21 | Möglicherweise der beste Sommer meines Lebens
»Also diese Zauberschule«, beginne ich und betrachte einige Bücher, die auf Cellys Schreibtisch herumliegen. »Was genau macht man da so?« Ich nehme ein in Leder gebundenes Buch und blättere durch die Seiten. Meine Schulter tut weh. Also mein Lieblingsspiel wird dieses Quidditch auf jeden Fall nicht.
»Im Grunde ist es eine ganz normale, langweilige Schule«, sagt Celly, die sich auf ihr Bett geworfen hat.
»Normal?« Mit hochgezogener Augenbraue lese ich den kurzen Text unter dem Bild eines Tieres mit Adlerkopf und Pferdebeinen. ›Der Hippogreif stammt aus Europa, ist heute jedoch weltweit verbreitet. Er hat den Kopf und die Vorderfüße eines Riesenadlers und den Hinterleib eines Pferdes. Man kann ihn zähmen, jedoch sollten dies nur fachkundige Zauberer versuchen.‹ Alles klar. Einige Wesen in diesem Buch kommen mir bekannt vor: Trolle, Sphinxen... aber was zur Hölle ist ein Niffler? Das Tier sieht aus wie ein Maulwurfschnabeltier. Sehr niedlich.
»Also wir lernen natürlich auch normalen Kram wie Mathematik - unglaublich öde, wenn du mich fragst.«
Ich halte das Buch mit den Zauberwesen hoch. »Und Fächer wie die hier?«
»Das gehört halt dazu. Aber am coolsten finde ich die Flugstunden, die sind wirklich super. Conrad ist ja in der Quidditchmannschaft von unserem Haus, aber ich glaube dafür bin ich noch nicht gut genug.«
Wo wir schonmal bei Tieren sind, fällt mir Josh ein. Ich hole ihn aus meinem Rucksack.
»Josh!«, ruft Celly strahlend und nimmt ihn in die Hand. Sie streicht durch sein weiches Fell. »Er hat doch keinen Ärger gemacht, oder?«
Ich ziehe eine Grimasse. »Naja, ein paar Töpfe und Pfannen waren da schon involviert... Aber das ist nicht das Problem. Tony will ihn loswerden.«
»Wie bitte?«, fragt Celly perplex.
»Naja, Tony - und vor allem Pepper - finden Josh gruselig«, sage ich augenverdrehend und setze Gänsefüßchen in die Luft.
»Gruselig? Das ist ein faustgroßes Wollknäuel, was ist daran gruselig?«
»Keine Ahnung.«
Ich setze mich zu Celly aufs Bett und sinke fast ein. An der Wand hängen ein paar Fotos, die sich wie kleine Videos bewegen. Magisch. Von dem großen Fenster aus kann man in den Garten sehen und auf der Fensterbank liegen große Kissen. Eine Regalreihe säumt die Wand neben der Tür. Darin steht, neben Büchern, allerhand Krimskrams. Cellys Zimmer wirkt so gemütlich. Man sieht genau, dass sie hier wohnt. Wenn ich da an mein Zimmer in Malibu denke... Ich muss dringend einige Umräumungsmaßnahmen ergreifen, wenn ich wieder zurück bin.
»Und sowieso«, nehme ich das Gespräch wieder auf, »Tony ist seit New York irgendwie komisch. Total verändert.«
»Wie, verändert?«, fragt Celly.
»Naja, er sitzt stundenlang in seiner Werkstatt und schraubt an seinen blöden Anzügen herum. Sogar nachts. Und ich muss ganz allein in der Villa rumhocken.«
»Hey, so schrecklich hört sich das gar nicht an. Ich meine, es ist Tony Starks Villa. Die ist doch ultramodern, oder? Und dein Kleiderschrank ist bestimmt größer als mein Zimmer. Außerdem hattest du keine Schule.«
»Ich habe Schulunterricht. Und ich lerne freiwillig Russisch.«
»Okay, dazu muss dir wirklich langweilig sein«, gibt sie zu. Dann deutet sie auf ihren Schreibtisch. Auf einem Haufen Pergament liegen meine Briefe. »War aber eine ganz schön waghalsige Aktion, das mit dem Eis essen.«
Ich winke ab. »Ach, der Trubel hat sich doch mittlerweile gelegt. Glaube ich.« Hoffe ich. Ich meine, was ist so interessant an der Geschichte, wirklich? Sollen die Promis doch machen, was sie wollen. Na gut, es ist Tony Stark...
»Abendessen!«, ruft Cellys Mom, Penny, die Treppe hoch.
»Aber du erzählst mir noch alles, okay?«, fragt Celly, als wir uns auf den Weg ins Esszimmer machen.
»Klar.«
Beim Essen (zu meiner Erleichterung unverzaubert aussehender Kartoffelauflauf) lerne ich auch den Vater der Familie, James, kennen, einen braungebrannten Mann mit Brille und ergrauendem Haar. Laut Celly ist er auch ein Zauberer. Ich frage mich, was Zauberer eigentlich arbeiten.
Die ganze Familie ist wirklich unglaublich nett, Celly und ihre Brüder machen die ganze Zeit Späße, und nichtmal Penny kann sie ermahnen, aufzuhören. Ich fühle mich irgendwie fehl am Platz, in dieser wunderbaren Familie, und wieder keimt so etwas wie Neid in mir auf.
Celly hievt mir noch eine Portion Auflauf auf den Teller, wobei die Hälfte daneben landet.
Mit einem Schlenker seines Zauberstabs lässt Chris den Rest verschwinden.
»Angeber«, murmelt Celly laut genug, dass alle es hören und wieder anfangen zu lachen.
Ich liege auf einem Schlafsofa in Cellys Zimmer und beobachte die Mondstrahlen, die durch einen Spalt im Vorhang auf den Kleiderschrank fallen. Ich kann mal wieder nicht einschlafen. Zuhause würde ich aufstehen und mir anders die Zeit vertreiben, aber hier liege ich einfach nur hellwach herum und starre auf den Schrank. Was Tony wohl gerade macht? Wenn er die anderen Avengers zu einer Party im neuen Tower eingeladen hat - ohne mich! - dann kann er was erleben.
Ich drehe mich um. Irgendwie beneide ich Celly um ihr Leben. Sie hat eine Familie, geht in eine Schule und hat dort Freunde. Ein ganz normales Leben. Im weitesten Sinne. Kein Superheld als Vater, der sich liebend gern todbringenden Situationen aussetzt und mal so was von überhaupt keinen Plan von Kindererziehung hat. Aber man kann ja nicht alles haben.
Ich stehe ganz oben auf dem Stark Tower. Am Rand des Abgrunds. Unter mir vermischt sich der Lärm der Stadt zu einem stetigen Rauschen. Alles schwankt. Und dann höre ich wieder seine Stimme. Er ist überall gleichzeitig.
»Er hätte es verhindern können. Seinetwegen ist sie tot.«
Das gleiche hat Loki schon damals auf dem Tower gesagt. Aber was bedeuten diese Worte? Sind das alles Lügen?
Ein Windstoß lässt mich taumeln. Eine Sekunde lang stehe ich mit einem Bein auf der sicheren Plattform und mit dem anderen in der Luft. Für einen kurzen Moment bleibt die Welt stillstehen. Die Autos werden langsamer, der Wind nimmt ab. Dann kommt der Fall. Ich falle und falle und falle, während alles an mir vorbeirauscht. Seltsamerweise habe ich keine Angst. Denn es ist nicht der Fall, der tötet. Es ist der Aufprall.
Ich zucke zusammen und wache dadurch auf. Warum hat Tony mich nicht aufgefangen?, schießt mir als erster Gedanke durch den Kopf. Nein, halt - ich träume nicht mehr. In New York hat er mich vor dem Aufprall bewahrt. Aber was wäre passiert, wenn er das nicht getan hätte?
♦
»Du musst wirklich mit deinem Dad darüber reden«, meint Celly, nachdem ich die Sache mit den Albträumen wieder angesprochen habe.
»Spinnst du? Er würde total durchdrehen. Und außerdem-« Ich greife nach einem Ast und ziehe mich noch ein Stück höher. »was sollte das bringen?«
Celly hievt sich neben mich. Ich lasse meine Beine baumeln und pflücke noch eine Kirsche. Nach einem späten Frühstück sind wir bis zum Waldrand gelaufen, zu einem kleinen Hügel auf denen alte Obstbäume stehen. Penny hat uns außerdem noch allerhand Picknickzeug mitgegeben. Als ob wir verhungern würden.
»Überleg doch mal«, beginnt Celly. Sie trägt ein rotes Spaghettiträgertop und kurze weiße Hosen, und sieht damit aus wie ein Fliegenpilz. »Er hat sich in ein Portal gestürzt um New York - um vielleicht sogar die ganze Menschheit zu retten. Ohne Aussicht auf Erfolg, oder dass er das überhaupt überleben wird. Und er hat dich gerettet, als Loki dich vom Tower geworfen hat. Hat er doch?«
Ich nicke. Allerdings nicht in meinem Traum diese Nacht.
»Wie hat es sich eigentlich angefühlt? Diese Gedankenwäsche?«, fragt Celly mit vorsichtigem Interesse.
Ich denke zurück. »Leer. Als wären alle Gedanken aus meinem Kopf gefegt worden. Wie - wie gar nichts. Zuerst war da dieses... Gefühl der Zufriedenheit. Keine negativen Gedanken, keine Sorgen. Doch dann kam diese Stimme und hat mir Dinge eingeredet, und dann war ich so furchtbar wütend...«
»Und du glaubst, dass diese Gehirnwäsche von Loki immer noch Nachwirkungen hat?«
Glauben? Seit einem Monat ist mein Schlafrhythmus im Eimer, aber sonst ist alles in bester Ordnung, danke der Nachfrage. »Das sind nur ein paar Träume, mehr nicht. Die geh'n schon wieder weg«, winke ich ab und rupfe geistesabwesend Kirschen von einem Zweig.
Wir schweigen.
»Hey, hattest du nicht versprochen, mir alles über die Party zu erzählen?«, bricht Celly schließlich die Stille.
Und ich fange an. Ich erzähle von meinem korallfarbenen Kleid, der Glasvilla, Nicholsons Rede, dem bevorstehenden Vertrag und den Cocktailschirmchen.
»Ich dachte, Tony Starks Ideen wären immer gut, weißt du«, sagt Celly an diese Punkt lachend, »weil er ja ein Genie ist. Aber Eiswürfel - in Cocktailschirmchenform...« Ihr Lachen ist ansteckend, und schon bald hängen wir beide prustend zwischen den Zweigen des Kirschbaumes.
♦
Am nächsten Morgen kündigt sich ein Sommergewitter an. Als Celly und ich beim Frühstück in der Küche sitzen, fängt es an zu schütten.
»Schade, ich dachte wir könnten heute zum See wandern«, sagt Celly enttäuscht.
»Ihr werdet so oder so nass«, meint Conrad beiläufig und schiebt sich ein Stück Kuchen in den Mund.
»Wenn du nichts übrig lässt erzähl ich das Mom.«
Ihr Bruder grinst nur und schlurft aus der Küche.
»Was machen wir stattdessen?«, frage ich.
»Du könntest mir bei meinen Hausaufgaben helfen«, meint Celly grinsend, winkt dann aber ab.
Sie hat ernsthaft Hausaufgaben über die Sommerferien aufbekommen? Okay, vielleicht will ich doch nicht mit ihr tauschen. »Ich versuche dir zu helfen.«
»Du hast doch überhaupt keinen Plan von meinen Unterrichtsfächern.«
»Yep, gerade deswegen wird es lustig.«
Wenig später breitet Celly ihren Schulkram auf dem Wohnzimmerboden aus. »So, beginnen wir damit: ›Der Unterschied zwischen Zauberwesen und Tierwesen bezüglich der Verordnung von 1811‹? Oder lieber ›Die Anwendungsmöglichkeiten von Drachenorganen in Zaubertränken‹?«
Ich verziehe das Gesicht. Nein, ich will lieber nicht wissen, wozu Drachenherzen oder was-weiß-ich benutzt werden. »Das erste.«
»Sicher? Okay, dann... gibst du mir mal das Buch da? Danke. So, mal schauen-« Sie blättert durch das ledergebundene Buch, das ich mir gestern angeguckt habe. »Ne...«, murmelt sie und zieht ein anderes Buch zu Rate, auf dem in goldenen Lettern ›Geschichte der Zauberei Nordamerikas‹ steht.
Es ist tatsächlich sehr unterhaltsam, und nach einer Stunde schwirrt mir der Kopf von so vielen Informationen. Nicht nur, dass Zentauren existieren, sie wollen auch als Tierwesen kategorisiert werden, obwohl sie ja zur Hälfte Pferd sind aber intelligent sind und sprechen können - Informationen, die ich nie wieder brauchen werde. Irgendetwas ganz wichtiges wurde dadurch aus meinem Kopf verdrängt, darauf wette ich.
Ich lege mich flach auf den Wohnzimmerteppich. »Ich kapituliere«, stöhne ich.
Celly grinst und sieht auf die Uhr. »Meine Mom kommt zum Mittag nach Hause. Wir könnten schonmal den Tisch decken.«
»Aber ganz ohne Magie?«
»Klar doch.«
♦
»Also nochmal wegen der Loki-Sache«, sagt Celly nach dem Mittag. Es regnet immer noch, aber die Wettervorhersage kündigt Sonnenschein für die nächsten Tage an.
Ich blättere gerade ein paar Bücher in Cellys Regal durch. Vielleicht leihe ich mir das hier mal aus. Ach Quatsch, ich bitte einfach Tony, dass er es mir kauft.
»Hm?«, frage ich.
»Ich sagte Apropos Loki... naja, in der letzten Woche haben wir eine Art Schnitzeljagd in der Schule gemacht, wo wir unter anderem einem kopflosen Geist helfen mussten und zwei meiner Freunde in Gemälde gesaugt wurden...«
Sie muss meinen verwirrten Blick bemerkt haben und kommt zum Punkt.
»Ja, jedenfalls kamen wir dann in ein verstecktes Verlies, und dort war ein Irrwicht. Ein Irrwicht nimmt die Gestalt deiner größten Angst an, weißt du.« Hier macht Celly eine kurze Pause.
Ich kann mir denken, welche Gestalt dieser Irrwicht hatte. Die Gestalt eines gewissen grünen Clowns. Aber wie würde meiner aussehen? Ist Loki wirklich auch meine größte Angst?
»Ich dachte im ersten Moment, es wäre wirklich er selbst«, fährt Celly fort, »aber du hast ja gesagt, er ist zurück in Asgard. Er sah so echt aus, genauso wie damals auf dem Helicarrier, als er - Ich hatte solche Panik. Ich konnte ihn nichtmal allein besiegen.«
Die Sache mit Phil Coulson habe ich noch nicht vergessen. Immerhin habe ich kein Goldfischgedächtnis. Sein Tod muss Celly und ihrer gesamten Familie zugesetzt haben.
»Loki ist ein Arschloch, das ist nichts Neues«, sage ich bestimmt. »Aber er wird nie wieder Unsinn anstellen können. Das hat Thor versprochen. Außerdem sind wir besser und um Längen cooler als Loki. Der gammelt in einer Zelle vor sich hin und bereut jede einzelne seiner Lebensentscheidungen.«
»Wahrscheinlich.«
Ich klappe das Buch wieder zu und stelle es zurück ins Regal. Cellys Schreibtischstuhl lässt sich nicht drehen, deshalb stütze ich mich nur mit meinen Armen auf die Lehne. »Alles klar, ich habe dir alles über New York erzählt, jetzt bist du dran. Was war das für eine Schnitzeljagd?«
»Das ist eine sehr lange Geschichte. Am besten wir verschieben das auf morgen.«
♦
Trotz des Regenschauers ist das Gras am Ufer des Sees komplett trocken, als wir diesen am nächsten Tag besuchen. Ich werfe mein Handtuch auf die Wiese unter einem Baum, der etwas Schatten spendet. Bis auf ein paar Enten ist der See leer.
»Es ist kein Strand in Malibu-«, beginnt Celly.
»Ich find's toll«, sage ich zufrieden. »Außerdem hatte ich bis jetzt noch keine Möglichkeit, in L.A. an den Strand zu gehen.«
»Echt nicht?«
»Nope. Oder was denkst du, warum ich immer noch so käsig aussehe?« Ich betrachte meine Arme. Na gut, in den Tagen hier auf dem Land bin ich schon ein bisschen brauner geworden. Ich setze meine Sonnenbrille auf und lege mich auf mein Handtuch. »So könnte ich einschlafen«, seufze ich glücklich.
Celly holt ihre Box aus dem Rucksack und macht Musik an.
Ich öffne ein Auge. »House Of Gold? Wie's aussieht hat Josh den Musikgeschmack doch von dir.«
Sie zuckt grinsend mit den Schultern und packt dann eine Tupperdose Wassermelone aus. »Mom hat uns wieder haufenweise Snacks mitgegeben.«
Ich nehme mir ein Stück. »Ich finde das cool. Dann müssen wir wenigstens keinen Seetang essen.«
»Serviert mit frischem Schilfrohr«, ergänzt sie. Wir lachen.
Ich glaube, so viel Spaß hatte ich lange nicht mehr. Die Aussicht, nur in der Villa zu hocken, hätte mir fast den ganzen Sommer verdorben, doch zum Glück hat Celly mich davor gerettet. Ich genieße die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, den Ukulele-Sound und den Duft des womöglich besten Sommers meines Lebens.
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