Ort zu bleiben, wir werden ein Stück weiter in den Wald gehen."
„Aber", fing sie schon wieder an und er warf ihr einen angespannten Blick zu. „Aber ich kann nicht mehr", hörte er sie dann flüstern.
„Du weißt, ich mache hier die Scherze, Prinzessin. Also hopp!"
Aber Shyra schüttelte nur den Kopf, den Tränen nahe. Ihr gesamter Körper schmerzte, dass sie nicht einmal Worte fand, es richtig zu beschreiben.
„Es ist zu gefährlich ausgerechnet jetzt hier zu Rasten", warnte er sie schroff. „Das, was uns vermutlich schon auf den Fersen ist, ist nämlich ganz im Gegensatz zu den Nachtschatten sehr wohl hinter deinem Rang und Namen her, musst du wissen."
Shyra aber antwortete nichts, sondern blickte ihn einfach müde an.
„Von mir aus", seufzte der junge Mann dann verärgert und packte sie an der Schulter. „Aber wir gehen trotzdem ein Stück zurück in den Wald und wehe du jammerst."
Shyra starrte ihn erschrocken an, als er sie unverblümt zurück in den düsteren Wald zerrte und ihr blieb nicht einmal Zeit darüber nachzudenken, dass sie eigentlich lieber nicht wieder in dieses gespenstische Zwielicht eingetaucht wäre.
Samiro hatte ihr eine Decke gereicht, die sie unter sich auf dem Boden zwischen den hohen Wurzeln ausbreitete und setzte sich neben sie in die anbrechende Dunkelheit. Schweigend teilten sie sich den rationierten Proviant, ehe Shyra im Flüsterton anfing zu sprechen. „Wann habt ihr die ganzen Markierungen hinterlassen?"
„Auf dem Weg zu dir und deinem Bruder", murmelte der Junge neutral und rückte sich an seinen Rucksack gelehnt zurecht.
„Und warum habt ihr euch dann überhaupt erst getrennt?", bohrte Shyra nach, der sich nicht erschließen wollte, warum es nötig gewesen war das erste Stück ihrer Reise alleine zurückzulegen.
„Weil in dem Brief von einer Begleitperson stand", antwortete Samiro schlicht und blickte zu ihr hinunter.
„Aber was für einen Unterschied macht es denn, wenn die anderen dann ohnehin zu uns gestoßen sind?", flüsterte sie irritiert.
„Du klingt nicht gerade glücklich darüber", grinste Samiro selbstgefällig.
Das Mädchen kniff die Lippen zusammen und wünschte sich, sie könnte ein wenig von ihm abrücken, was zwischen den Wurzeln allerdings nicht ging. Also hob sie die Schultern und versuchte zu ignorieren, dass sie damit die seinen berührte. „Hör bloß auf. Warum wirklich?"
Das Lächeln fiel von seinem Gesicht. „Weil alleine zu kommen ein korrekter Befehl war. Und ich meine Karten gerne verdeckt halte."
Shyra stockte. „Es geht dir bei all dem hier", sie warf ihren Arm in die Luft, „nur um eine Mission? Dass diese korrekt ausgeführt wird?"
Der Junge starrte sie ausdruckslos an. „Ich erwarte nicht, dass du das verstehst."
„Das werde ich auch nie", schoss sie zurück und wandte sich beleidigt ab. Wie konnte jemand nur so versessen auf Erfolg sein?
Daraufhin war ihr kurzes Gespräch ohnehin beendet und Shyra versuchte ein wenig zu ruhen.
☬
Ihr kam es vor, als hätte sie nur kurz die Lider geschlossen, als Samiro sie anstieß und sie in einen dämmrigen Morgen blinzelte. Er war bereits aufgestanden und klopfte sich die Hose sauber. Shyra rutschte auf ihre Knie und spürte, wie ihre Wirbelsäule und ihr Brustkorb, als sie sich streckte, ungesund knackte. Sie blickte zu Samiro auf, der sie beobachtete. „Ja nun", meinte sie verlegen und stand, sich an den Wurzeln stützend, auf. Ein großer Fehler. Verspannungen jagten ihr heftige Schmerzen durch den ganzen Körper, aber bis auf dass sie das Gesicht verzog, wagte sie nicht sich zu beschweren.
„Beeil dich", war alles, was Samiro sagte und schweigend machten sie sich wieder auf den Weg.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top