☙Kapitel 1 - Erwachen❧
Der Windstoß, der durch das halb geöffnete Fenster drang riss Shyra schweißgebadet aus dem Schlaf. Ihr Herz hetzte ihr das Blut viel zu schnell durch die Kehle und sie schnappte gierig nach Luft. Eine weitere Böe ließ den Vorhang und den Baldachin über ihrem königlichen Bett gespenstisch rascheln, ihn wie schemenhafte Gestalten aussehen, die durch ihr Fenster stiegen und erneut setzte ihr Herz für einen Schlag aus.
Ein Traum, keuchte sie in Gedanken und blickte sich panisch im Raum um. Sie war hier, nicht dort, zuhause, in ihrem Zimmer, hoch über Nordja, wo niemand die Steilhänge des Schlossberges erklimmen konnte. In Sicherheit. Dennoch schweifte ihr Blick hektisch von einer dunklen Ecke in die nächste, immer auf der Suche nach den Albtraumgestalten der Nacht. Der Schweiß klebte ihre langen Haare in den Nacken, doch die Prinzessin traute sich trotz Juckreizes nicht sich zu bewegen, zu gelähmt vor Angst fühlten sich ihre Glieder schwer wie Blei an.
Erst als sich Shyras Atem wieder einigermaßen beruhigt hatte und die Vernunft nach und nach begann ihren Geist zurückzuerobern, erinnerte sie sich an die Kerze auf ihrem Nachttisch, direkt neben ihrem Bett. In Gedanken zündete sie diese an, doch wagte es nicht ihren Gedanken Taten folgen zu lassen, zu verängstigt schien ihr Körper noch nicht auf ihre Befehle reagieren zu wollen.
Es war nur ein Traum, wiederholte sie zittrig und schloss kurz die Augen. Nur Mut, bloß Schatten und Wind, hauchte sie und wie auf Signal wanderten ihre Gedanken zu ihrem Bruder. Ihr Bruder, der immer für sie da war, sie beschützte und alles Leid und jeden Kummer von ihr fernhielt. Zu ihm, ging es ihr durch den Kopf. Natürlich zu ihm. Fast schon lächerlich, dass ihr dieser Gedanke erst jetzt kam, bereite sie sich innerlich darauf vor, der Dunkelheit in ihrem Zimmer den Rücken zu kehren und auch wenn ihr Nacken anfing zu kribbeln, griff sie nach den Streichhölzern, schüttelte sie hektisch aus der Schachtel und versuchte eines zu entzünden. Sie fluchte leise, als es ihr zwischen den zittrigen Fingern zerbrach und die Prinzessin spürte einen erneuten Schub aus Panik in ihr hochwallen. Doch der nächste Versuch gelang und kurz später flammte die Kerze hell auf und erleuchtete das Turmzimmer mit einem gedämpften Licht. Kaum war ihr das gelungen, fuhr das Mädchen herum und griff sich in den Nacken. Doch außer dem wispernden Wind in ihrem Fenster war es immer noch ruhig. Mit einem ängstlichen Seufzer fing sie an sich aus ihren Decken zu winden, die viel zu eng um ihre Beine geschlungen waren, strampelte sich ungeschickt frei, ehe sie über den Bettrand rutschte und unsicheren Schrittes das Zimmer verließ.
Der Flur war dunkel und ebenso ruhig, nur erhellt vom fahlen Mondlicht. Er hing fast stützenlos in schwindelerregender Höhe, direkt in den Schlossberg gehauen, sodass ein Erklimmen nicht möglich war, wiederholte Shyra in Gedanken und nickte mit einem tiefen Atemzug. Trotz Spätsommers war es recht kühl in der Nacht, vor allem, wenn man leicht bekleidet und barfuß über den Korridor huschte, also beeilte sich die Prinzessin voranzukommen. Shyra schlang die Arme fröstelnd um ihren Oberkörper und erreichte die Türe in die Wohnhallen, drückte diese erleichtert auf und huschte in den Raum dahinter.
Ihre Zehen gruben sich beinahe sofort beruhigend tief in den weichen, handgeknüpften Teppich und sie dachte wehmütig daran, dass sie selbst dieses Zimmer im Außenbau hatte haben wollen. Damals, als sie noch kleiner gewesen war, war ihr ihr Bruder beinahe auf Schritt und Tritt gefolgt, war ihr zweiter Schatten geworden und das hatte ihr begonnen irgendwann zu missfallen. Sie hatte mehr Freiraum gewollt doch dann hatte das Träumen angefangen und Shyra hatte begonnen ihre Entscheidung zu bereuen. Seine Anwesenheit hatte die Angst erträglich gemacht und die grauenhaften Inhalte in Relation gesetzt, er war über die Jahre zu einem Anker geworden, bei dem sich Shyra immer hatte sicher fühlen können. Umziehen war allerdings auch keine Option mehr denn die freien Zimmer im Schloss wären alle noch weiter weg von Ionas Gemach gelegen, sodass Shyra sich vehement geweigert hatte. So kannte sie zumindest den Weg bereits auswendig, konnte ihn blind laufen und wusste jede Unebenheit auf ihrem Weg zu schätzen, denn es zeigte ihr, dass sie auf dem richtigen Pfad war.
Auch jetzt schloss sie sanft die Augen und setzte einen Fuß vor den anderen, fühlte die weiche Wolle unter sich und in ihrem Geiste malte sie sich automatisch das Bild des Kunstwerks zu ihren Füßen aus. Muster von wilden Blumen und exotischen Singvögel des Südens, gekrönt von Abbildungen der grazilen Purpurdrachen in Einklang mit den Braun- und Grüntönen Saar'Akands. Bisher hatte Shyra nur Bilder und Geschichten aus diesem fernen Land gehört, aber jedes Mal schlug ihr Herz höher und ihr Gemüt wurde gepackt von abenteuerlichen Hirngespinsten, einem süßen Fernweh und dem Drang diesem nachzugeben.
Ihr geistiges Auge schweifte weiter, folgte dem Kamin die Wand hinauf. Sie kannte die Pinselstriche des Familienporträts auswendig, fuhr im Geiste die weichen Konturen des Profils ihrer Mutter nach, bewunderte ihre ebenholzfarbenen Haare, den sanften Gesichtsausdruck, das Lächeln ihres Bruders, so einladend und einzigartig und über all dem der feierliche Blick ihres Vaters, behütend und harsch.
Die vollkommene Stille des Wohnraums hatte Shyra wieder beruhigt. Tief einatmend öffnete sie ihre Augen und nahm den Moment in sich auf. Es war vorbei. Kurz stand Shyra unschlüssig auf dem Teppich, ehe sie sich dazu entschied, Ionas nicht zu wecken. Nicht schon wieder. Vermutlich wäre es am Klügsten zurück ins Bett zu laufen, aber das Mädchen schüttelte den Kopf. Dafür war sie bereits viel zu aufgeweckt und die Bilder in ihrem Traum hatten sie noch nicht voll und ganz wieder losgelassen. Vorsichtig also schlich die Prinzessin zur abgrenzenden Balkontüre und trat hinaus in die kühle Nacht, sich wiederfindend auf einem von Blumen, Sträuchern und Gräsern gesäumten Plateau, welches den Blick freigab auf die Ausläufer der Stadt und das bewaldete Küstenland im Norden. Fern an den kühlen Stränden Mondrodijs konnte sie das Meer im Mondschein funkeln sehen und beinahe das beruhigende Rauschen der Wellen auf Kies vernehmen. Erneut atmete die Prinzessin tief durch und trat nach vorne an das steinerne Geländer, legte ihre Ellenbögen auf den rauen Untergrund und blickte hinab. Sie war sicher.
Kurze Zeit später hörte sie das leise Knarren des Türscharniers, wandte sich jedoch nicht um. Sie wusste bereits, dass dies ihr Bruder war, der trotz ihrer Entscheidung ihn nicht zu wecken, immer zu ahnen schien, wenn sie ihn brauchte.
„Hey", hörte sie ihn nur wenig später murmeln und eine vertraute Hand legte sich ihr auf die Schulter. Shyra wandte sich augenblicklich um und vergrub das Gesicht an seiner Brust, ihn fest an sich drückend. „Das muss aber ein heftiger Traum gewesen sein", lächelte Ionas schief und löste ihre klammen Hände aus seinen Gewändern. Er blickte ihr suchend in die Augen, ehe er sich neben sie ans Geländer stellte und ihr über die Wange strich. Kurz war es noch still, dann senkte Shyra den Blick.
„Ich habe von Mutter geträumt", flüsterte sie leise und wandte sich wieder der Landschaft zu.
„Und was war es diesmal?", fragte ihr Bruder sanft.
„Diesmal war es anders", Shyra stockte. Sie musste wieder an die Bilder denken, schloss kurz die Augen. „Sie starb", brachte sie schließlich heraus. Ihr Atem zitterte. Normalerweise träumte sie von lang vergessenen Erinnerungen, Ausflüge mit ihrer Mutter in die Wälder, zum Strand, die zugegeben unheimlich für sich waren, da immer etwas zwischen den Zeilen gelegen hatte. Die Träume waren in kleinen Details von dem abgewichen, woran sich Shyra wirklich meinte zu erinnern, doch noch nie hatte sie so etwas radikales wie diese Nacht geträumt. Shyra schluckte und blinzelte gegen die Brise. „Sie musste wieder fort ... auf eine ihrer Reisen aber diesmal kehrte sie nicht zurück. Und dann war dort diese Stimme ... diese Stimmen. Sie sprachen von einer wüsten Kreatur, die den Weltuntergang bringen würde und-" Sie hielt den Atem an und plötzliche Panik schnürte ihr die Luft ab. Sie würde wie ihre Mutter ...
„Shyra", riss sie Ionas Stimme zurück in die Gegenwart und half ihr sich wieder zu fokussieren. „Der Weltuntergang? Mutter stirbt? Das sind alles Anzeichen dafür, dass es doch bloß ein Traum war."
Das Mädchen schluckte und nickte zögerlich. „Ja."
„Gut, tief durchatmen."
Sie tat wie er ihr befahl und spürte die Panik langsam zurückweichen. „Sie sprachen auch von Äther", wisperte sie dann leise und blickte beschämt zur Seite. Sie wusste, dass Ionas nicht besonders viel von Zauberei hielt, genauso wenig wie ihr Vater und nebenbei das Gesetz, doch sie wussten alle, dass Aredhel mit dunkler Magie experimentierte und oft wochenlang verschwand. Wohin wusste Shyra nicht, sie war noch zu jung, als dass man sie in solcherlei Belange einweihen würde. Das Problem, das dadurch allerdings entstanden war, hatte selbst die Prinzessin mitbekommen.
„Du weißt doch, so beunruhigend es auch ist, dass deine Träume durchaus schon einmal diesen Kurs einnehmen können, so wie bisher. Also sorge dich nicht."
Shyra nickte erneut und senkte verunsichert den Blick. Ionas hatte Recht. Es passierte nicht selten, dass in ihren Träumen irgendetwas umkam, dass sie von Hetzjagden träumte, oder vom Sterben an sich. Aber wir sprechen hier doch von Mutter. Aredhel, die Königin. Das sind nicht nur belanglose Motive. Wenn sie stirbt, dann hat das doch weitaus mehr Bedeutung, nicht? Shyra sprach ihre Zweifel allerdings nicht aus. Sie wollte nicht, dass Ionas sie weiter belächelte, also schenkte sie ihm ihrerseits ein Lächeln und ließ sich von ihrem großen Bruder zurück ins Schloss führen. Er ließ sie bei sich zur Ruhe kommen und wachte die restliche Nacht behütend über sie.
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