☙Kapitel 15 - Wanderträume❧
Die erste Abenddämmerung, seit Shyra und Samiro alleine durch den Wald gewandert waren, senkte sich bereits nieder und das eng zusammengezogene Laubdach verfrühten das Hereinbrechen des Zwielichts am Abend. Schon seit einigen Stunden war auch das meiste Getier verstummt, so tief im Wald, wo weder Licht noch Platz war, nahm der Tierbestand rapide ab und ließ nur noch den gut angepassten Lebewesen genug Raum.
Shyra war noch nie in so einem Wald gewesen. Flechten und Moose bedeckten beinahe jeden Bereich, das Unterholz war hauptsächlich dominiert von sich garstig windenden Dornenranken, in denen sich Shyra nicht selten verfing und die ihr die Haut auf den Unterarmen zerkratzte. Dichte Farnsträucher drückten sich in jede erdenkliche Mulde und wurden nur abgelöst von mannsgroßen Brennesselstauden, die ihr beißende Nadeln in die Haut stachen, wann immer sie unvorsichtig war, was im Grunde andauernd war. Sie musste die Schmerzenstränen zurück beißen, die ihr das garstige Gift in die Augen trieb und bei jeder neuen Berührung lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Solche unwirtlichen Pflanzen hatte Aredhel nie in ihrem Wintergarten gehabt, vermutlich weil sie hier ohnehin wucherten wie Sand am Meer und nicht des königlichen Schutzes bedurften.
Samiro tat sein bestes vor allem diese Passagen erträglicher zu gestalten, indem er die Nesseln mit einem seiner Schwerter umhackte, aber Shyra stolperte auch so oft genug über die am Waldgrund liegenden Äste und Wurzeln und nicht selten, fing sie der Junge mit einem festen Griff um den Oberarm auf.
Sie mussten oft über umgestürzte Stämme und mächtige Wurzeln klettern, die Luft war trotz Spätsommers feucht und Shyra vermutete, dass sie nicht unweit eines Sumpfgebietes entlang liefen. In alle Richtungen sah es gleich aus und Shyra fürchtete, dass sie sich jetzt, da sie nicht einmal mehr den Mond sehen konnte, verlaufen würde. Sie hielt krampfartig an ihrem Kompass fest und Samiro warf ihr ab und zu fragende Blicke zu, sprach selber aber wenig. Er kennt den Weg, dachte Shyra bei sich und versuchte ihre Furcht zu bändigen. Wir können uns gar nicht verlaufen, Samiro kennt den Weg.
Als sie an einen besonders knorrigen Stamm gelangten, dessen Wurzeln Kluften wie Kuhlen aus dem Boden wachsend bildeten, hob Samiro die zur Faust geballte Hand und deutete ihr damit still zu sein und stehen zu bleiben. Diese Handzeichen hatte er ihr während des Vormittags eingeschärft und nur zwei Mal wiederholt, weswegen sich Shyra nicht bei allen sicher war, was sie denn nun wirklich bedeuteten. Dieses eine aber hatte sie sich gemerkt und sofort verharrte sie mit angehaltenem Atem – was ihr aufgrund der Anstrengung enorm schwer fiel – hinter Samiro und wartete angespannt auf eine Entwarnung. Sie selber konnte nicht einmal so weit sehen wie sie groß war, die Ranken und tief hängenden Äste machten es ihr unmöglich sich weitläufig umzusehen.
Doch der Junge senkte nur den Arm und richtete sich auf, während er seinen Rucksack zu Boden gleiten ließ.
„Wir bauen ein Zelt auf", meinte er schlicht mit gedämpfter Stimme. Im Gegensatz zu Shyra hatte er Saíra sein Gepäck nicht überlassen und holte nun ein festes Bündel hervor.
„Ein Lager und Feuer?", fragte Shyra schwer atmend und lehnte sich gegen die dunkle Wurzel.
Samiro schüttelte den Kopf. „Nur ein Lager." Er breitete die Decke aus und fing an sie an den eingewobenen Ringen über die Wurzeln zu spannen. Shyra beobachtet ihn dabei unbehaglich.
„Nach einem Zelt sieht das allerdings wenig aus." Jemand sollte unbedingt mit ihm über die Definition gewisser Ausdrücke sprechen.
Samiro blickte von seiner Arbeit auf und warf ihr einen herablassenden Blick durch seine Wimpern hindurch zu, während er die Brauen hochzog.
„Bist du sicher, dass Wortklauberei die richtige Einstellung ist, wenn dein Leben auf dem Spiel steht?", fragte er daher bloß und Shyra verzog verärgert den Mund.
Als er fertig war stemmte er die Hände in die Hüften und begutachtete sein Werk.
„Müssen wir dann auch ... du weißt schon", fing Shyra dann unbehaglich an und betrachtete die schmale Schlafgelegenheit, während sie zwischen sich und Samiro hin und her deutete. „Du weißt schon."
Samiro starrte sie einige Augenblicke lang an, bevor sich sein Mund zu einem selbstgefälligen Grinsen verzogen. „Oh. Du meinst gemeinsam schlafen?"
Shyra verzog das Gesicht und wandte sich mit heißen Ohren ab.
„Hm, tut mir Leid, aber ich fürchte du wirst bisweilen noch ohne meine Wärme im Bett auskommen müssen, irgendjemand muss auf die kleine Prinzessin aufpassen", grinste er süffisant und verschränkte die Arme vor der Brust.
„So hatte ich das überhaupt nicht gemeint", fauchte Shyra errötend und schlug angewidert nach einer Stechmücke, die ihr um den Kopf schwirrte.
„Sicher", meinte Samiro gönnerhaft und lehnte sich neben sie an die Wurzel, während er ihr gleichzeitig mit dem Kinn deutete, in den Unterschlupf zu kriechen.
Shyra wich fast automatisch erschrocken vor seiner plötzlichen Nähe zurück und starrte ihn an.
Samiro rollte mit den Augen und seufzte. „Du. Zelt. Ich. Wache."
„Ich bin nicht beschränkt!", schnappte sie und ließ sich unter seinem observierenden Blick an den Rand des Unterschlupfs nieder. Ihr jagte erneut ein Schauer über den Rücken, als sie sich in das knisternde Unterholz kniete und mehrere Insekten davon krabbeln sah. Angewidert schloss sie die Augen und versuchte sich zu sammeln, ehe sie ihren Umhang auf dem widerlichen, vermoderten Überresten der Natur ausbreitete und hinein schlüpfte.
Mittlerweile konnte sie kaum mehr die Hand vor Augen sehen und war froh darüber, denn so musste sie den Anblick ihrer Umgebung nicht länger ertragen. Nach einer Weile, in der sie in die nächtliche Stille gelauscht hatte, richtete sie sich noch einmal auf und versuchte durch die Dunkelheit hindurch Samiro zu erkennen. Als sie ihren Kopf aus dem Unterschlupf streckte, konnte sie knapp neben dem Eingang einen Schemen ausmachen und als sie in die Nacht flüsterte, rührte sich dieser. Es war Samiro und Shyra war insgeheim froh, dass er so dicht über ihr wachte.
„Samiro, warum haben wir uns wirklich getrennt?", wisperte sie.
Der Junge brauchte einen Moment, um ihr zu antworten, aber als er es tat, war seine Stimme ruhig. „Wie bereits erwähnt gab es eine kleine Planänderung aufgrund der Details, die Gabriel mir mitgeteilt hatte. Wir werden uns etappenweise wieder mit ihm treffen, während der Rest vorläuft und den heimkommenden Helden ankündigt."
Shyra verzog verärgert das Gesicht. Held, sicher. „Und warum begleitet uns Gabriel dann nicht gleich, wenn wir ihn ohnehin bald wieder treffen werden?"
„Weil er die Vorhut bildet. Das sind Leute, die vorlaufen und checken ob der der Weg frei und ohne Gefahren ist."
Shyra knirschte mit den Zähnen. „Ja, danke, ich weiß, was eine Vorhut ist", schnauzte sie nun doch etwas verstimmt und zog sich in ihr Zelt zurück.
Den wahren Grund für seine Vorsicht wollte Samiro der Prinzessin nicht sagen. Sie würden keineswegs alleine bleiben. Die Salvatori hatten gewiss von dieser Reise Wind bekommen und Samiro war bei ihnen nicht gerade beliebt. Genauso wenig, wie es Aredhel gewesen war. Und dass sie die Prinzessin praktisch – im Gegensatz zu Samiros versichernder Worte – entführt hatten, würde nicht lange unbemerkt bleiben.
Es war fürchterlich riskant mit ihr so offen durch den Wald zu reisen, aber anders nicht möglich. Gabriel hatte außerdem auf ihrem Hinweg verdächtige Hinweise gefunden, die Samiro nur darin bestärkt hatten, dass die Salvatori bereits auf ihrer Fährte waren und Samiro wusste aus Erfahrung, dass sie ihre Ziele mit genauso viel Hingabe verfolgten, wie er selbst.
Aus dem Grund hatte Samiro auch seine restlichen Kameraden mitgenommen, obwohl das nicht die Vorgaben waren. Sie mussten im Notfall die Feinde weglocken oder ausschalten, damit er Shyra sicher zu ihrem Quartier bringen konnte. Nur für einen kurzen Moment flammte in ihm der Gedanke auf, Junas Entscheidung anzuzweifeln. Warum sie ihn damit betraut hatte, war ihm nicht ganz klar, auch wenn er Genugtuung empfand, als er daran dachte, dass Leander sich damals freiwillig gemeldet hatte, die Prinzessin zu ihrem Stützpunkt zu bringen. Er war sogar so weit gegangen einen Streit mit Juna vom Zaun zu brechen, was in Leanders Fall mehr bedeutete, dass er ihr stellvertretendes Zirkeloberhaupt mit diesem Habichtblick niedergestarrt hatte, bis Juna geseufzt und ihn weggeschickt hatte. Nach allem war er ihr immer noch untergeordnet und konnte nur so viel gegen ihre Entscheidungen ausrichten.
Die Gründe dürften dir doch ebenso klar sein wie mir, hörte er seine Gedanken mit einem Mal laut und klar und der junge Mann fuhr kaum merklich zusammen. Wie in eiskaltes Wasser gestoßen fokussierten sich seine Sinne wieder dermaßen geschärft auf seine Umgebung, dass er sogar Shyras regelmäßigen Atem vernahm. Ah ... ja. Dafür haben wir später noch Zeit.
☬
Die ganze Nacht verging, ohne, dass Samiro sie weckte um abgelöst zu werden. Aber es gelang Shyra auch so, aufzuwachen. Dann brauchte sie einen Moment, um zu begreifen wo sie war, wo Samiro war, ehe sie wieder in einen unruhigen Schlaf versank.
Sie träumte wieder. Von einem düsteren Wald, wie sie gerade einen durchquerten, doch dieses Bild blitzte nur schemenhaft auf, als ihr Traum von einem heftigen Sog durchbrochen wurde. Von Kälte und dem entkräftenden Gefühl der Zeit. Ihr Atem verlangsamte sich, ging klebrig und ächzend, als ihre Lungen versagten und sie die tonlose Endgültigkeit des Todes auf der Zunge schmeckte. Vergeblich versuchte sich das Mädchen an ihr Leben zu klammern, spürte ihre eigenen Finger, wie sie sich in die spitzen Tannennadeln bohrten und als sie ihre vor Schmerz zusammengekniffenen Augen öffnete, sah sie nur ein orangenes Licht, das sie zu verschlingen schien. Eine unnatürliche Kälte machte sich in ihrem Brustkorb breit, wie damals bei den Nachtschatten und die Angst war so real, dass sie heftig zusammenzuckte, als sie jemand an der Schulter packte.
„Aufwachen, Prinzessin."
Shyra blinzelte in das Zwielicht und fand sich dichter an Samiro gedrückt, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sein Gesicht war nur wenige Handbreit von ihrem entfernt und sein Körper berührte ihre gesamte Längsseite, als er sich zu ihr ins Zelt geschoben hatte, um sie zu wecken.
„Du – argh!" Shyra unterdrückte einen erschrockenen Schrei und wälzte sich unelegant von ihm fort, stieß aber gegen die Wurzeln.
Samiro lachte. „Du wolltest einfach nicht aufwachen", grinste er und musterte sie dann nachdenklich. „Als hättest du dich im Schlaf festgesaugt wie eine Zecke."
Shyra starrte ihn schwer atmend an. „An meinem Leben", murmelte sie immer noch ein wenig der Realität entrückt und spürte mit Erleichterung, dass sich ihre Lungen ganz normal wie sonst auch mit Luft füllen ließen.
Kurz noch ruhten seine leicht zusammengekniffenen Augen auf ihr, dann zog er sich zurück. „Überhaupt nicht merkwürdig. Aufstehen."
Shyra atmete tief ein und aus. Er hatte scharf gerochen, als hätte er Minze gekaut und aus irgendeinem beunruhigenden Grund erinnerte sie der Geruch an den Traum, den sie eben noch geträumt hatte.
Sie machten sich wieder auf den Weg. Samiro sagte nichts mehr und suchte nur den einfachsten Weg durch das dornige und unebene Unterholz, das jegliches Vorankommen zu einer Qual machte. Während Shyra hinter Samiro herlief und in seine Fußstapfen trat, klebten ihre Augen abwechselnd auf dem unsichtbaren Weg, seinen Fersen, Beinen und ... Immer wieder musste sie sich zwingen woanders hinzublicken, was aber nur kurz half. So fand sie auch schnell heraus, dass Samiros Körper durchaus in der Lage gewesen wäre querfeldein in einem Tempo durch den Wald zu laufen, bei dem sie mit Sicherheit nach wenigen hundert Metern kollabiert wäre. Er war ein Hindernisläufer, das sah man ihm an und Shyra schämte sich dafür, dass er ihretwegen Umwege machen und nahezu ein Schneckentempo anschlagen musste. Wäre sie doch nur besser in Form!
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