☙Kapitel 11 - Vorurteile❧


Als die Sonne sich hinter das Laubdach senkte und den Wald in ein dämmriges Zwielicht verwandelte, ließ Samiro sie neben einer niedrigen, in Felsen gebrochene Höhle anhalten. Es schien, als wäre sie einmal von Tieren bewohnt gewesen, doch diese waren schon lange fort und die Höhle verlassen.

„Hier", meinte der Junge kurz angebunden und der Rest machte sich an die Arbeit den kleinen vegetationsfreien Platz für eine größere Gruppe vorzubereiten.

Samiro zog Gabriel erneut zur Seite und überließ die anderen drei ihren Pflichten.

Saíra wandte sich an Shyra und deutete, mit ihr mitzukommen. Irritiert folgte die Prinzessin dem andern Mädchen etwas weiter in den Wald.

Die Bäume standen hier wieder dichter und Unterholz, Moos und Flechten wucherten über umgestürzte Bäume und Felsen ungehindert hinweg, sodass Shyra trotz der kurzen Distanz zu ihrem einstweiligen Lagerplatz bald nicht mehr sehen konnte, wo dieser lag. Unruhig zupfte sie an ihrer Hose, die sich zum wiederholten Mal an einer Dornenranke verheddert hatte.

Saíra fing an dünnes Geäst vom Boden zu klauben und drückte es Shyra in die Arme.

„Nimm. Wir brauchen Feuerholz, such noch ein paar mehr von solchen Zweigen."

Shyra nickte und ging ihrer Aufgabe so gut es ging nach, immer wieder Blicke zu Saíra werfend, die sicher ging, nicht zu weit von Shyras Seite zu weichen.

„Warum trägst du deine Kapuze?", fragte sie schließlich neugierig. „Man wird dich doch nicht genauso suchen, wie mich, oder?"

Saíra richtete sich in der Hocke auf und blickte zu dem Mädchen nach oben, nachdem sie den eben aufgehobenen Ast zu dem restlichen Bündel in ihrem anderen Arm steckte. Sie war um so vieles effektiver als Shyra selbst.

„Nein, man sucht mich hier nicht", meinte sie nachdenklich und lächelte kurz, ehe sie sich die Kapuze mit der freien Hand vom Kopf zog und Shyra erstarrte. Kein Wunder, dass sie diese ... Eigenheit nicht zeigen wollte. Aus Saíras schulterlangen, beinahe weißgoldenen Haaren ragten zwei fellbedeckte Katzenohren, die leicht im Wind zuckten. Shyra beeilte sich ihren Blick so rasch es ging abzuwenden, aber Saíra lachte nur.

„Schon okay. Ich weiß, auf den ersten Blick wirkt es immer ein wenig seltsam auf Fremde. Ich bin eine Südländerin."

Shyra schluckte kurz. „Ich weiß, du bist vom Felid- ... den Fíer-Sen."

„Oh? Du sprichst unsere Sprache?"

Die Prinzessin schüttelte beschämt mit dem Kopf. „Nein."

„Ah, keine Sorge. Ich weiß, was man über mein Volk erzählt. Besonders hier im Norden. Verbrecher, Scharlatane, Hexer. Naja, zum Teil stimmt das auch", meinte sie dann nachdenklich und legte sich einen Finger an die Lippen, ehe sie fortfuhr nach Zweigen zu suchen. „Aber im Grunde sind wir nicht groß verschieden. Das Hohe Volk und wir."

Shyra spürte die Scham in sich aufsteigen. Sie hatte Vorurteile und obwohl sie wusste, dass eine Verallgemeinerung unangebracht war, konnte sie nicht umhin an all die Schauergeschichten zu denken, die man ihr im Unterricht beigebracht hatte und bis auf eine leibliche Begegnung an ihrem fünften Geburtstag war sie einem Südländer noch nie so nahe gewesen.

Als Saíra ihr Zögern bemerkte, richtete sie sich grinsend auf und Shyra meinte zum ersten Mal die verlängerten Eckzähne des Mädchens zu erkennen. Hör auf damit!, schalt sie sich und blickte Saíra in die Augen.

„Aber deine Haut ist so weiß, selbst deine Haare", stieß sie hervor, ehe sie sich selbst daran hindern konnte.

Saíra blinzelte einige Male verblüfft und nahm dann eine lose Strähne zwischen ihre feingliedrigen Finger.

„Hm. Ja, gut erkannt", grinste sie dann und Shyra schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Tut mir Leid, es ist nur so ..."

„Ungewohnt", half ihr das Mädchen auf die Sprünge und ihr Lächeln wurde weniger herzhaft. „Ich weiß. Meine Haut sollte die Farbe von fruchtbarer Erde haben, mein Haar das von reinem Anthrazit und meine Augen so golden wie die Sonne sein", setzte sie dann theatralisch fort und stand auf.

„So meinte ich das nicht", stammelte Shyra und wich einen kleinen Schritt von der etwas größeren Südländerin zurück.

Saíra brachte aber auch das eher zum Lachen. „Ich bin wirklich die letzte, vor der du dich fürchten musst! Wenn ich hier jemandem was antue, dann ist das Samiro, also keine Angst", grinste sie nun wieder belustigt, ehe sie eine Nüchternheit erlangte, die den Anschein hatte, als würde sich viel mehr dahinter verbergen, als bloße Fakten.

„Aber es stimmt schon. Meine Erscheinung ist alles andere als gewöhnlich und manchmal wünschte ich, ich wäre mehr wie meine Brüder und Schwestern im Süden."

Shyra schluckte schwer und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, doch Saíra wirkte ohnehin nicht so, als hätte sie sich etwas aus dem Mund der Prinzessin erwartet und deutete ihr stumm mit einem Nicken, sich wieder auf den Rückweg zu machen.

Trotz allem fühlte sich das Mädchen ein wenig unwohl. Sie hatte gerne etwas sagen wollen, um Saíra zu zeigen, dass sie die Südländerin nicht wegen ihres Aussehens verurteilte – mehr wegen all der anderen Dinge, die man ihr über die Fíer-Sen berichtet hatte, aber das konnte sie dem Mädchen auch nur schwer sagen, also ließ sie es komplett bleiben und fühlte sich weiter unwohl in ihrer eigenen Haut.

Beim kleinen Lagerplatz fing Saíra an das Holz zu schlichten und Shyra setzte sich daneben auf die trockene Erde, nachdem sie ihren erbärmlichen Haufen an Zweigen abgegeben hatte.

Nuah half der Südländerin dabei das Feuer zu entzünden und Shyra fragte sich, was daran so schwer war und warum Samiro sich jedes Mal zu gut gewesen war, um selbst eines zu entfachen.

„Shyra, du und Saíra, ihr werdet im Schutz der Höhle schlafen", meinte Gabriel, der sich nun auch zu ihnen gesellte, um sich im Schein des mittlerweile aufzüngelnden Lagerfeuers zu wärmen. Samiro war nirgends zu sehen und Shyra blickte sich suchend um, ehe sie dem jungen Mann antwortete. „Ihr müsst aber nicht Rücksicht auf mich nehmen", murmelte sie verlegen. „Ich habe auch die letzten Tage immer draußen geschlafen."

„Darum geht es gar nicht", setzte Saíra an und stocherte mit einem der übrigen Zweige im Feuer.

„Es sind die Nachtschatten. Wenn es stimmt, was Samiro gesagt hat, dann müssen wir dich irgendwie abschirmen", erklärte Gabriel mit rauer Stimme und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

Das Mädchen blickte zu ihm auf und blinzelte irritiert. „Durch was werden diese ... Geschöpfe angelockt? Ich habe sie noch nie gesehen. Und Samiro war nicht gerade aufschlussreich", murrte sie beleidigt.

„Er hat dir nichts gesagt, nachdem sie dich beinahe zerfetzt hätten?", fragte Gabriel entsetzt und Shyra schüttelte nur den Kopf. „Nicht zu fassen."

„Was ... was ist denn mit denen?", fragte daher die Prinzessin mit leichter Nervosität nach und blickte der Reihe nach in die Gesichter der Gruppe.

„Sie sind nicht so gefährlich, wie er dir den Anschein machen will", sprang Saíra beruhigend ein, „aber eine unglaublich lästige Angelegenheit."

„Fakt ist, niemand weiß so genau wodurch sie angelockt werden", fuhr Gabriel dann fort. „Sie tauchen auch nicht immer auf. Naturphänomäne. Mehr sowas. Keine Platzhalter in einem funktionierenden Ökosystem."

Shyra starrte den jungen Mann an.

„Was er damit sagen will", seufzte Saíra, „ist, dass sie nicht so wie andere Tiere Energie mit ihrer Umgebung austauschen und funktionell in ein Nahrungsnetz einzuordnen sind."

„Einige meinen es sei der Geruch, der sie anlockt", sprang Nuah ein.

„Andere behaupten, es wäre eine gewisse Art an Affinität zu Äther und sie würden diesem ursprünglich entstammen. Dass sie durch Risse im Fundament der Welt auf unsere Erde schlüpfen ", meinte Saíra andächtig und warf Shyra erneut diesen merkwürdigen Blick zu, als würde sie versuchen unauffällig weiterhin zu suchen, was ihr so anders an dem Mädchen vor kam.

Jetzt war Shyra noch stärker verwirrt. Sie blickte zwischen den anderen hin und her und runzelte die Stirn. Äther? Über sowas sprach man doch nicht, das war alles bloß abergläubischer Humbug! Und trotzdem bist du jetzt hier. Und Mutter war es auch. Sie hat an diesen abergläubischen Humbug fest gehalten.

„Das verstehe ich nicht", meinte sie mit erstickter Stimme. Wie konnte etwas übernatürliches einfach so in ihre Welt sickern? Warum hatte sie bis jetzt noch nichts davon erfahren? Aber hat nicht Mutter immer wieder einmal davon gesprochen? Der Weltessenz, die sich beginnt zu verändern? Das Artensterben? Shyra blickte starr in das knisternde Feuer und fühlte sich mit einem Mal wieder schutzlos ausgeliefert.

„Das ist in Ordnung, du musst es auch nicht verstehen. Daran arbeiten wir schon", zwinkerte Saíra ihr zu und fing sich dabei nur einen düsteren Blick von Gabriel ein.

„Sie sind auf jeden Fall da und – da können wir uns alle einig sein – eine unglaublich lästige Angelegenheit", fügte sie ohne Umschweife hinzu und ignorierte den bösen Blick, den sie von dem jungen Mann erhalten hatte.

„Aber wenn dich das so sehr interessiert, frag am besten Aredhel ... ich meine Juna", fing Nuah an, doch beendete seinen Satz erschrocken und blickte sie an.

Saíra sog scharf die Luft durch die Zähne und warf Nuah einen vernichtenden Blick zu.

Shyra starrte den Jungen zurück an und brauchte einen Moment um zu begreifen was geschehen war. Die Assoziation ihrer Mutter und dieser Gruppierung war ihr noch so neu, dass sie den Namen zuerst aus dem Mund eines Fremden gar nicht erkannt hatte. Doch die betretenen Minen der anderen ließen schnell deutlich werden, welcher Fehler begangen worden war.

„Oh ... schon in Ordnung", meinte sie beinahe automatisch. Alle Emotionen waren aus ihr gewichen und der Gedanke, dass diese Leute ihre Mutter vermutlich besser gekannt hatten, als sie selbst lag bloß erstarrend in ihrem Geist. Sogar Samiro, ging es ihr durch den Kopf und sie schluckte träge. Wenn sie jetzt anfing darüber nachzudenken, sich erneut den Schuldgefühlen zu übergeben, würde sie keinen Schritt mehr tun können. Die Prinzessin holte tief Luft und versuchte die schneidenden Gedanken aufzuhalten, doch sie forcierten sich ihren Weg in ihr Gemüt. Du hast selbst davon geträumt, du hättest es wissen und es aufhalten müssen, schalt sie sich selbst und die plötzliche Wut in ihr trieb ihr die Tränen in die Augen, welche sie wild blinzelnd versuchte zu verbergen.

„Darüber können wir uns zu gegebenem Anlass noch weiter unterhalten", meinte Nuah mit einem Mal laut und schnell, als er Shyra gegen den Arm boxte und ihr ein breites Lächeln schenkte. Das Mädchen presste die Lippen zusammen und nickte dankbar, als auch dann Saíra einsprang.

„Wie alt bist du jetzt eigentlich wirklich?", fragte sie, um das Thema so rasch wie möglich zu übergehen. „Man hört nur Dinge wie Geburtstag der Prinzessin, Geburtstag des Kronprinzen aber so richtig mitgefiebert habe ich dann doch nicht, tut mir Leid", lachte Saíra und stupste Shyra an.

Diese grinste matt und schüttelte den Kopf. Sie hatte diese aufwendigen Feiern immer nur zur Hälfte genossen. Das Auswendiglernen der gesamten gehobenen Gäste war immer besonders mühsam gewesen. Nicht, weil Shyra Auswendiglernen schwer fiel, ganz im Gegenteil, aber die junge Prinzessin hatte nie eingesehen, wozu es nötig war die Familiengeschichte jenes Fürsten und jener Fürstin bis zu deren Anbeginn zu kennen. Zumal sie ohnehin bloß nach Bahron Ausschau gehalten hatte, um wieder eine Dose seiner exquisiten Süßigkeiten zu ergattern. „Ich werde bald sechzehn, Ionas wird achtzehn", meinte sie daher und musste unweigerlich an seine tadelnde Worte denken.

„Siebzehn", grinste Nuah, doch Gabriel fuhr ihm grob durch die Haare.

„Ein Küken, im Vergleich mit meinen zwanzig!"

Shyra starrte Gabriel erschrocken an. Nicht einmal Ionas war so alt und irgendwie hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass Gabriel bereits erwachsen war.

„Ich weiß, von seiner angeblichen Reife bekommt man nicht viel mit", meinte Nuah beleidigt und rieb sich den Kopf.

„Und Samiro und du?", fragte Shyra dann beiläufig.

„Ich bin nur ein Jahr älter als Nuah und Samiro wird demnächst neunzehn", antwortete Saíra verschmitzt lächelnd.

„Was?", meinte Shyra lang gezogen und fühlte sich mit einem mal unglaublich fehl am Platz. Unglaublich kindlich und erschlagen. Das hier war nichts für sie. Wieso muss Ionas immer Recht behalten?

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