5 | Manchmal ist Reden also doch keine Lösung
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Vorsichtig schlüpfe ich aus der Zimmertür und spähe den Flur entlang. Niemand zu sehen. Barfuß laufe ich die Treppen hinunter und stehe im lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Wo ist bloß die Küche? Ich durchquere den großen Raum und schiebe leise eine gläserne Tür zu Seite. Ein heller, runder Tisch mit vier Stühlen, das ist die gesamte Einrichtung dieses Esszimmers. Durch einen hohen Türbogen gelange ich endlich in die Küche. So viel moderner Kram. Soweit ich das überblicken kann, gibt es zwei Spülen, Unmengen an Schränken und eine große Kochinsel. Ich drehe mich um. Neben der Tür stehen noch zwei silberne Kühlschränke. Wofür brauchen die denn bitteschön zwei Kühlschränke? Hoffentlich ist da was Essbares drin.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«
Ich fahre herum. Da steht niemand. Dann war das bestimmt diese Roboterstimme.
»Ähm, eigentlich nicht, danke«, sage ich und öffne nun den Kühlschrank.
»Es sind noch mit Artischockenherzen gefüllte Champignons vom Mittagessen übrig«, informiert mich die Stimme freundlich. Ich verziehe das Gesicht und schließe den Kühlschrank wieder. Wer isst denn sowas?
»Gibt es vielleicht auch Toast?«, frage ich und sehe mich weiter um. Ich öffne einige Küchenschränke. Alles ist zum Glück ordentlich einsortiert, sodass mir nichts entgegenfällt. Ich stelle mich gerade auf die Zehenspitzen, um einen der Wandschränke zu öffnen, als...
»Was soll das werden?« Das war auf jeden Fall nicht die Roboterstimme. In der Tür steht Tony Stark.
»Ich... äh...«
»Hast du Hunger?«
»Nein, ich wollte nur testen, ob die Küchenschränke funktionieren«, murmele ich. Ich beiße mir auf die Zunge und nicke. Er holt eine Packung Toast sowie ein Glas Nutella aus den vielen Küchenschränken und platziert diese vor mir auf der Kücheninsel. Dann setzt er sich auf einen Hocker. Ich gucke ihn nur an.
»Was ist? Willst du lieber Baked Beans auf deinen Toast? Oder Waffeln?«, fragt er ungeduldig. Also zu Waffeln würde ich nicht Nein sagen...
»Ich habe kein Messer«, antworte ich.
»Hinter dir, links.«
Nachdem ich ein Messer gefunden habe, schmiere ich mir schweigend ein Toast. Dabei fühle ich mich dezentest beobachtet. Schließlich seufzt Tony Stark und stützt sich auf die Arbeitsplatte.
»Also Lucy... Ich will ganz ehrlich zu dir sein.« Ich höre auf zu kauen. Kann er sich nichtmal meinen Namen merken? »Eine Geschichte, ja? Also es war einmal ein überaus berühmter, wohlhabender und einflussreicher Milliardär, der nebenbei auch noch sehr gut aussah. Doch eines Tages stand plötzlich ein kleines Mädchen vor seiner Tür, die behauptete, seine Tochter zu sein. Und damit begannen die Probleme und nichts war wie zuvor.« Er lehnt sich zurück und ich starre ihn fassungslos an. Etwas summt. Tony Stark steht auf, zieht ein Handy aus seiner Hosentasche und geht dann aus der Küche. »Nettes Gespräch!«, ruft er noch. Ich starre auf die Toastpackung. Der Appetit ist mir gerade gründlich vergangen.
Ich liege auf dem unglaublich bequemen Bett und starre an die Decke. Warum ist Tony Stark nur so gemein? Ich habe mir das hier doch nicht ausgesucht. Ehrlich gesagt würde ich sogar lieber wieder zurück in London sein. Was fand Mum bloß an dem Typen? Ich wette, er erinnert sich nicht mal an sie. Das Licht dimmt sich automatisch. Wenigstens ist diese Villa ziemlich cool. Kurz darauf falle ich in einen traumlosen Schlaf.
War das zu grob? Fairerweise muss man sagen, dass er noch nicht viel mit Kindern zu tun hatte. Und trotzdem... Ist dieses ungute Gefühl im Magen ein Anzeichen für Schuldgefühle, die in ihm aufsteigen? Bloß nicht. Dieses Mädchen hat dafür gesorgt, dass er und Pepper sich gestritten haben.
Genannte kommt zu ihm ins Wohnzimmer. »Ich habe Milch gekauft«, sagt sie kühl und hält einen Beutel in die Höhe.
Er nickt und nippt an seinem Glas. Die dazugehörige Flasche mit dem goldbraunen Inhalt steht auf einem gläsernen Beistelltisch.
Schließlich seufzt sie und lässt sich ihm gegenüber auf einen weißen Ledersessel nieder. »Hör zu, Tony.«
Jetzt kommt die Moralpredigt, denkt er, doch er sagt nichts und nimmt stattdessen noch einen Schluck Scotch.
»Ich – ich weiß nicht, was du dir da wieder eingehandelt hast. Ein Kind, Tony. Von dir. Von all deinen wahnwitzigen Aktionen in der Vergangenheit liegt das hier auf jeden Fall weit vor Rennwagen fahren oder riesige Eisenrüstungen in Höhlen bauen. Ich habe all deine kleinen Affären und One-Night-Stands nicht vergessen, und–«
»Das ist vorbei, Pepper!«, fällt er ihr ins Wort. »Lindsey bedeutet mir nichts. Hat sie nie. Es war ein Ausrutscher, wie so einiges in meinem Leben. Aber jetzt gibt es dich. Pepper. Nur dich.«
Sofort werden ihre Gesichtszüge weicher. »Aber darum geht es doch gar nicht.«
»Worum dann?«
»Sie ist deine Tochter. Du kannst sie nicht einfach so wegschicken. Sie ist nicht wie eine deiner Kurzzeit-Begegnungen.«
»Und nur deswegen soll sie jetzt hier wohnen? Soll ich mit ihr Einkaufen gehen, zu Elternabenden und Gartenpartys?«, fragt er gereizt und umgreift das Glas fester. Langsam beginnt der Alkohol, seine Sinne zu vernebeln.
»Alles, was du tun sollst, ist ein wenig Verantwortung zu übernehmen.«
Jetzt, wo sie so beruhigend auf ihn einredet, wird er noch wütender. »Dazu kann mich niemand zwingen«, sagt er mit bebender Stimme.
Pepper seufzt abermals und steht dann auf. »Komm mit.«
♦
Zwei Stimmen unterhalten sich flüsternd. Ich wache zwar auf, lasse meine Augen aber geschlossen.
»Sie schläft«, flüstert die eine Stimme, Pepper.
»Sie kann wirklich nicht bleiben. Diese Großtante, bei der sie gewohnt hat – kann sie nicht einfach dorthin zurück?«
»Du willst sie wieder wegschicken? Tony, ihre Mutter ist tot und sie wusste jahrelang nichts von ihrem Vater! Sie sollte bleiben. Vorerst.«
»Aber ich weiß nicht, die Presse–«
»Du machst dir jetzt Sorgen um die Presse?«
»Ich mache mir Sorgen um uns, Pepper.« Es folgt ein kurzes Schweigen. »Unsere Beziehung.«
»Hey, wir haben schon größere Sachen erlebt als das hier. Sieh es einfach als... als weitere Herausforderung.« Ein Seufzen. »Tony. Kein Kind sollte ohne Eltern aufwachsen. Du müsstest das wissen. Besser als jeder andere.«
Jetzt öffne ich doch vorsichtig ein Auge. Im Halbdunkel sehe ich die Gestalten von Tony und Pepper in der Tür. Der letzte Satz scheint etwas in ihm getroffen zu haben. Tony wirft einen Blick zu mir, und ich schließe meine Augen schnell wieder.
»Vielleicht hast du Recht.«
Die Tür schließt sich leise und ich liege wieder allein im Dunkeln.
♦
»Vielen Dank, dass Sie sich so kurzfristig Zeit genommen haben«, sagt Pepper zu der Frau und bittet sie, auf dem Ledersessel Platz zu nehmen.
»Selbstverständlich«, lächelt diese und entblößt eine Reihe strahlend weißer Zähne. Sie sieht unsympathisch aus, dieses Lächeln ist so falsch. Genauso wie ihre Nägel. Pepper Potts – soweit ich jetzt weiß die Freundin von Tony Stark – hat sie für heute hierher bestellt, um mit ihrer Hilfe die Sorgerecht-Angelegenheit zu klären.
»Ich hoffe Sie sind sich bewusst, dass das hier streng vertraulich ist«, beginnt Pepper das Gespräch. Sie legt die Dokumente auf den Tisch. Die Anwältin, Mrs Calder, öffnet eine Mappe. Noch mehr Papierkram. »Ich habe mit Martha Hastings telefoniert, dem Vormund von...«, sie sieht auf einem Blatt nach, »...Judy.«
»Sie können auch direkt mit mir reden, ich bin hier«, merke ich leicht genervt an.
Sie bleckt wieder ihre Zähne. »Natürlich Schätzchen. Und auch mit einem gewissen Greg Lestrade von Scotland Yard. Er gab mir weitere Informationen.«
»Wieso tauchen diese Dokumente eigentlich ausgerechnet jetzt auf?«, fragt Tony Stark vom anderen Ende des Tischs.
Ich zucke mit den Schultern. »Frühjahrsputz in den Archiven?«
»Also«, fährt Mrs Calder ungebremst fort. »Eigentlich hätte nach dem Tod von Mrs. Linford das Sorgerecht direkt an Mr. Stark übertragen werden müssen.«
»Meine Großtante hat mich aufgenommen. Sonst hätten die mich in eine Pflegefamilie abgeschoben.«
»Könntest du das bitte die Erwachsenen klären lassen?«, fragt Mrs Calder angespannt, aber immer noch mit diesem gruseligen Lächeln im Gesicht. Ich verdrehe die Augen, verschränke meine Arme und lehne mich in dem Sessel zurück. »Also, die Vormundschaft liegt momentan noch bei Mrs. Hastings, aber durch die Unterzeichnung dieses Dokuments, würde sich Mr. Stark verpflichten, die Sorgepflicht für Judy zu übernehmen.«
Wer hat überhaupt gesagt, dass ich darauf Lust habe?
»Moment, wer hat gesagt, dass ich das machen will?«, fragt Tony plötzlich.
»Tony, wir haben das besprochen«, sagt Pepper energisch.
»Nein, nein, ich brauche nur etwas... Zeit. Zum Überlegen.« Er steht auf, sammelt die Blätter zusammen und drückt diese der überraschten Anwältin in die Arme. »Vielen Dank für ihren Rat, kommen sie doch später nochmal, vielleicht so in ein, zwei Monaten.« Er schiebt sie aus der Tür.
Ich bleibe verdutzt in meinem Sessel sitzen.
»Was sollte das?«, fragt Pepper aufgebracht.
»Was sollte was?«
»Wir wollten diese ganze Angelegenheit klären, was ist los mit dir?«
»Findest du das nicht auch alles schwachsinnig?«
»Schwachsinnig? Und das sagst du?« Ihr Telefon klingelt. Sie wirft einen Blick auf das Display. »Okay, weißt du was? Ich hab's versucht. Ich wollte dir die Arbeit abnehmen. Wir hätten das klären können, aber jetzt... Viel Vergnügen.« Verärgert stöckelt sie aus dem Haus.
»Hey, Pep, wo willst du hin? Komm zurück.« Die Tür fällt ins Schloss. »Großartig.« Er sieht zu mir. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Ich hab doch gar nichts gemacht!«, protestiere ich.
»Nein, du hast eben etwas gemacht! Du hättest lieber da bleiben sollen wo du herkommst, ich wette dann wären wir beide zufrieden.«
Ich springe vom Sessel auf und balle meine Hände zu Fäusten. »Weißt du was? Ja, ich war glücklich in London. Ich war glücklich mit meiner Mum. Bis sie gestorben ist. Ich wette du erinnerst dich nicht mal an sie. Ich weiß, wer du bist. Du bist berühmt, und in jedem Klatschblatt. Du gibst Interviews über dein Privatleben. Aber das macht dich nicht menschlicher. Du tust so, als wärst du unverwundbar und fehlerfrei. Aber in Wirklichkeit bist du nur ein egoistischer Idiot.«
Bevor er etwas erwidern kann, stürme ich die Treppe hoch und in mein Zimmer. Nein, das ist nicht mein Zimmer. Das ist nicht mein Zuhause. Ich will hier weg.
♦
Am nächsten Tag lockt mich der Hunger ins Erdgeschoss. Niemand ist in der Küche, aber das hatten wir ja schonmal. Ich schnappe mir schnell einen Apfel, eine Packung Kekse und eine Flasche Orangensaft und will wieder verschwinden. Doch jemand macht mir diesen Plan zunichte.
»Ich will nicht mit dir reden«, sage ich.
»Okay, schön, von mir aus.« Tony lehnt am Geländer der Treppe und versperrt mir so den Durchgang. »Aber eins solltest du wissen: Ich habe nachgedacht–«
Ist ja mal was ganz Neues.
»–über die ganze Situation hier. Das ist für alle Beteiligten sehr verwirrend.«
»Hm.«
»Ich meine, du kannst nicht einfach so hier auftauchen und behaupten, du wärst meine Tochter.«
»Denkst du, ich hab mir das ausgesucht?« Langsam werde ich wieder wütend. Wütend auf Tony, weil er mich einfach nicht versteht, wütend auf Marthas Krankheit, der Grund, warum ich überhaupt hier bin, und wütend auf Mum, die mich alleingelassen hat.
»Das wollte ich damit gar nicht sagen!«, bestreitet Tony. »Ich habe gestern vielleicht ein wenig überreagiert, aber versteh doch, in meiner Situation–«
»Und du bist der Einzige, der hier leidet?« Das ist doch wohl nicht sein Ernst. »Weißt du was, ich hab keinen Bock mehr auf das alles!«, rufe ich wütend und will mich an ihm vorbei drängeln.
»Hey, hör mir gefälligst zu, wenn ich rede!«, sagt Tony ärgerlich.
»Du hast mir gar nichts zu sagen.«
»Judy–«
»Nein! Ich gehe jetzt!«
Tony lacht kurz auf. »Und wohin bitteschön? Du kannst wohl kaum nach London laufen.«
»Wenn's sein muss«, murmele ich. Es gelingt mir, an ihm vorbei zu schlüpfen. Ich stürme die Treppe hoch.
»Ich erinnere mich an Lindsey«, ruft er mir hinterher, »sie war eine ... überwältigende Frau. Temperamentvoll. Wunderschön.«
»Mum hat dir doch gar nichts bedeutet! Genauso wenig wie ich. Du denkst immer nur an dich selbst und an deine blöde Superheldennummer!«
Tony seufzt. »Komm zurück!«
»NEIN! ICH HASSE DICH«, schreie ich und knalle die Zimmertür zu. Aufgewühlt reiße ich meinen Koffer auf und stopfe wahllos ein paar Kleidungsstücke in meinen Rucksack. Ich haue ab. Heute Nacht.
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