19.2 | Celly | Eine "ganz normale" Schnitzeljagd
• CELLY •
Als Celly den Klassenraum verlässt, überkommt sie ein Gefühl der Erleichterung.
»Und?«, fragt Amy, die auf sie gewartet hat.
»Ich glaube, es lief gar nicht mal so schlecht.«
»Professor Fontaine wird schon niemanden durchfallen lassen.«
»Hm.«
Die beiden Mädchen treten ihren Weg durch das Schloss zum Pukwudgie-Gemeinschaftsraum an. Die Wärme von draußen kommt gar nicht herein, im Gegenteil, alle Gänge sind angenehm kühl. Die Klassenräume sind hauptsächlich im Nordflügel, und bis ins Erdgeschoss am anderen Ende des Schlosses ist es ein ziemlich weiter weg. Wahrscheinlich sind diese langen Wege und das damit verbundene Laufen der Grund, weshalb es keinen richtigen Sportunterricht in Ilvermorny gibt. Bis auf den Flugunterricht, den Celly besonders liebt.
Celly zieht an einem dicken Wälzer - Enzyklopädie der Giftkräuter - und die Tür zum Gemeinschaftsraum öffnet sich. Bevor sie sich hinter den Mädchen schließt, eilt ein dicklicher Junge herbei. Es ist Elliot. Er schlüpft gerade so noch zwischen den Büchern hindurch.
»Das war knapp«, schnauft er. »Achja, und alles Gute zum Geburtstag, Celly!«
Auf dem Weg zu den Mädchenschlafsälen wird Celly noch von vielen anderen beglückwünscht, die wohl gerade keinen Unterricht haben. Conrad drückt ihr mit einem Zwinkern ein kleines, sehr unordentlich verpacktes Päckchen in die Hand. Chris sieht Celly frühestens beim Mittagessen, weil er wahrscheinlich im Donnervogel-Gemeinschaftsraum im Nordturm ist, und zum Frühstück war er nicht in der großen Halle.
Im Schlafsaal der Drittklässler erwartet sie eine Überraschung. Auf der Kommode vor dem Fenster sitzt die Schneeeule ihrer Eltern und...
»Frodo! Sie hat es geschafft!«, jubelt Celly und streicht ihrer Eule über das Gefieder. Sie plustert sich auf. Celly nimmt das Paket ihrer Eltern. ›Alles Gute zum Geburtstag! Ich hoffe, du hast einen schönen Tag mit deinen Freunden. Bis nächsten Sonntag! Liebe Grüße von Mom & Dad‹, steht auf der beigefügten Karte. Sie macht das Geschenkpapier auf. Eine Feder und ein Notizbuch kommen zum Vorschein.
»Cool«, sagt Amy und nimmt die Feder in die Hand. »Ist die selbstschreibend?« Auch Amys blau-graue Katze Minze schnuppert an dem Geschenk. Misstrauisch beäugt sie dann die beiden Eulen. Sie beschließt, sich lieber nicht mit diesen gefiederten Tieren anzulegen und rollt sich auf Amys Schoß zusammen.
Celly streicht über den Einband des Buches. Die Blättermaserung fühlt sich unter ihren Fingern an wie Leder, und als sie es aufklappt, schlägt ihr ein frischer Waldgeruch entgegen. Magisch.
Frodo kneift ihr ungeduldig in den Arm.
»Deine Eule hat da noch ein Päckchen«, bemerkt Amy.
Aufgeregt löst Celly den Brief von Frodos Bein. Sie wickelt das Geschenkpapier ab - sonderlich schön hat Judy das nicht verpackt. Aber sie hat den Brief bekommen und zurückgeschrieben, und das macht Celly glücklich.
»Wow«, meint Amy, die ihr über die Schulter guckt. »So eine habe ich noch nie gesehen.«
Celly dreht die Muschel in ihrer Hand. Sie hat die Form einer Schnecke, und glänzt, je nach Lichtverhältnis, in den unterschiedlichsten Farben. Celly hält sie sich ans Ohr. Zuerst hört sie nichts, doch dann bildet sie sich tatsächlich ein, das Meer rauschen zu hören. Sie erinnert sich an die Ferien vor etwa fünf Jahre, als sie mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern auf Long Island gecampt haben. Dort gab es zwar ein Meer, aber nicht so schöne Muscheln wie die hier. Fasziniert legt sie die Muschel auf ihre Kommode. Den Brief wird sie später lesen, und natürlich antworten.
Jetzt öffnet Celly erstmal das Geschenk, das Conrad ihr gegeben hat. Es ist eine große Packung Bertie Botts Bohnen. Das sieht ihm ähnlich.
»Willst du eine?«, fragt sie Amy und hält ihr die Packung hin. Sie nickt.
Beide halten eine der Bohnen in der Hand. »Okay, auf drei. Eins, zwei, drei!«
Sofort verzieht Amy das Gesicht und schüttelt sich. »Bah, ich hasse Rosenkohl.«
»Ich glaube, ich hab Waschlappen«, meint Celly angewidert.
Ein Schrei, gefolgt von einem dumpfen ›Klonk‹, aus dem Badezimmer lässt sie zusammenzucken.
»Orpha? Alles in Ordnung?«, ruft Celly und nähert sich der Tür.
»Da war was!«, ruft die Blondine schrill und deutet auf die geflieste Wand. Das dumpfe Geräusch wurde offensichtlich von ihrer Haarbürste verursacht, die nun auf dem Boden liegt.
»Da ist nichts.« Amy, die hinter Celly ins Bad kommt, untersucht die Wand.
»Nein, da war ein... eine riesige Spinne!«
»Spinnen machen dir immer noch Angst?«, fragt Amy und zieht eine Augenbraue hoch.
»Die hatte mehr Angst vor dir, als du vor ihr«, meint Celly tröstend.
Orpha geht in einem großen Bogen zur Tür. »Ich gehe da trotzdem nicht mehr rein.« Damit verschwindet sie.
Amy und Celly sehen sich schulterzuckend an.
Zum Mittagessen gehen Celly und ihre Freunde wieder in die große Halle. Celly hat gehofft, Chris würde kommen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, aber er ist immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Komisch. Das macht er doch sonst nie? Celly teilt ihre Bedenken mit den anderen.
»Vielleicht lernt er?«, sagt Ben.
»Oder er ist krank.«
»Oder er hat 'ne Freundin.«
»Oder er übt verbotene Flüche, um sie Professor Welsey aufzuhalsen.«
Alle sehen Rylan an.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich mein ja nur.«
»Ihm wird schon nichts passiert sein«, sagt Gen. »Ich gucke nachher mal, ob ich ihn im Gemeinschaftsraum sehe.«
»Wo warst du eigentlich während des Quidditch-Spiels?«, fällt Celly noch ein.
»Ich bin in der Schule rumgelaufen.« Sie dreht gedankenverloren Spaghetti auf ihre Gabel und erzählt nicht weiter.
♦
»Also, Pläne für die nächsten paar Tage?«, fragt Rylan und räkelt sich auf den Steinstufen vor der Eingangshalle. Die Freunde sitzen in der Sonne und genießen ihre freie Zeit. Die Prüfungen sind vorbei, bis zu den Zeugnissen haben sie noch eine Woche frei.
»Ich weiß nicht.« Celly macht sich natürlich immer noch Sorgen um ihren Bruder. Gen ist noch nicht zurück.
»Ich will einfach nur die Sonne genießen«, meint Amy.
Ben schwingt seinen Zauberstab. Schon seit dem Mittagessen versucht er, Rylans Zauberspruch nachzuahmen. Aber es klappt nicht. Celly sieht ihm bei seinen Versuchen zu.
»Na ihr?« Kaira lässt sich neben die kleine Gruppe auf die Stufen fallen. »Ben, so wird das nie was. Habt ihr morgen schon was vor?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Ein paar der Fünftklässler organisieren eine Schnitzeljagd durch das Schloss, wisst ihr, so wie bei den No-Majs, nur mit Magie«, erzählt sie aufgeregt. »Alle Drittklässler und Viertklässler dürfen da mitmachen. Habt ihr Lust?«
»Klar!«, ruft Rylan sofort.
»Die Fünftklässler haben das organisiert? Das kann ja was werden«, lacht Amy. »Aber wieso nicht?«
»Ich bin dabei«, sagt auch Ben.
»Und du, Celly?«
Sie schreckt aus ihren Gedanken hoch. »Ja, von mir aus«, murmelt sie.
Kaira klatscht in die Hände und steht wieder auf. »Super. Morgen nach dem Frühstück vor der Bibliothek, alles klar?«
Celly nickt geistesabwesend.
In der Nacht wälzt sie sich unruhig hin und her. Amy, Kaira, Orpha und Rachel schlafen schon längst, aber Celly schwirren zu viele Gedanken im Kopf herum. Wo ist Chris? Er ist ihr älterer Bruder, er wird schon auf sich aufpassen können, aber... Sollte sie ihren Eltern schreiben? Aber ehe die antworten, ist die Schule schon längst vorbei, also ist das keine Option. Vielleicht sollte sie zu einem Lehrer gehen. Ja, das wäre wohl eine gute Idee. Sie könnte sich aber auch in den Donnervogel-Gemeinschaftsraum schleichen, und dort nach ihm suchen.
Celly hat noch nie eine Schulregel gebrochen, und darauf ist sie auch sehr stolz. Im Gegensatz zu Conrad, die Liste seiner Verbrechen ist unendlich lang. Celly fasst einen Entschluss: Sie muss zu allererst mit Conrad reden. Er weiß bestimmt, was zu tun ist.
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Nach dem Frühstück treffen sich, wie vereinbart, alle Dritt- und Viertklässler vor der Bibliothek.
»Ich habe gehört, wer gewinnt, bekommt eine ganze Wagenladung voll Bertie Botts Bohnen!«, sagt ein Schüler aufgeregt.
»Ja, dafür ist die letzte Aufgabe, gegen einen ausgewachsenen Troll zu kämpfen.«
»Nein, wer gewinnen will, muss gegen Professor Fontaine im Duell antreten!«
»So ein Schwachsinn«, sagt Amy kopfschüttelnd.
Celly wartet auf ihren Bruder. Da die Fünftklässler das hier organisiert haben, muss auch er dabei sein. Eine Gruppe von ihnen kommt den Gang zur Bibliothek entlang. Celly erkennt Alice und Sean aus dem Quidditch-Team, den Vertrauensschüler von Pukwudgie, Quentin Tadeo, und noch vier andere Schüler. Conrad ist nicht dabei.
»Das kann doch nicht wahr sein«, seufzt Celly.
Alice baut sich vor den jüngeren Schülern auf, die erwartungsvoll schweigen.
»Schön, dass ihr alle gekommen seid«, sagt sie mit lauter Stimme. »Also, wie ihr vielleicht schon wisst wird das hier eine Schnitzeljagd. Allerdings keine langweilige wie bei den No-Majs, sondern eine magische Schnitzeljagd. Es ist ganz simpel: ihr teilt euch in Dreier- bis Vierergrüppchen auf und findet die Hinweise. Der erste ist hier in der Bibliothek. Aber seid vorsichtig: Ihr müsst davon ausgehen, dass alles verzaubert ist.«
»Dürfen wir auch selbst zaubern?«, fragt ein sommersprossiges Mädchen aus dem Vierten Jahr.
»Ihr dürft nicht nur, ihr müsst sogar«, sagt Sean grinsend.
Tuscheln erhebt sich. Schnell finden sich kleine Gruppen. Rylan und Ben schließen sich Celly und Amy an. Letztere geht noch ein paar Zaubersprüche durch, die nützlich sein könnten.
»Alles klar? Dann los!« Ein Mädchen aus Donnervogel lässt grüne Funken aus ihrem Zauberstab sprühen, dann rennen alle Teams in die Bibliothek.
»Der erste Hinweis, der erste Hinweis«, wiederholt Ben. Sie sehen sich um. Die anderen Schüler sind schon dabei, Bücher aus den Regalen zu nehmen. Mr Crossfield, der Bibliothekar, nimmt das mit zusammengekniffenen Augen hin.
Die Vier drehen sich im Kreis, Rylan schlägt ein Magazin auf, das auf dem Tisch liegt. Aber Celly kann sich kaum konzentrieren. Sie wollte ihre Freunde nicht enttäuschen, deswegen ist sie mit zu der Schnitzeljagd gekommen. Aber eigentlich interessiert sie das gar nicht. Sie sucht die Bibliothek mit ihren Augen ab, vielleicht auch weil sie hofft, Chris zu finden. Ja, es ist lächerlich, aber trotzdem. Da fällt ihr etwas auf. Das Schild da hängt verkehrt herum, oder?
»Hey Leute, ich glaub ich hab da was«, sagt sie.
Sie laufen auf das Schild zu, und Amy dreht es um.
»Wo Ohren rauchen, Stifte schmoren, haben wir den Kopf verloren«, liest sie vor. »Was soll das heißen?«
»Das ist der nächste Ort, an dem wir suchen müssen«, sagt Ben.
»Aber das könnte überall sein! Irgendein Klassenzimmer wahrscheinlich.«
»Dann los.« Rylan rennt vor den anderen aus der Bibliothek. Anscheinend haben andere Teams den Hinweis schon früher entdeckt, denn sie sind nicht die einzigen in den Gängen.
Während sie laufen, überlegt Celly laut. »Den Kopf verloren... wer von euch denkt da noch an Karl den Kopflosen?«
Rylan schlägt sich vor die Stirn. »Na klar!«
Sir Karl ist einer der wenigen Geister auf Ilvermorny. Irgendwann im letzten Jahrhundert hat er durch einen Unfall seinen Kopf verloren. Er selbst erzählt jedem, der es hören will, die gesamte Geschichte; jedenfalls liebt er es, Schüler mit seinem abgetrenntem Geisterkopf zu bewerfen. Manchmal vergisst er auch, wo er ihn abgelegt hat. Auf der Spitze des Astronomieturms zum Beispiel.
»Also müssen wir Karls Kopf finden, oder?«, fragt Celly.
»Ja, dort wo Ohren rauchen, Stifte schmoren.«
»Ich denke, wir sollten es zuerst im Kerker bei den Klassenräumen für Zaubertränke versuchen«, sagt Ben.
Sie rennen also zu der Treppe, die ins Untergeschoss führt. Als sie um die Ecke laufen, erwartet sie allerdings eine böse Überraschung.
»Wand!«, ruft Amy noch panisch, aber Celly und Rylan laufen volle Kanne dagegen. Ben kann noch rechtzeitig abbremsen.
Celly sieht nur noch Sternchen. »Autsch.« Wer baut denn eine Wand mitten in den Weg? Aber das bedeutet wahrscheinlich, dass sie auf dem richtigen Pfad sind. Sie rappelt sich wieder hoch. Rylan stöhnt und fasst sich an den Kopf. Das wird eine Beule.
»Eine Wand? Hier war doch nie eine Wand«, sagt Ben verwirrt.
Celly befühlt ihren schmerzenden Kopf. »Jetzt anscheinend schon. Und die fühlt sich ziemlich real an.«
»Wie kriegen wir die weg? Gibt es einen Wand-verschwinde-Zauberspruch?«
Amy murmelt schon diverse Zaubersprüche vor sich hin. Schließlich sieht sie auf. »Ich glaube, das könnte funktionieren.« Sie krempelt ihre Ärmel hoch und bringt ihren Zauberstab in Position. Die anderen treten zur Seite. »Revelio!«
Die Wand verschwindet tatsächlich und gibt den Weg in die Kerker frei.
»Du hast es geschafft!«, jubelt Celly.
Aber in diesem Moment kommt eine weitere Gruppe an Wampusjungs an ihnen vorbeigerannt.
»Hey!«, ruft Rylan wütend. »Los, hinterher!«
»Warte!« Celly hat etwas hinter einer staubigen Rüstung aufblitzen sehen. Neugierig kommt sie näher. Sie klappt das Visier des Helmes auf. »AAAAAAAAHHHH«, schreit sie im nächsten Moment. Sie stolpert zurück zu den anderen, denn was aus der Rüstung kommt, sieht keineswegs nett aus.
Was auch immer es ist, es sieht aus wie ein mörderisches, riesiges, blaues Chamäleon auf Drogen. Sein gesamter Körper ist mit Stacheln überzogen. Als es Celly anfaucht präsentiert es mehrere Reihen spitzer Zähne; die roten Augen funkeln angriffslustig.
»LAUFT!«, schreit Amy. Das lassen sich die Kinder nicht zweimal sagen. So schnell wie möglich rennen sie die Treppen in die Kerker hinab, biegen hier ab, dort ab, und bleiben schließlich außer Atem vor einer Tür aus grobem Holz stehen.
»Was - war - das.« Sie ringen nach Luft.
»Gehörte das zum Spiel?«, fragt Ben zweifelnd.
»Ein Chupacabra«, bringt Amy keuchend hervor. »Ein Blutsauger aus Mexiko.«
»Okay, nächste Frage: wie zur Hölle kommt das hier ins Schloss?«
Darauf weiß keiner eine Antwort. Kurz stehen sie nur da, um wieder zu Atem zu kommen. Aus der Ferne hören sie das Lachen der anderen Schüler, das in den Verliesen widerhallt.
»Wir sollten weitersuchen«, schlägt Celly schließlich vor, auch wenn ihr der Schreck noch tief in den Gliedern sitzt.
Amy ist da anderer Meinung. »Nein, wir sollten einem Lehrer Bescheid geben, wenn sowas Gefährliches hier frei rumläuft...«
»Das können wir auch später noch machen«, sagt Rylan, der langsam ungeduldig wird, »aber die anderen holen uns ein. Los, ich will nicht ewig in diesen Kerkern rumhängen.«
Also treten die vier den Rückweg an, was nicht leicht ist, da sie sich hier kaum auskennen. Irgendwo in den Kerker ist der Gemeinschaftsraum von Wampus, aber mehr wissen sie auch nicht. Plötzlich hören sie ein Heulen aus einem der Klassenräume.
»Das ist Karl«, flüstert Ben, der die Geister der Schule am besten kennt. Sie lugen nacheinander in den spärlich beleuchteten Raum. Auf dem Lehrertisch liegt ein blasser Kopf, beinahe durchsichtig. Die weißen Haare stehen wild in alle Richtungen ab, aber der Spitzbart sieht aus wie frisch frisiert. Er stößt ein schauerliches Heulen aus. Rylan traut sich als erster in den Raum.
»Ähm, Hi Karl«, sagt er. Amy stößt ihn an.
»Sir Karl, könnten Sie uns vielleicht-«
»Ich weiß was ihr wollt«, sagt der Kopf und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. »Genau das Gleiche wie die anderen Gören vor euch. Ihr wollt weiter, ihr wollt gewinnen, stimmt's?«
»Das wäre nett, glaub ich.«
»Na dann kann ich euch sagen VERSCHWINDET VON HIER, SOFORT.« Die Freunde zucken zusammen, als der Kopf von Karl plötzlich losschreit. Amy weicht ein Stück zurück. Das hatten sie nicht erwartet. »DEN GANZEN TAG SCHON MUSS ICH HIER RUMLIEGEN, KÖRPERLOS-«
»Und was, wenn wir dir helfen, den - ähm - Rest von dir zu finden?«, fragt Celly einer plötzlichen Eingebung folgend.
»Mir helfen? Ihr?« Auf einmal wirkt der Kopf nicht mehr wütend, sondern höchst amüsiert. Sein Schnurbart kringelt sich. »Ja, das wäre wirklich eine gute Idee. Eine sehr gute Idee sogar. Was haltet ihr davon: Ihr findet meine bessere Hälfte, und ich verrate euch, wie es weitergeht?«
»Das ist idiotisch«, murmelt Ben so leise, dass Karl es nicht hören kann.
»Aber was sollen wir sonst machen? Wir können ihn schlecht hier liegen lassen«, sagt Celly.
»Nur so kommen wir weiter«, stimmt Rylan zu. Dann dreht er sich zu dem Kopf. »Wir nehmen Ihr Angebot an.«
Wieder zieht Karl eine Fratze. »Ausgezeichnet.« Zum Schrecken der Kinder erhebt sich der Kopf und schwebt auf die Tür zu. »Worauf wartet ihr noch?«
Amy zuckt mit den Schultern und folgt ihm als Erste. Sie gehen die Treppe wieder hoch.
»Also, wo lang jetzt?«, fragt Celly. Sie hat keine Lust, nach links zu gehen, in der Panik, dort wieder auf dieses Chupacabra-Wesen zu stoßen. Die anderen entscheiden sich für rechts, also laufen sie wieder zurück in die Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen sind. Karl redet ununterbrochen.
»...damals, da war dieses Schloss noch voller hilfsbereiter Schüler und ausgebildeter Lehrer ... aber das muss schon Jahrhunderte her sein, damals, als ich als frisch Geköpfter hier herum geisterte ... Kennt ihr schon die Geschichte über meinen tragischen Tod?«
Fast gleichzeitig stöhnen die Freunde auf. Natürlich kennen sie die Geschichte. Was Karl nicht davon abhält, sie mit allen Einzelheiten nochmal zu erzählen.
»Woher weiß er, wo wir hingehen?«, fragt Ben flüsternd. Celly, die neben ihm läuft, zuckt mit den Schultern.
»Vielleicht hat er ein Gespür dafür, wo der Rest seines Körpers ist...« Sich das vorzustellen, lässt Celly das Gesicht verziehen. Hoffentlich muss sie nie als Geist ihre Zeit in dieser Schule fristen.
»So, da wären wir«, sagt Karls Kopf und stoppt in einem Korridor im dritten Stock.
»Wo?« Rylan sieht sich irritiert um.
»Na, da wo ihr hinwolltet. Oder nicht?« Der Geisterkopf tänzelt um die Freunde herum.
»Aber wir haben deinen... Körper noch gar nicht gefunden.«
»Oh doch, habt ihr.« Etwas milchig-weißes kommt aus einer Rüstung herausgeschossen, schwebt durch Celly hindurch und platziert sich direkt unter dem in der Luft hängendem Kopf. Celly schaudert. Für einen Moment hat es sich angefühlt, als würde sie unter einer eiskalten Dusche stehen. Warum schwebt Karl auch direkt durch sie hindurch?
»Warte mal... du wusstest also die ganze Zeit, wo du warst?«, sagt Rylan empört.
»Ganz richtig.« Karl grinst von einem Ohr bis zum anderen und wirft seinen Kopf hin und her. »Mich zu suchen, war nie das Wichtigste an dieser Etappe.«
»Was soll das heißen?«, ruft Ben noch, aber der Geist ist schon weiter die Treppe hochgeschwebt. Er stößt noch ein mehr oder weniger schauriges Heulen aus, dann fliegt er endgültig davon.
»Und was sollen wir jetzt hier?«
Das ist eine gute Frage. Sie stehen in einer Art Foyer, an zwei Seiten sind große Fenster in die Wand eingelassen. Auf der Treppe liegt ein schwerer, roter Teppich, und rings herum hängen große Portraits von berühmten Zauberern.
»Sind wir im Westflügel?«, fragt Rylan verwirrt. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir in diese Richtung gelaufen sind.«
»Oben sind die Klassenräume für Wahrsagen und Arithmantik«, erklärt Amy, aber auch sie kneift skeptisch die Augen zusammen. »Vielleicht sollten wir hochgehen.«
»Vielleicht auch nicht.« Interessiert betrachtet Ben eines der Bilder, ein Stillleben. Auch Celly geht von Bild zu Bild, auf der Suche nach etwas, dass ihnen helfen könnte. Vor dem Portrait eines alten Zauberers mit einem blauen Spitzhut bleibt sie stehen. In der Zauberwelt bewegen sich die Gemälde, so auch dieses.
»Sir?«, fängt Celly an. Sie liest den Namen unter dem Rahmen. »Professor Zippler?«
»Ihr vergeudet meine Zeit. Ich bin beschäftigt«, wimmelt der Zauberer sie ab.
»Beschäftigt womit?«
»Mit... Dingen. Ihr verwirrt mich.«
Der Typ wird ihnen auf jeden Fall nicht helfen. Als Celly zum nächsten Bild weitergeht, lässt ein Schrei sie herumfahren. Amy rennt auf die Stelle zu, an der kurz zuvor noch Ben gestanden hat.
»Wo ist er hin?«
Eine dünne Stimme weht zu ihnen herüber. »Ich bin hier! Hallo! Leute!« Sie scheint aus einem der Gemälde zu kommen, dem Stillleben. In der Landschaft mit Bäumen und einem See, auf dem ein paar Schwäne schwimmen, steht eine kleine Person, die dort definitiv nicht reingehört. Und sie winkt ausgiebig. »Hier bin ich! Helft mir!« Die Schwäne schnattern und fliegen empört aus dem Bild.
»Wie bist du denn da reingekommen?« Rylan beugt sich vor und tippt mit einem Finger in das Gemälde hinein, auf Ben. Wie durch einen Tornado wird er von seinen Füßen gerissen. Er dreht sich, immer schneller - und wird in das Bild gesogen. Keine Sekunde später starren Amy und Celly zwei kleine Gestalten aus dem Gemälde an.
»Was ist passiert?«, schreit der kleine Rylan panisch und rennt umher.
Die Mädchen brechen wider Willen in Gelächter aus.
»Was? Was ist so lustig?« Je wütender Rylan wird, desto mehr schütteln sie sich vor Lachen.
»Helft uns lieber, hier rauszukommen!«, sagt Ben. Auch er wird langsam ungeduldig.
»Okay, könnt ihr nicht einfach wieder aus dem Gemälde, ich weiß nicht, rauslaufen, vielleicht?«, schlägt Amy vor.
Die Jungs versuchen es. Ohne Erfolg. »Vor und zurück geht nicht«, sagt Ben niedergeschlagen. Nachdenklich läuft er zwischen den Bäumen umher, während Rylan den Bilderrahmen neben dem Stillleben betastet.
»Hier ist 'ne Tür«, sagt er schließlich.
»Wohin führt die?«, fragt Ben.
»Probier's doch aus.« Damit schubst Rylan seinen Freund durch die Tür, oder, wie es aus Cellys Perspektive aussieht, aus dem Bild heraus. Fast augenblicklich kommt er ins nächste Gemälde gestolpert, und wirft damit den Kaffeetisch von drei Hexen um, die ihn empört mustern.
»Sorry«, sagt er zerknirscht. Dann sieht er auf Celly und Amy herab. »Guckt mal, jetzt bin ich schon größer, oder?«
»Ja... vielleicht musst du ein Gemälde finden, in dem du wieder originalgroß bist?«, überlegt Celly.
Ben nickt und hüpft ins nächste Bild. Angeleitet von Celly und Amy quetscht er sich zwischen einer Gruppe vermummter Gestalten hindurch, klettert über umgestürzte Baumstämme in einem düsteren Wald, rennt schnell durch ein Bild von Werwölfen und gelangt nach einigem hin und her in ein lebensgroßes Porträt von Isolt Sayre, der Gründerin von Ilvermorny, ihren Kindern und ihrem Mann. Sie lächeln ihm zu, sagen aber nichts.
»Versuch, rauszuspringen!«, sagt Celly.
Ben nimmt Anlauf. Nicht die beste Idee, denn das Gemälde ist auf Bodenhöhe angebracht. Wahrscheinlich hätte es gereicht, wenn er einfach rausspaziert wäre. So aber überschlägt er sich sehr unelegant, bevor er auf dem Teppich liegen bleibt. »Au«, murmelt er.
»Ist er draußen? Hat es funktioniert?«, ruft Rylan von der anderen Seite der Halle herüber. Er steht immer noch in dem Landschaftsbild. »Dann komm ich jetzt auch rüber zu euch.« Wieder ertönt das Kreischen der drei Kaffee-Hexen, als Rylan durch die Gemälde wandert. Er braucht länger als Ben, weil er manchmal partout nicht einsehen will, diesen oder jenen Weg zu gehen. So fliegt er einmal in hohem Bogen in ein Moor, und kommt am Ende völlig durchnässt aus dem Gründer-Porträt heraus. Wieder kringeln sich die anderen vor Lachen.
»Sehr witzig«, sagt Rylan augenverdrehend. Mit einem Schwenker seines Zauberstabs trocknet er seine nassen Sachen. »Seht ihr? Schon weg.«
Er lehnt sich gegen den Goldrahmen des Gemäldes hinter ihm. Plötzlich sackt dieser nach unten.
»Das - das war ich nicht!«, beteuert Rylan.
Nun schwingt das Gemälde vollständig zur Seite und gibt den Blick auf ein dunkles Loch frei. Kalter Wind kommt ihnen entgegen. Ist es ein Gang? Und wenn ja, wohin führt er? Celly hat schon längst aufgehört, sich zu fragen, was noch zur Schnitzeljagd gehört, und was nicht. Beim Anblick dieses dunklen Gangs kommen all ihre Zweifel wieder hoch. Sie sollte Conrad suchen, um Chris zu finden. Sie sollte nicht bei dieser Schnitzeljagd mitmachen, nicht in dieses Loch kriechen. Sie könnte ganz gemütlich auf der Schlosswiese in der Sonne sitzen, aber nein...
»Du gehst zuerst«, bestimmt Amy.
»Ich?«, fragt Rylan entgeistert und starrt in die Dunkelheit.
»Du hast es entdeckt.«
Er zögert immer noch.
»Oder hast du etwa Angst?«
Damit hat Amy einen wunden Punkt getroffen. Sofort strafft Rylan seine Schultern. Er fährt sich durch das noch feuchte, dunkle Haar. »Natürlich nicht. Aber bleibt dicht hinter mir, ja?«
Nach diesem Versprechen betritt er den Gang. Die anderen folgen ihm, Celly als letztes. Sobald sie durch den Türbogen tritt, hat sie das Gefühl, von der Finsternis verschluckt zu werden.
~
It is Wednesday, my dudes. Auf das ihr in dieser Hitze nicht umkommt.
(Dieses aesthetic ist bis jetzt mein Favorit.)
Hier eine Kartoffel für das lange Kapitel:
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