☙Epilog❧

Seit dem Aufbruch des Königs waren nur wenige Tage vergangen und auch dieser Morgen kündigte sich mit dichtem Nebel und feuchter Kälte an. Die Schlosswachen, die oben auf der Mauer entlang der Stadt patrouillierten, hatten über Nacht Feuer angezündet, um sich zu wärmen. Das vertrieb zwar die Kälte, machte die Sicht aber auch nicht besser. So war es anfangs schwer die schwarze Kutsche, die in all dem Nebel bloß ein Schatten war, zu erkennen und doch rollte sie stetig auf das Nordtor zu. Als die Stadtwache sie dann doch erblickten, wurde sie kurz angehalten, ein Schreiben überreicht und dann hektisch weitergewunken.

Es war noch sehr früh und deshalb noch wenig los auf den Straßen, was der vermummten Gestalt auf dem Kutschbock nur recht war. Juna wollte kein unnötiges Aufsehen erregen und dass sie durch die gesamte Stadt fahren musste, um zum Schloss zu kommen behagte ihr auch nicht. Sie hatte nicht vor mit irgendjemandem außer dem König ein Wort zu wechseln. Ihre Identität sollte geheim bleiben, niemand wissen woher sie kam oder wer sie war.

Letzteres zu offenbaren war unvermeidlich gewesen und Juna wusste, dass zumindest die engsten Vertrauten Aredhels durchaus wussten, wer sie war. Aber deswegen strebte sie danach die Prozedur so schnell als möglich hinter sich zu bringen. Sie war nicht zum Plaudern gekommen, sie hatte einen Auftrag zu erfüllen. Aredhels Leiche zu bringen war nur ein Teil des Ganzen und bei weitem nicht der wichtigste.

Als die Wache das Schlosspersonal über die Ankunft der Kutsche informiert und demnach eine Eskorte zum Eingang geschickt hatte, war der Vorplatz bis auf das schwarze Gefährt leer. Selbst das Pferd war nirgends mehr aufzufinden und Zeugen eben sowenig.

„Was soll das heißen, außer der Kutsche und einem Umschlag war nichts zu finden?!", fuhr Endris den Boten an, der ihnen nach einer kurzfristigen Versammlung, bei der sich der Rat und die Fürsten zusammengefunden hatten, die Situation geschildert hatte.

„Dass außer der Kutsche und-"

„Schweig! Ich weiß was es bedeutet, aber was soll dieses Untergraben meiner Autorität?!"

Der Bote zog den Kopf ein und fühlte sich furchtbar unwohl in seiner Haut.

„Endris", meinte Fürst Bahron mit einer ruhigen Stimme. „Der Junge weiß nichts. Er ist nur der Überbringer der schlechten Nachricht. Verschwinde, Junge." Der Bote verbeugte sich mehrmals tief und eilte dann hektisch aus dem Wintergarten.

„Er hat Recht, wir sollten uns auf diese ... Juna konzentrieren. Sie ist die Verdächtige und sie gilt es ausfindig zu machen-"

„-und auszuschalten", herrschte Endris und schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Dass sie es wagte seine Autorität so mit Füßen zu treten, sich nicht einmal blicken zu lassen und nur diesen lächerlichen Brief zu hinterlegen. Es war eine Schande und wäre Endris noch König, hätte er sie auf der Stelle hinrichten lassen, hätte er sie in die Finger bekommen. Nicht zu Letzt, weil die Kutsche dermaßen ungeschützt zurückzulassen ein enormes Sicherhetisrisiko dargestellt hatte. Jeder hätte hineinblicken und ihre tote Königin erkennen können. Und zu Endris Schreck war es auch Fürst Bahron gewesen, welcher ihn schlussendlich von dem Sarg berichtet hatte.

Zu seiner Erleichterung hatte der Fürst allerdings kein Wort dazu gesagt, er schien nicht einmal überrascht gewesen zu sein, dass Aredhel nicht wie verlautbart in ihrem Krankenbett gestorben war, sondern jetzt hier in Mitten des Palasthofes lag, bedeckt von frevelhafter Äthermagie.

Viitas Bahron hatte ihn aufgesucht und seinen Fund mitgeteilt und war selbst derjenige gewesen, der die Wachen und Diener zu erneuter Achtsamkeit und Verschwiegenheit aufgefordert hatte. Endris fragte sich wieso, entsann sich aber nicht diese Tatsache anzusprechen, als Viitas ihn zur Seite genommen und sich mit ihm in den Wintergarten gesetzt hatte. Das einzige Licht drang von einem Kaminfeuer her, welcher in der Nähe der Eingangstüre neben einer Sitzgarnitur brannte.

Fürst Bahron seufzte und legte dem ehemaligen König eine Hand auf den Unterarm. „Beruhige dich wieder. Alles zu seiner Zeit. Selbstverständlich lassen wir nach dieser Juna suchen, solange wir ungefähr wissen, wo sie sich aufhält, doch ohne Zeugen, ohne Gesicht, wird das schwierig werden."

Endris knirschte erbost mit den Zähnen, ließ sich aber wieder in seinen Stuhl zurück sinken.

„Außerdem", fuhr Fürst Bahron beschwichtigend fort, „müssen wir uns jetzt um die Bestattung kümmern. Und so ungern ich es zugebe, diese Frau hat uns ein respektvolles Geschenk gemacht, indem sie den Lauf der Verwesung mit Hilfe von Siegeln angehalten hat."

Endris schluckte. Es stimmte, als man den unverschlossenen Sarg in einem privaten Raum gelüftet hatte, war ihr Anblick wie eh und je gewesen, sodass ihm sein Herz fürchterlich im Stich gelassen hatte. Und trotzdem war diese Hexerei erst Schuld, dass seine Ehefrau überhaupt unter diesem abtrünnigen Lichternetz zu liegen gekommen war. Wenn die Stadtwache diese verruchte Aussätzige nicht finden sollte, würde er sich selbst auf die Suche nach ihr machen.

Er war Viitas dankbar, aber nahm sich vor die Wachen im gesamten Schloss zu verstärken. Im restlichen Gespräch ging es nur noch um den Ablauf der Zeremonie, dem er müde zustimmte, ehe er sich grüblerisch, aufgebracht und rastlos in seine Gemächer begab.

Der Tag der Bestattung war genauso unfreundlich und wolkenverhangen. Endris hatte kein Auge zugetan und war die ganze Nacht wach gewesen, hatte nachgedacht, sich den Kopf zerbrochen, wie er diese Sekte ausfindig machen konnte, aber war zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Jetzt stand er hier, in der eisigen Abendluft im windstillen und nebligen Hafen Portjias hoch über den anderen Bürgern auf einem Podest und lauschte der Ansprache des Rates.

Die Bestattung hatte man in die Küstenstadt verlegt, um Aredhel die letzte Ehre zu erweisen. Man hatte sie samt den Sarg in ein kunstvoll geschnitztes Boot gelegt, welches noch am Ende des Steges verankert lag und darauf wartete entzündet und losgeschickt zu werden. Der Weg hin zum Kahn war mit Fackeln erleuchtet und die Holzplanken mit einem Teppich bedeckt. Zu beiden Seiten des Ufers scharte sich das Volk aus Nordja, der Hafenstadt und kurzfristig angereisten Trauernden. Ein jeder von ihnen hielt eine Kerze in der Hand, bereits entzündet und erhellte die sonst dunkle Masse zu Endris' Füßen.

Als die Rede des Rates vorüber war, folgte seine eigene. Er hatte nicht viel zu sagen, das Volk hatte gewusst, wie sehr er seine Gemahlin geliebt hatte und ihm gingen die Worte ohnehin schwer von den Lippen. Seine Stimme war trotz seines Zornes schwach vor Trauer und leicht im Wind.

Nachdem er geendet hatte, überreichte man ihm eine Fackel und er schritt den ausgelegten Weg nach vorne zum Kahn. Als er Aredhel da so liegen sah, gebettet in angehaltener Zeit, liebkost von Blumen, die längst hätten verblüht sein sollen, wurde ihm wieder ganz weh ums Herz. Er musste gestehen, dass die Magie die Züge seiner Frau schrecklich getreu erhalten hatten, was in ihm das Gefühl erweckte, sie würde jeden Moment die Lider aufschlagen und ihn mit diesen liebevollen, aber durchdringenden Augen betrachten. Einige Augenblicke vergingen, in denen er nur gebannt darauf wartete, doch als nichts dergleichen geschah, holte er tief Luft und legte schließlich die Fackel ans Fußende des Kahns, band ihn los und versetzte ihm einen sanften Stoß, damit er hinaus aufs Meer glitt.

Während sie dem Boot nachblickten, stimmte das Volk ein uraltes Trauerlied an, welches die Nachtluft mit einem feierlichen und doch melancholischen Klang erfüllte.

Durch den Nebel schimmerten die Flammen weich und leuchtend und verbreiteten trotz der Kälte ein warmes Licht, an das sich Endris auf Ewig erinnern würde.

Nun saß Endris beim letzten Licht seiner Kerzen in seinen Schreibtischstuhl gesunken und starrte seiner unruhig tanzenden Spiegelung in den Fensterscheiben in die Augen. Sein Ebenbild stierte ebenso griesgrämig und mit einem leeren Ausdruck in den Augen zurück, wirkte aber durch das Flackern des Kerzenscheins heimtückisch und neckisch.

Das nicht Auftauchen von Juna an den folgenden Tagen nach der Bestattung und die Bestattung an sich nagten schwer an ihm. Ständig hatte er Angst, um der nächsten Ecke einen Meuchelmörder vorzufinden und er wagte es nicht, sein Schloss zu verlassen. In die Dachgärten zu gehen, war das einzige, wozu sich der ehemalige König noch fähig fühlte und immer und immer wieder wühlte er in den Sachen von Aredhel, um Anhaltspunkte über diese Juna zu finden, doch ihre Existenz war schlüpfrig wie ein sich windender Aal und so wurde der ehemalige König auch an diesem kalten, grauen Tag nicht fündig. Das Einzige, worauf er noch zurückgreifen konnte, war das Tagebuch seiner Königin, das er vor wenigen Tagen gefunden hatte. Doch er hatte nicht gewagt es zu öffnen, da ihm die Scham Einhalt geboten hatte. Doch nun, zurückgedrängt an die Wand, wie ein gehetztes Tier, erschien ihm der Ausweg in den privaten Gedanken Aredhels zu schnüffeln wie die einzige Möglichkeit.

Kurz zögerlich richtete er sich auf, ehe er sich vollends hochstemmte und hinüber zu seinem Nachtkästchen ging, in dessen Schublade er das kostbare Buch verstaut hatte. Zurück beim Schreibtisch ließ er sich wieder in seinen Stuhl sinken und betrachtete das in burgundfarbenes Leder gebundene Buch andächtig. Er musste einen Augenblick überlegen, ob er überhaupt bereit war, all diese Geheimnisse zu erfahren, doch schalt er sich kurz darauf bereits einen alten Narren und ohne weiteres Zögern öffnete er die Eisenverschlüsse des Tagebuchs und schlug es in der Mitte auf.

Die Seiten waren gefüllt mit Aredhels winziger, unregelmäßiger Schrift, die er zu ihren Lebzeiten immer kritisiert hatte, da sie oft unleserlich und einer Königin nicht würdig gewesen war. Aredhel hatte daraufhin aber immer nur gelacht, den Kopf geschüttelte und gemeint, solange man ihre Unterschrift auf offiziellen Dokumenten lesen konnte, sähe sie kein Problem. Für Gesetzesverfassungen organisierten sie sowieso immer einen Notar, also verstehe sie nicht, warum sich Endris so darüber aufregte. Jetzt erfüllte ihn diese Erinnerung allerdings mit Trauer.

Er überblätterte die erste Hälfte des Buches, bis er zu Daten gelangte, die zumindest ins gleiche Jahr fielen und er fing an zu lesen. Ein Eintrag einige Monate vor ihrem Tod.

[...]Sie war heute schon wieder bei mir im Archiv. Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, dass sie nicht locker lassen wird, ehe wir ihn vernichtet haben. Manchmal kann sie so stur sein! Möge der Äther uns vor einem Unheil bewahren! Ich fürchte, sie ahnt etwas. Sie weiß, was ich getan habe, doch sie würde meine Beweggründe nicht verstehen. Niemand, der nicht so gelitten hat wie ich könnte das[...]

Endris blinzelte, als ihm die Schrift seiner Frau vor den Augen verschwamm. Gelitten? Worunter hatte Aredhel denn gelitten? Endris seufzte und schüttelte den Kopf. Es war so unsäglich schwer zu entziffern, was Aredhel damals auf die Seiten geschrieben hatte und dass zwischen den verständlichen Worten, die er lesen konnte, so viele Fachbegriffe eingestreut waren, die für den alten Mann komplett den Zusammenhang des Textes zerrissen, war auch nicht gerade zuträglich für seine Verständlichkeit.

[...] Hi'aj-Sarif hatte sich geirrt. Der Preis, den ich zu zahlen hatte, ist es alle Mal wert, wenn ich in das Gesicht meiner Tochter blicke. Wie könnte ich auch anders denken? Kein Opfer ist zu groß, das Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Und doch würde das niemand verstehen. Keiner von ihnen. [...] bin ich mir doch sicher, dass er es schaffen kann. Dann kann ich Lhimeliel ein für alle Mal bannen, zwei Fliegen mit einer Klatsche. Frühzeitig in den Vorgang einzugreifen würde nicht nur dem Experiment, sondern auch ihm schaden. Allem voran [...] Leander verändert. Sie haben versucht [...] doch es ist nicht zu übersehen, was der Äther spirituell anrichtet.

Endris rieb sich die Augen. Namen und Vergleiche, Äther und Magie, nichts, was ihm weiterhalf.

[...] ich dachte, sie hätte endlich Ruhe gegeben! Doch fand ich heraus, dass [...] heraushält! Ich kann nicht [...] Mein Mädchen [...] Nachforschungen erteilt zu haben! Aber was soll ich denn tun? Ihr verbieten für unsere Organisation zu arbeiten? Wohl kaum, ich brauche sie und nicht nur ich. ... Wenn doch alles so einfach wäre wie früher.

Ich sollte vielleicht nicht sooft ins Archiv gehen. Das tut meiner Lunge auf Zeit nicht gut. Ich spüre schon, wie sich die Staubpartikel in mir absetzten! Oder es ist nun doch langsam der Äther, der seine hässliche Fratze zeigt [...]

Endris hielt erneut inne. Von wem sprach Aredhel da? Ihr Mädchen?! Shyra? Wohl kaum. Wer war sie? So verzweifelt er auch suchte, er fand in Aredhels winziger Handschrift keinen Namen, der auf diese Person zu verweisen war. Endris schluckte. Was auch immer im Kopf seiner Frau vorgegangen war, viel konnte es nicht mehr sein, denn die beschriebenen Seiten neigten sich langsam aber endgültig dem Ende zu. Sein Herz fing an heftiger zu schlagen, als er sich wieder in den Text vertiefte, denn wenn er hier keine Antworten fand, dann würde das Rätsel um Aredhels Tod auf immer verborgen bleiben.

[...] Sie besteht darauf. Sie besteht darauf die Siegel sofort zu durchtrennen, meine Güte, sie redet von Folter, als wäre es einfach [...] Sie ist nicht zu halten, es ist viel zu riskant, er könnte umkommen, das würde ich mir nie verzeihen. Und andererseits wenn ich ihm den Äther nicht nehme, dann wird vielleicht noch viel mehr dafür büßen, als bloß eine Kinderseele. Wenn Lhimeliel erfährt, was ich versuche, dann ist es aus, Äther behüte uns, was habe ich getan. Vielleicht ging es nicht um den Preis, den ich zu zahlen habe, Hi'aj-Sarif, sondern den, den ich allen aufbürdete. [...]

Endris meinte sich verlesen zu haben, er studierte den kleine Absatz erneut. Sprach seine Frau da eben von Kindermord? Um wen auch immer es hierbei ging, es war alles andere als gut und rief in dem ehemaligen König ein ungutes Magengefühl hervor. Schon wieder nur Namen um Namen, doch keine Erklärungen.

[...] Ich kann doch meinen eigenen Sohn nicht zerstören. Er würde das niemals zulassen, ICH würde das niemals zulassen! Juna kann doch nicht allen ernstes verlangen ihm eine Klinge durch die Brust zu stoßen. Und anderseits macht sie auch Sinn, Juna hat Recht, er wird mehr und mehr, Tag um Tag, zu einer größeren Gefahr. Der Äther wächst und lernt schnell, Samiro sagt, er spricht immer häufiger zu ihm, seit es vor zwei Jahren [...] spricht von den körperlichen Veränderungen [...] , wenn der Äther hervorbricht. Und dennoch. Dennoch. Wollemia tut schon was sie kann, doch auch sie steht vor einem Rätsel. Ich bin froh ... dass sie den Götterfall noch nicht angesprochen hat. Es wäre zu fatal daran zu denken, es darf keiner erfahren. [...]

Der alte Mann merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als seine Lungen vor Protest zu brennen begannen. Zitternd holte er tief Luft und wischte sich den Schweiß von der Braue. Juna ... Sie war doch die Frau gewesen, die den Brief geschickt hatte, die Aredhels Körper gebracht hatte. Und wer war dieser Junge? Sie konnte schwer von Ionas sprechen, oder? Was für ein Äther? Endris brummte der Schädel und er kniff die Augen gegen die pochenden Schmerzen zusammen. Der alte Mann war dem Ende des Tagebuchs schon erschreckend nahe und er fürchtete, er würde die Antwort auf seine Fragen nicht mehr finden.

[...] Was wäre, wenn unsere Welt nicht einzig ist? Was, wenn es Tore gibt, die sie mit anderen verbindet? Was sind die Tore, die wir mit den Runen öffnen? Gibt es da einen Unterschied, wenn ja ... worin besteht er? Die Alte Welt hat uns so viel vor Augen geführt, so viele Möglichkeiten eröffnet und wir haben alles weggeworfen. Was vernünftig war. Wenn ich an den Tempel im Süden zurück denke, mich an die drohenden Hallen seines Heiligtums zurückerinnere, an den kalten Hauch in meinem Nacken, wie sich seine Finger um meine Kehle gewunden haben ... Es gab einen Grund, warum wir sie bannten, doch auch einen Grund, warum wir sie anbeteten. [...]

Endris riss sich schnaufend aus dem Fluss dieser verräterischen Worte. Wie konnte Aredhel, die Königin des Hohen Volkes nur derartig über den Glauben an die Götter sprechen? Das grenzte an Hochverrat, drehte sein eigenes Bildnis seiner Frau völlig auf den Kopf. Wer war dieser Lhimeliel, von dem sie sprach? Bei wem war sie im Süden gewesen? Der alte Mann strich sich zitternd durch den Bart. War sie gar fremd gegangen, und Shyra entstammte gar nicht ihrer Ehe? Endris schluckte beklommen. Dies mussten Erinnerungen an Aredhels Reise gewesen sein, von der sie nie spezifiziert hatte, wohin sie diese geführt hatte. Und zu Recht hatte seine Gattin darüber geschwiegen, denn was auch immer sie auf dieser angerichtet hatte, hatte sich endgültig wie eine Seuche in ihre Familie gefressen und diese nun begonnen langsam aber bestimmt auseinander zu brechen. Er schüttelte schockiert den Kopf und las weiter.

Ich muss tiefer gehen [...] ich muss mehr herausfinden, es muss doch eine Antwort geben! Nicht ohne Grund rebelliert der Äther [...] etwas geben, was er verlangt, nach was er dürstet. Mehr als die Freiheit, doch was? Sie würde niemals zulassen, dass ich sie anfasse. Aber ich brauche sie ... ich habe das Gefühl, sie ist ein wichtiges Element in einer Reihe aus unergründlichen Schlussfolgerungen. Sie ist der Schlüssel! Ich bin mir dessen sicher. Doch wie, wie nur, wie [...] Die Salvatori halten uns auf Trab. Sie scheinen aktiver zu sein denn je und sie scheinen immer zu wissen, wann und wo sie zuschlagen müssen, damit sie uns gezielt das Handwerk legen. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas im Dunklen läuft. Haben wir gar einen Spion in den eigenen Reihen? [...]

Hier brach das Tagebuch kurz ab und Endris wunderte sich, warum. Er würde es wohl nie erfahren. Der folgende Eintrag war nur mehr hingekritzelt, sodass der alte Mann Schwierigkeiten hatte die einzelnen Wörter überhaupt zu entziffern. Er war wenige Wochen vor ihrem Tod geschrieben worden. Endris schluckte schwer.

[...] Verflucht! Irgendetwas geht da draußen in den Wäldern [...]Ich habe angeordnet, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Der Rest des Zirkelrates scheint ebenso beunruhigt zu sein, selbst Juna, wobei [...] Sorge. Sie hat sich während der Versammlung über nur in Schweigen gehüllt. Ich kenne sie zu gut [...]

[...] Heute habe ich Juna beobachtet. Sie ist sehr vorsichtig geworden. Natürlich, das war sie schon immer, aber so darauf bedacht, nicht aufzufallen? Sie hat die Unterkunft verlassen, das hat mir Samiro berichtet. Unerlaubt ist sie gegangen, aber das habe ich ihr gegenüber nicht erwähnt. Ich denke, es ist besser, wenn ich sie in dem Glauben lasse, dass ich nichts weiß ... [...]

Endris stockte. Sein Herz schlug schnell und unregelmäßig. War das Angst? Er hatte das ungute Gefühl, Aredhels verschleierten Mord endlich auf die Schliche zu kommen. Der nächste Eintrag war eine Qual zu entziffern, da Aredhels Handschrift nun so unregelmäßig war, dass man vermutlich nicht einmal mehr ihre Unterschrift erkannt hätte.

[...] Es ist kalt. Ja! Man glaubt es kaum, in diesen Spätsommermonaten sollte es eigentlich warm und mild sein, aber mein Körper will einfach nicht zum Zittern aufhören. [...] Verdacht bestätigt. Ich muss dem auf den Grund gehen. Beweise [...] Juna [...] Ich verstehe es aber nicht. Es ergibt keinen Sinn, sie [...] Ich hoffe, ich sehe sie wenigstens noch einmal, ich muss dem nachgehen, der Fluch, die Kette, all diese katastrophalen [...] die Antworten finde ich nicht in einem Buch, ich muss nach draußen, ehe es zu spät ist. Tscha-Sad wird wieder helfen können, der arme [...] aufbrechen, ehe Juna es merkt.

Endris musste seine Augen von der letzten Zeile der Seite abwenden. Ihm war plötzlich furchtbar schlecht geworden. Seine Hände zitterten, als er versuchte die Seite von dem Tagebuch seiner Frau umzublättern. Einmal, zweimal, dreimal entglitt das dünne Papier seinen Fingern, bis es endlich träge umkippte.

Nichts.

Vollkommene Leere. Das Weiß der Seite brannte sich in sein Gedächtnis wie eine heiße Nadel. Diese Seiten waren leer. Unbeschriebenes Papier ... Endris hatte die böse Vermutung, den Mörder seiner Gemahlin gefunden zu haben.

Eine Hand vor den Mund sackte er in sich zusammen, unfähig zu akzeptieren. Waren dies die letzten Worte seiner Frau gewesen? Getrieben aus Angst blätterte er zurück und starrte die Schrift an. Doch der letzte Satz, blieb der letzte Satz.

Ein plötzliches Klopfen an seiner Türe riss Endris aus der Starre und er spürte, wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper jagte. Er zuckte heftig zusammen und wandte sich der Tür zu. Eine dunkle Vorahnung verschleierte sein Denken, die selbe Angst, die seine Frau heimgesucht hatte, machte sich nun auch in ihm breit.

Er griff nach dem Brieföffner und versteckte ihn unter seinen Roben, ehe er aufstand und den Gast hereinbat.

Die Türe öffnete sich leise und im dunklen Loch zum Gang hinaus stand eine in komplettes Schwarz gekleidete Gestalt. Endris hatte das Gefühl, als wäre das sein Ende und er würde seinem Todesengel entgegentreten.

Ohne zu zögern trat die vermummte Gestalt in sein Gemach und striff sich die Kapuze vom Kopf. Eine Frau, die in Aredhels Alter zu sein schien, blickte ihn an und ein wehmütiges Lächeln umspielte nun ihre Lippen.

„Endris", fing sie an und neigte das Haupt in Ehrerbietung.

„Ich rufe sofort nach den Wachen", drohte der ehemalige König atemlos. Er zitterte und fühlte sich älter als je zuvor.

„Das ist nicht nötig", meinte die Fremde nun schnell und hob beide Hände, als würde sie ihm zeigen, dass sie unbewaffnet war. „Ich bin hier um zu reden, eine alte Bekannte. Ich bin Juna."

Endris stand wie vom Donner gerührt zwischen Stuhl und Schreibtisch, den Brieföffner krampfhaft umklammert und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er kannte den Namen sehr gut, hatte er doch erst vor wenigen Tagen seine Festnahme verlangt und ihn vor kurzem noch in der unruhigen Schrift seiner ermordeten Ehefrau gelesen. Und jetzt stand dieser Name hier, mitten in seinem Gemach in tiefster Nacht, hatte einen Körper und ein Gesicht und war greifbarer denn je. Und Endris hätte sich nichts fürchterlicheres vorstellen können.

„Ich hoffe, du hast einen guten Grund, dass du dich der königlichen Gewalt entzogen, das Gesetz gebrochen und große Unruhe verbreitet hast. Du schicktest einen Brief, doch sahen wir nie dein Gesicht! Wie eine Verbrecherin bist du in unsere Stadt geschlichen und da frage ich mich, müssen wir dich auch als eine solche behandeln?"

Auf diese unwirschen Worte des ehemaligen Königs reagierte die Frau, die sich als Juna ausgab, mit einem Lachen.

„So wie Aredhel von dir berichtet hat! Endris", setzte sie nachdrücklich fort, ihre Hände immer noch sichtbar. „Ich weiß, dass du jedes Recht hast misstrauisch zu sein, doch musst du auch wissen, dass meine Person unbedingt geheim bleiben muss. Du kennst die Risiken meines Berufes nur all zu gut und der Verlust, der manchmal damit einhergeht, dürfte dir vertrauter sein als so manch anderem. Bitte verzeih mein unwürdiges Verhalten, ich hatte nicht vor den König derartig zu beleidigen oder zu ängstigen."

„Ich bin nicht geängstigt", herrschte Endris.

Juna lächelte gutmütig. „Aredhel und ich waren gute Freunde. Ich war stets an ihrer Seite und habe sie bestmöglich unterstützt. Ich wollte nie, dass es so endet. Sie war meine Weggefährtin über eine lange Zeit, länger, als sie dich kannte und Königin war. So glaube mir, dass mich ihr Tod genauso verletzt wie dich."

„Durch Deinesgleichen ist ihr überhaupt erst dieses Schicksal widerfahren!" Obwohl Endris immer noch nicht überzeugt war, dass diese Juna ihm nichts böses wollte, rief er nicht nach den Wachen, sondern war sogar neugierig darauf, was sie zu sagen hatte.

„Darf ich mich setzen?", fragte Juna nun leise und immer noch in einer freundlichen Plauderstimme. Endris nickte und bot ihr einen einfachen Holzstuhl an, der neben der Türe stand. Die in schwarz gekleidete Frau nahm darauf Platz.

„Endris. Ich bin hier, weil ich in dem Brief schrieb, dass ich hier sein würde. Ich konnte keine genaueren Informationen geben, da Post oft abgefangen wird und ich dieses Risiko nicht eingehen konnte. Weder für mich, noch Aredhel, noch dich. Also bitte ich hier noch einmal um Verzeihung, dass ich dich aufgewühlt und derartig hintergangen habe. Doch nun bin ich hier und ich möchte dir alles erklären."

Endris beäugte Juna misstrauisch. Er war neugierig aber er vertraute ihr nicht. Was, wenn sie Lügen erzählte? „Erkläre dich", meinte er dennoch.

„Aredhel hatte bestimmte Forschungen am Laufen, in die sie die letzten Monate und Jahre sehr vertieft gewesen war." Davon hatte Endris bereits gelesen. „Doch fingen diese Forschungen an, sich negativ auf sie auszuwirken. Du weißt vom Äther?" Endris nickte. „Er hat fatale Auswirkungen, musst du wissen. Die Nutzung ist nicht ohne Folgen. Sie ist einem Arbeitsunfall erlegen", meinte Juna bedauerlich.

„Das muss aber eine Aredhel gewesen sein, die mir unbekannt ist. Meine Gemahlin wäre niemals an einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen", meinte Endris kalt.

Juna schüttelte energisch den Kopf. „Endris, es gibt Dinge, deren Verständnis den einfachen Verstand des Hohen Volks übersteigt. Ich erwarte nicht, dass du verstehst. Oder dass du dir einen Reim auf Aredhels Worte machst. Es gibt Dinge, die man besser ruhen lässt. Ein Arbeitsunfall ist und bleibt ein Arbeitsunfall."

„Es war Mord", keuchte Endris erstickt und seine Hand um den Brieföffner wurde langsam aber doch schweißnass.

„Mord in diesem Geschäft ist ein Arbeitsunfall, Endris. Es tut mir Leid." Juna stand auf und griff unter ihren Umhang. Der ehemalige König umklammerte den Brieföffner mit Endgültigkeit. Er würde diese Frau umbringen und Gerechtigkeit walten lassen. Doch als Juna die Hand wieder unter dem Umhang hervorzog, hielt sie eine abgewetzte Tasche in der Hand, die sie nun auf den Sessel stellte und öffnete.

„Ich habe hier etwas für dich, bei dem ich dachte, dass es dich vielleicht interessieren könnte. Ich habe selbst lange danach gesucht", meinte sie immer noch bedauerlich und zog ein in burgundfarbenes Leder gebundenes Buch hervor. „Aredhels Tagebuch."

Endris gefror beinahe das Blut in den Adern, als er der Mörderin in die Augen blickte. Hier stand sie also, diejenige, die seiner Gemahlin das Leben nahm und dann wagte sie es noch mit diesem mitleidsbekundendem Gesicht solche Lügen aufzutischen? Sein eigener Blick huschte für einen Bruchteil einer Sekunde zu dem immer noch aufgeschlagenen Tagebuch auf seinem Schreibtisch. Natürlich bemerkte Juna seinen Seitenblick und auch ihre Augen blitzten für einen Moment zu dem Buch. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein freundliches Lächeln aus, als sie das eigene Tagebuch vorstreckte.

„Keine falsche Scheu! Und sorge dich nicht, ich habe es nicht gelesen! Ich habe immer sehr viel von Aredhel gehalten, mein höchster Respekt gilt alleine ihr. Und wie bereits gesagt, es gehört dir, wenn du es willst."

Endris schluckte. Er spürte seine Zunge nicht mehr, oder den Speichel, den er schluckte, fühlte auch seinen Magen und seine Beine nicht mehr. Das ist das Ende. Und dennoch trugen ihn seine tauben Füße einen Schritt auf Juna zu, sein unbewaffneter Arm streckte sich ohne sein Zutun nach der Lüge in den Händen der Frau aus.

„Du kannst übrigens den Brieföffner wieder auf den Tisch legen", meinte Juna dann mit einem leicht belustigten Lächeln.

Endris' anderer Arm bewegte sich nicht, aber das Aufkommen des spitzen Gegenstandes auf den Boden war in der ohrenbetäubenden Stille deutlich zu hören. Er fragte sich, wie Juna gewusst hatte, dass er den Brieföffner unter seinen Roben versteckt hatte. Aber ihre Augen schienen sowieso überall zu sein. Ein hässlicher Schauer rieselte ihm das Rückgrat entlang. Außerdem spielte es keine Rolle mehr, er war so gut wie tot.

„Was werde ich finden, wenn ich das Tagebuch lese?", fragte er aus ihm unerfindlichen Gründen.

„Nun", begann Juna, die Stirn runzelnd. „Das weiß ich nicht."

„Doch, das weißt du. Und du weißt auch, dass ich weiß, dass du es weißt."

Juna blinzelte und ein erneutes Lächeln legte sich auf ihre Züge. Die Haut um Mundwinkel und Augen wurde runzelig und man sah ihr ihr Alter nun deutlich an. „Nichts, was dir genützt, aber alles, was dich verschont hätte."

„Ich verstehe."

„Es tut mir Leid, Endris. Du hättest nicht so eifrig sein sollen. Aredhels Tagebuch nur wenige Tage länger ruhen lassen sollen, mich meine Arbeit erledigen und meinen Text aufsagen lassen sollen. Es tut mir wirklich Leid, dass es nun hierzu kommen musste. Ähnlich wie Aredhel, wusstest du einfach zu viel."

„Ähnlich wie Aredhel? Was hat sie gewusst?"

Das Lächeln rutschte von Junas Gesicht und wich einem ehrlich bedrückten Ausdruck. „Sie wusste um das Ende der Welt und hat es auch noch herbeizuführen versucht."

Bevor Endris auch nur eine weitere Frage stellen konnte, war die in schwarz gewandete Gestalt dicht bei ihm und zog ihn in eine letzte, todbringende Umarmung.

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