☙Kapitel 13 - Äther, Magie und die Seele❧
Als Shyra am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich genauso erschlagen wie die Tage davor. Den Schmerz blendete sie mittlerweile so gut wie komplett aus.
Als Saíra ihr zeigte, wie sie die Decken am effektivsten zusammenrollte – und sich Shyra wunderte was Samiro so schwer gefallen war, ihr das beizubringen – stellte sie erneut eine Frage an das andere Mädchen. „Warum kann mir eigentlich niemand erklären, wohin genau wir gehen?"
„Oh, das ist nicht böse gemeint, es soll niemanden ausgrenzen,", meinte Saíra rasch. „Aber es ist uns gar nicht möglich. Niemand kann delikate Details aus den Quartieren entfernen. Es dient zum Schutz vor Spionage. Wenn du zum Beispiel eine Karte unserer Hallen auf eine Mission mitnehmen willst, so wird sie dir, sobald du die Mauern hinter dir lässt, in den Fingern verbrennen. Nicht, dass ein vernünftiger Mensch so was tun würde, aber es gibt genug Spitzel und Spione, die es ein ums und andere Mal versuchen. So gut wie alles bei uns ist mit Schutzsiegeln und Runenfallen versehen, damit auch ja nichts nach außen dringen kann, was nicht auch nach außen dringen soll."
„Oh", machte Shyra begreifend und starrte Saíra mit großen Augen an. Von Runen und Siegeln hatte sie schon einmal gehört. Zwar verkehrte das Hohe Volk nicht mit solcherlei Schabernack aber dass es solche Arten von übernatürlichen Kräften gab, lag auf der Hand. Man las von ihnen in alten Geschichtsbüchern oder Kulturwälzern. Außerdem war allen bekannt, dass das meiste, was die Fahrenden Händler verkauften auf irgendeine Weise durch Siegel und manchmal sogar Runen verändert oder verbessert war. Meistens zum Vorteil des Käufers aber auch nicht selten zu dessen Nachteil. Vorfälle wie diese endeten sehr oft im Tod des Erwerbers und gingen mit weitläufig angelegten Untersuchungen und Fahndungen einher.
Manche gingen sogar so weit zu behaupten, die Purpurdrachen selbst hätten vor hunderten von Jahren den ersten Menschen den Gebrauch von Runen und Siegeln beigebracht. Viele nannten diese Art von arkanem Wissen auch Magie oder Zauberei aber Tatsache war, dass jeder Zauber an etwas Materielles geknüpft war. Ohne Zielobjekt war jeglicher Versuch diese übernatürlichen Kräfte zu bändigen oder mit Wirkung zu versehen, erfolglos.
„Okay, aber was ist, wenn sich jemand dazu entscheidet, einfach einem anderen über die vielen Geheimnisse eures Verbundes zu erzählen? Wenn es da nichts Greifbares gibt, das man als Barriere verwenden könnte?", fragte Shyra dann neugierig nach und blickte Saíra erwartungsvoll an.
„Oh, das ist ganz einfach! Jeder, der bei uns aufgenommen wird, muss einen Schwur leisten. Dieser steht in Verbindung mit unseren Gesetzen und ist in jedem von uns versiegelt. Siehst du, hier", fuhr das Mädchen dann fort und streckte Shyra die Zunge heraus. Zuerst verwirrt blinzelte die Prinzessin, erkannte dann aber ganz hinten im Rachen der anderen, feine Linien, die in einem komplizierten Muster ineinander verschlungen waren und mit etwas, das aussah wie schwarze Tinte, auf ihre Zunge tätowiert war.
Shyra machte ein erstauntes Geräusch und wich ein wenig zurück. „Wie kommt das denn da hin?!"
Saíra lächelte. „Na mit Hilfe von Siegelmagie. Und dieser Schwur verhindert eben auch, dass du außerhalb davon etwas rumerzählst. Im Grunde ist es dir mit dem Ding auf der Zunge gar nicht möglich etwas zu verraten, das mit dem Siegel in Verbindung steht. Den Namen erwähnen kann ich wohl. Aposperitis – siehst du? Noch alles heil! Oder über den Zauber selbst – der ist kein Geheimnis, fast jeder verwendet den, du würdest staunen wie viele Familien des Fahrenden Volkes ihre eigenen Verwandten damit belegen um geheime Rezepte nun ja – eben geheim zu halten oder Verrat zu verhindern. Oder über mein Zimmer kann ich reden, solange ich keine zu detaillierten Ortsangaben mache." Deswegen hatte Samiro also nichts Genaueres über den Ort sagen können, an den sie gingen. Aber bloß alles geheimniskrämerisch verkaufen, dabei hätte er nicht mal die Möglichkeit gehabt mir etwas zu erzählen!
„Oder über Räume im Generellen", fuhr Saíra fort, „allerdings sind viele ihrer Inhalte tabu und darüber zu sprechen würde mir die Seele aus dem Leib trennen, noch ehe ich fertig bin – die Konsequenz für Hochverrat. Ohne Seele stirbt übrigens auch dein Körper", fügte Saíra hinzu und schulterte die Deckenbündel. „Oder ohne der Lebensenergie. Seele ist vielleicht ein zu romantisierter Begriff, aber du weißt schon, was ich meine."
„Oh ...", hauchte Shyra, jetzt doch etwas skeptisch. So etwas wie die Seele gab es wirklich? Und es war greifbar? Beziehungsweise verwundbar? Konnte man auch Runenzauber auf die Seele anwenden, wenn sie doch „greifbar" war?
„Ah, ich sehe! Du vertraust dem ganzen nicht so wirklich, oder?"
Shyra verzog verlegen den Mund. „Naja, Mutter hat nicht selten von den Aposperitis geredet – aber das hätte sie laut dir ja gar nicht tun können – und dass sie über arkane Kenntnisse verfügt, wüsste ich auch nicht."
Beziehungsweise war das alles nur Information aus zweiter Hand. Ihr persönlich hatte man im Grunde nichts anvertraut, allein Ionas war immer zur Stelle gewesen, wenn sie Fragen gehabt hatte, die keiner der Erwachsenen hatte beantworten wollen.
Das andere Mädchen blickte sie nachdenklich an. Shyra glaubte wieder etwas von Mitleid mitschwingen zu sehen. „Oh. Okay. Ich verstehe", meinte Shyra dann niedergeschlagen, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Sie wollte über solche ... naja, Geheimnisse nicht mir ihrer normalen Familie reden", flüsterte sie dann und nahm einen tiefen Atemzug, der die kalte Klaue von ihr fernhielt.
Saíra betrachtete ihre Freundin mit leicht besorgtem, wehleidigem Blick. Ihr tat es wirklich leid. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, dass Aredhel ständig von ihr gesprochen hatte, wenn sie die Zeit dazu gefunden hatte. Im Grunde kannten sie Shyra ziemlich gut, aber sie schwieg darüber. Vielleicht behagte es der Prinzessin nicht, dass Leute wie sie so viel über sie wussten, wo sie selbst doch keine Ahnung hatte, wo sie langsam aber stetig hineingezogen wurde.
„Ich habe aber kein solches Siegel", meinte Shyra plötzlich und folgte Saíra aus der Höhle. „Zumindest erinnere ich mich an nichts. Hätte Aredhel nicht versuchen sollen diese Informationen, die doch zu ihrer restlichen Familie durchgedrungen sind, ebenfalls zu schützen?"
Saíra hielt kurz inne, als sie nachdachte. „Das muss nichts heißen", gab sie dann zu bedenken. „Solche Siegel kann man überall platzieren, auch so, dass der Träger nichts von ihnen merkt."
Shyra versank in Gedanken und Saíra beendete das Thema ohnehin, da sie sich nun den anderen drein anschlossen, um Aufzubrechen.
Als Nuah Shyra erblickte verzog er das Gesicht und stieß Samiro an.
„Vielleicht sollten wir uns doch ein wenig Zeit lassen", schlug er vor und Shyra war ihm dankbar, dass er derjenige war, der ihre Verfassung angesprochen hatte und sie es nicht selbst tun musste.
„Wir haben einiges aufzuholen", meinte Samiro bloß und warf Shyra einen Blick zu, den sie aber versuchte zu ignorieren.
„Na und? Dann brauchen wir eben etwas länger als vorgesehen, was ist schon dabei?", fuhr der zweitjüngste fort und hob eine Schulter.
„Du weißt, dass ich Prinzipien habe, oder?", schnauzte Samiro Nuah an, der nur entschuldigend die Hände hob.
Saíra rollte mit den Augen und murmelte etwas, das nach Leander klang, aber Shyra verstand es nicht gut.
„Schon okay, das muss ja auch nicht sein. Ich habe zwei Füße und kann laufen. Wenn Samiro ein Problem damit hat, dass ich euch aufhalte, lasst mich mit ein paar Wegweisern zurück! Den Weg finde ich bestimmt ganz, ganz leicht! Ist doch nur Wald, der überall gleich aussieht", schnappte Shyra wütend und ließ ihrem Ärger Luft. „Wenn es dir derartig gegen den Strich geht, dass du mich am Hals hast, dann folge deinen Prinzipien und lass mich damit zufrieden!"
Darauf folgte längere Stille in der Gabriel und Nuah Samiro anstarrten und er und Saíra Shyra. Sie wusste nicht genau, was für Auswirkungen ihr Aufbrausen gehabt hatte, aber Anbetracht der Tatsache, dass die beiden Burschen ziemlich erschrocken aussahen und Saíra sie ungläubig anstarrte, schien ihr kein gutes Zeichen zu sein. Samiro allerdings blickte sie regungslos an, ehe ein kaltes Lächeln seinen Mundwinkel hob.
„Es gab ohnehin eine kleine Planänderung, Prinzessin. Ich bleibe bei Shyra und ihr kündigt den heimkehrenden Helden an", meinte er zynisch.
„Samiro, das ist nicht der G-", setzte Gabriel an, doch Samiro unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Ich seh's ein. Sie ist meine Verantwortung, nicht eure."
Shyra glaubte, sich verhört zu haben. Seine Verantwortung? Sie versuchte ihren verletzten Stolz nicht zu zeigen und trotzdem war da dieses Gefühl, tief in ihrer Brust. Ihr wurde beinahe übel, als sie da so stand. Trotz allem konnte sie nicht leugnen, dass es sich gut anfühlte, endlich einmal ihre Meinung gesagt zu haben. Und dass Samiro das anscheinend anerkannte, schmeichelte ihr auf eine nicht ganz so gute Weise.
Saíra seufzte schwer und schüttelte den Kopf. „Bec wird das, was ihr nicht dringend braucht, tragen." Shyra blickte hitzig zu dem Pferd – das kein Pferd war? – und beobachtete sie genauer. Die Stute schnaubte nur und stupste Saíra an der Schulter.
Samiro nickte. „Danke, aber das muss sie nicht."
Das Mädchen ignorierte ihn und ihre flauschigen Katzenohren neigten sich leicht resigniert, als sie Shyras Tornister auf Bec's Rücken schnallte. Shyra vermutete, dass sie alles andere als zufrieden war, wie Samiro sich benahm und das stärkte ihr eigenes Urteil. Kurz kam sie noch zu ihr herüber und lächelte ihr ermutigend zu. Leise sagte sie dann: „Es ist kein Fehler ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn dich etwas stört. Zu wenige sagen ihm überhaupt einmal die Meinung, er ist viel zu verwöhnt was das angeht ... Autoritäten." Sie seufzte und umarmte sie fest.
„Wir geben Bescheid, sollten wir etwas Verdächtiges entdecken", fügte Gabriel noch hinzu.
Samiro nickte nur, ohne seinen Blick von Shyra zu lösen und fügte hinzu: „Wir sehen uns dann am Treffpunkt, passt auf euch auf."
Die anderen nickten stumm und ließen ihn und das Mädchen auf der kleinen Lichtung zurück. Shyra spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen, sie fühlte sich elend.
„Also los. Sag schon", forderte Samiro die Prinzessin dann heraus. Shyra allerdings erwiderte nichts. „Ist dein nutzloser, königlicher Stolz endlich einmal befriedigt?"
„Nein", schoss sie zurück und biss die Zähne fest zusammen, ihr Brustkorb hob und senkte sich im Takt ihrer angestrengten Atemzüge und sie zog die Nase hoch.
„Ach was. Wir haben endlich wieder Zeit, nur für uns!"
Doch diesmal konnte Shyra ohne Probleme erkennen, dass er nicht einmal selbst hinter seiner neckischen Aussage stand sondern es viel mehr den Anschein hatte, als fühlte er sich dazu gezwungen das sagen.
„Und das haben wir ganz allein dir zu verdanken!", fauchte sie und blinzelte heftig.
„Stört es dich, dass du weiter laufen musst, nachdem ich dich nicht habe reiten lassen und jetzt auch Bec fort ist? Keine Sorge, ich trage dich gerne auf dem Rücken."
Shyra kniff die Augen fest zusammen. „Ich kann auch allein laufen, es ist nicht so, als ob ich keine Beine hätte. Und vorher hast du mich auch nicht getragen", entgegnete sie ihm trocken, immer noch blickvermeidend. Außerdem beschäftige sie immer noch das, was Saíra zu ihr gesagt hatte. Ihn in seine Schranken zu weisen fühlte sich wirklich gut an, es geschah ihm Recht, dass ihm jemand die Stirn bot und sein grässliches Verhalten reflektierte. Das Mädchen wunderte sich, ob da wo er herkam überhaupt jemals jemand etwas gegen sein Verhalten sagte und das warf in ihr die nächste Frage auf, wie hoch musste sein Rang bei den Aposperitis sein?
„Warum machst du dir eigentlich die Mühe?", fragte sie dann tonlos und blickte ihn an.
„Weil es ein Befehl ist", meinte er schlicht und sein Gesicht war eine regungslose Maske.
Shyra suchte in seinem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen, das ihr zeigte, dass ihm irgendetwas an ihr lag, doch er blickte sie bloß starr zurück an und mit einem Schlag wurde dem Mädchen bewusst, wie wenig sie Samiro eigentlich kannte. Seine Beweggründe, sein Charakter, seine Ziele und Ängste und dass er sie ebenso intensiv zurückmusterte. Das selbe Gefühl, wie damals im Gasthaus, beschlich sie. Dass dieser Junge sie tatsächlich anblickte und hinter seinen spiegelglatten Augen Gedanken steckten, von denen sie sich nicht sicher war, ob sie diese erfahren wollte.
Just in diesem Moment huschte etwas über seine Züge, das dem Mädchen einen Schauer über den Rücken jagte und in ihr den Drang auslöste wegzulaufen. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten und schluckte heftig. Verstört starrte sie zurück in seine fesselnden, unruhig starren Augen, unfähig sich zu bewegen, zu perplex von der plötzlichen Furcht vor diesem stechenden Blick und dem Fakt, dass sie mit Samiro wieder allein war.
Als er seine Arme hob, um sie zu verschränken, fuhr sie kaum merklich zusammen und Samiro verengte die Augen leicht, ehe er seinen Kopf ruckartig abwandte. „Shyra ... falls es so wirkt, dann zwinge ich dich nicht zu bleiben. Du brauchst nur ein Wort sagen und ich lasse dich gehen ... vorausgesetzt, du findest den Weg alleine zurück. Wenn du darauf bestehst. Keiner hat dich entführt."
„Ich kann nicht einfach umkehren", meinte die Prinzessin und räusperte sich heftig, als sie merkte, wie zugeschnürt ihre Kehle gewesen war, bevor ihr Gegenüber den Blickkontakt unterbrochen hatte. Unter diesen Umständen unter denen sie das Schloss und ihren Vater verlassen hatte, konnte sie unmöglich wieder zurück. Zumindest nicht ohne Neuigkeiten oder wenigstens Anhaltspunkte. Hatte sie indirekt auch ihr Volk verraten, indem sie einfach so verschwunden war? Schreckliche Zweifel begannen an ihrem Gewissen zu nagen, aber sie rief sich wieder in Erinnerung, wo sie eigentlich war. Mitten im Wald, auf einer winzigen Lichtung, mit weniger Gepäck, als sie jemals ihr Schlosszimmer verlassen hätte und in Begleitung von Personen, die an das, was ihr eigener Vater tagtäglich auf den Straßen bekämpfte, am nächsten kamen.
„Ich kann nur noch vorwärts gehen", meinte sie daher leise. „Ganz egal was kommt, es gibt kein Zurück mehr. Ihr hat man auch keine Wahl gelassen", flüsterte die Prinzessin.
„Vielleicht mag es euch als naiv erscheinen, aber ich muss Gewissheit darüber finden, was mit Mutter geschehen ist. Und solange ich mich nur auf rasch gekritzelte Zeilen von jemandem verlasse, von dem ich noch nie zuvor gehört habe, kann ich das nicht."
Samiro nickte. „Das ist nicht naiv. Naiv war bloß, dass du dich auf das alles eingelassen hast, ohne dich vorher zu erkundigen, wo du hineinschlitterts", murmelte er zum Schluss, sodass Shyra ihn nicht hörte.
„Dann hör auf rumzustehen und beweg dich", grinste er dann und Shyra war irgendwie froh, dass er zu seinem belustigten Selbst zurückgekehrt war.
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