Dauerschleife
„Wenn du das Teil fallen lässt, töte ich dich", warnte ich und wich einen Schritt zurück, als er abrupt vor mir stehenblieb.
„Immer so steif", grinste er, bevor er die Arme senkte und mir Frau Durand überreichte. „Bitte schön! Einmal eingeäscherte Französin mit gemahlenen Oberschenkelknochen und ohne Zahngold. Darf es sonst noch etwas sein?"
„Passt schon. Ich glaube, ich habe keine weiteren Verstorbenen auf meiner Liste."
„Zu schade. Aber ich biete auch noch andere Dienstleistungen an." Er wippte langsam vor und zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Welche, die nichts mit Leichen zu tun haben."
„Ich hab's eilig."
„Hast du jedes Mal." Geschürzte Lippen. Dann wurde seine Stimme regelrecht zu einem Schnurren. „Wir könnten heute Abend einen trinken gehen. Du lädst mich ein und dafür-"
„Louis." Ich sprach seinen Namen aus wie eine Beleidigung. Es war nicht einmal extra. „Du weißt, dass-"
„Ja, ja, schon kapiert." Er seufzte. „Aber dir würde etwas Abstand zu David wirklich mal guttun."
„Er braucht mich."
Seine hochgezogene Braue belehrte mich eines Besseren.
Ich presste die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. „Wir haben nur noch einander."
„Isa." Seine Hand traf auf meinen Oberarm. „Du weißt aber schon, dass diese Denkweise dir absolut nicht hilft, oder?"
Natürlich wusste ich das. Dachte er, es gäbe für mich auch nur einen einzigen wachen Moment, in dem ich nicht von mir selbst damit konfrontiert wurde, wie abscheulich ich bin benahm?
„Ich muss gehen", murmelte ich und trat ohne weitere Verabschiedung den Rückzug an.
„Ich war mal so frei und hab ein bisschen was eingekauft, bevor die Kakerlaken bei dir noch verhungern."
David ging einen Schritt von seiner Wohnungstür weg und ließ mich eintreten. „Ich habe keine Kakerlaken."
„Weißt du nicht. Die kommen nur spät nachts raus."
„Ich bin nachts wach."
„Ach ja? Und warum?"
Aber ich bekam keine Antwort auf meine Frage. Er lief einfach an mir vorbei in die Küche. „Was hast du geholt?"
„Brot, Käse, Milch, Obst, bisschen Gemüse ... und ein paar Tiefkühlpizzen. Margherita."
Sein Gesicht erschien hinter der geöffneten Kühlschranktür. In einer Hand hielt er eine Flasche Wasser. Das Plastik war beschlagen. „Danke."
„Mm, kein Problem." Ich ging auf ihn zu und half ihm, alles in den Fächern zu verstauen. War nicht schwierig, seine Schränke waren so leer, als würde er überhaupt nicht hier wohnen. Im Gemüsefach war nur ein Strauch Brokkoli, der schon bessere Tage gesehen hatte. „Das sollten wir auf jeden Fall auswaschen."
„Wozu?"
„Weil sich dort Schimmel angesammelt hat. Du kannst dein Zeug nicht dreißig Jahre dort lagern."
„Ich sehe keinen Schimmel."
Gott, war ich froh, dass ich noch nie Essen von ihm angenommen hatte. Nicht, dass er mir jemals etwas gekocht hätte, dafür war ich zuständig.
„Und die Joghurts sind auch schon schlecht. Hier", seufzend hielt ich ihm das Ablaufdatum vor die Nase, „seit zwei Wochen schon."
„Man kann Milchprodukte auch nach dem Ablaufdatum noch essen."
„Ja, Tage danach und nicht-" Kopfschüttelnd warf ich die Becher in den Müll. „Ist egal. Achte einfach nur ein bisschen besser drauf, sonst angelst du dir eine Lebensmittelvergiftung. Damit ist nicht zu spaßen."
„Ich kann auf mich selbst aufpassen." Er schmollte, während ich weiter aussortierte und schließlich meine Mitbringsel einräumte, kommentarlos, weil mir genau das viel zu sehr bewusst war. Würde ich ihn einfach machen lassen, würde ich ihn diese verdammte Lebensmittelvergiftung bekommen lassen, könnte er daraus lernen. Er könnte eigenständig werden.
Und davor hatte ich Angst.
„Geh ins Wohnzimmer oder so", wechselte ich das Thema. „Ich mache uns Grießbrei."
„Ich könnte dir helfen ..."
„Alleine geht es schneller. Mach es dir bequem, lies ein Buch. Oder such uns einen Film raus, was weiß ich."
„Bist du sicher?" Er stellte sich zu mir an die Arbeitsfläche seiner schmalen Küchenzeile und kratzte über eine eingebrannte Stelle auf der Herdplatte. Darum musste ich mich später auch noch kümmern. „Wir könnten das zusammen machen."
„Ein andermal, ja? Ich will's nur schnell hinter mich bringen und mich dann endlich ausruhen. Mein Tag war scheiße anstrengend."
„Na gut." Er fuhr sich über den Nacken. Ganz kurz trafen sich unsere Blicke und ich spürte einen Stich.
Ich war ein beschissener, großer Bruder.
„Warte." Widerwillig griff ich nach seinem Arm, bevor er den Raum verlassen konnte. „Vielleicht kannst du mir doch helfen."
„Ja?" Er strahlte mich an wie ein instabiler Atomreaktor. Seine körperliche Nähe fühlte sich auch mindestens genauso schädlich an. „Was soll ich tun?"
Mir einen blasen.
„Du brauchst einen Topf, einen Messbecher, Milch und Zucker. Und die Packung mit dem Grieß. Dann nimmst du ..."
David zuzusehen, wie er für uns kochte, glich einem Autounfall. Er war ungeschickt und nervös, seine Hände zitterten. Ich sagte nichts dazu, dass er beim Aufreißen des Beutels einen Teil auf den Boden gekippt hatte oder die Sojamilch ein kleines Bisschen angebrannt roch, weil er die Pampe nicht durchgehend umgerührt hatte. Ich wollte es, wollte ihm zeigen, dass er nicht ohne mich konnte, aber ich hielt mich zurück.
Stattdessen log ich: „Sieht gut aus."
„Es ist verkohlt."
„Mach einfach etwas mehr Zucker rein, dann schmeckt man das gar nicht."
„Nein." Er ließ den Kochlöffel ins Waschbecken fallen. „Es ist besser, wenn du das das nächste Mal wieder selbst machst."
„Quatsch, du-"
„Ich gehe lesen." Er schlurfte aus dem Zimmer und ich sah ihm nach, ihm und seinen hängenden Schultern.
Siehst du?, murmelte es in meinem Kopf. Er braucht dich. Du kannst ihn nicht alleinlassen, weil er dich braucht. Er kommt nicht ohne dich zurecht.
Ich atmete tief ein. Dann bereitete ich uns eine neue Portion Grießbrei zu.
David wartete im Wohnzimmer auf mich. Es war ein spärlich eingerichteter Raum mit eher altmodisch anmutenden Möbeln und einem Fernseher, der vermutlich keine Sender mehr empfangen konnte. Netflix funktionierte trotzdem einwandfrei.
„Was hast du ausgesucht?", fragte ich betont fröhlich und ließ mich neben ihn fallen.
Er saß mit angezogenen Knien da, die rechte Hand um die Fernbedienung gekrallt. Sein kleiner Finger stand etwas nach außen – Folge eines Unfalls, den er mit vierzehn gehabt hatte. „Butterfly Effect."
„Haben wir den nicht schon gesehen? So um die fünfzig Mal?"
„Siebzehn", antwortete er etwas verspätet und lehnte sich zurück. Seine Augen hingen am Bildschirm, während er mir seine Schüssel Grieß mit Heidelbeer-Topping abnahm und es sich im Schneidersitz bequem machte, den Löffel bewegungslos im Brei. Ich sah ihm dabei zu, sah seine Augen, die über den Bildschirm tanzten, das Lichtspiel auf seinen Wangen.
So wunderschön.
„Willst du was trinken?" Sein Blick zuckte kurz zu mir, in einem Moment aufflackernder Gastfreundschaft. Er benahm sich auch zu Hause so, als wäre er zu Besuch – wenn man davon absah, dass er bei anderen, also mir, alles anfassen und durchforsten musste, was ihn einen feuchten Kuhfladen anging.
Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut."
„Okay." Vor uns flimmerten die ersten Sekunden des Films vor sich her, dann entzwirbelte er seine Beine und schwang sie über die Kante. „Ich hole mir Saft."
„Du isst gerade was, das hauptsächlich aus Milch besteht. Wenn du jetzt Saft trinkst, kriegst du Bauchschmerzen", meinte ich.
Er hatte innegehalten, halb aufgestanden. Unsicher sah er zu mir, bevor er seine Beine wieder miteinander verknotete. „Sonst mache ich das auch immer so."
„Ist aber ungesund."
Stille. Er rührte mit dem Löffel in seinem Brei herum, färbte das Gemisch violett. Die Heidelbeeren obendrauf hatte er zermatscht. „Na gut."
„Und du solltest dich ordentlich hinsetzen. Wenn dir was davon aufs Sofa fällt, kriegst du die Flecken nie wieder raus."
„Ordentlich sitzen ist unbequem."
„Mach's einfach. Und versuch, dieses Mal alles aufzuessen." Ich nickte in Richtung seines Nabels. „Wie viel wiegst du eigentlich im Moment?"
„Wir verpassen den Anfang des Films."
„Lenk nicht vom Thema ab. Wie viel wiegst du?", wiederholte ich und kniff meine Augen leicht zusammen.
David stopfte sich einen großen Löffel Brei in den Mund und kaute extra gründlich, obwohl es überhaupt nichts zum Kauen gab.
„Dave", warnte ich leise und stoppte den Vorspann. Ashton Kutchers Gesicht verharrte in Großaufnahme. „Wie viel?"
„Zweiundfünfzig."
„Ist dir klar, dass das zu wenig ist?"
Er sah demonstrativ zur Seite. „Es geht mir gut."
„Was nichts an der Tatsache ändert, dass das immer noch zu wenig ist."
„Mir geht es gut." Sein Löffel tauchte aggressiver in das Essen ein. „Mir geht es gut."
Ich atmete tief ein und wandte mich ab, drückte wieder auf Play. „Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich."
„Ich bin aber kein kleines Kind mehr. Ich bin Zweiundzwanzig." Er hielt kurz inne, reckte dann in einer pikierten Geste das Kinn vor. „Bald Dreiundzwanzig."
Mein Blick glitt an ihm hinab. Er war schmächtig, sein Köper wie ein Ast, der im nächsten stärkeren Unwetter einfach brechen würde. Nichts an ihm schrie Zweiundzwanzig, eher gerade so neunzehn. „Ich weiß", murmelte ich.
„Und du bist nur drei Jahre älter."
„Dreieinhalb."
„Na und?" Sogar das Scheppern, als er die Schüssel halb auf den Holztisch pfefferte, klang säuerlich. Wenigstens war nichts über den Rand gespritzt. „Das heißt nicht, dass du mehr Ahnung von sonst was hast!"
„Es heißt, dass ich mehr Lebenserfahrung habe als du."
„Nein, hast du nicht!" Er stellte sich vor mich. Beinahe war es süß, wie er mit einem Fuß aufstampfte, als könnte er seiner Wut nicht anders Ausdruck verleihen, wenn die Situation nicht so angespannt wäre. „Du hast nur andere Erfahrungen. Ich bin deswegen nicht unfähig!"
„Das habe ich auch nie behauptet", beruhigte ich ihn sachte und legte mein Essen ebenfalls beiseite. „Ich wollte dich nicht bemuttern, okay? Tut mir leid."
Noch einen Moment lang stand er mit verzogenem Gesicht über mir, dann rümpfte er die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dafür gucken wir auch den nächsten Teil. Mindestens."
Ich schnaufte. „Einverstanden. Aber auch nur, wenn du jetzt ein bisschen was isst."
Er starrte mich einfach nur an, tonlos, also gab ich mich geschlagen. „Okay, schon gut. Du hast gewonnen. Du musst nichts essen, ich muss zwei Filme gucken."
„Mindestens zwei."
„Ja, ja. Sei still und setzt dich hin. Du versperrst den Fernseher."
Mein übergeordneter Chef hieß mit vollem Namen Henry Gottfried Johann Schneider. Ein schmieriger Mann mit ordentlich Vorbau und öligen Tropfen auf seinem roten, fleischigen Gesicht.
Ich mochte es nicht, wenn er mich zu sich bestellte.
„Sie wollten mit mir sprechen?"
„Ja, kommen Sie rein, kommen Sie rein." Er setzte sich hinter seinem Schreibtisch auf. „Wir werden ab Montag nächste Woche eine Praktikantin bei uns haben. Sie wird eine ganze Weile bleiben und ich möchte, dass Sie sie unter Ihre Fittiche nehmen. Zeigen Sie ihr den Betrieb, erklären Sie ihr die Arbeit. Und so weiter."
Das gefiel mir ganz und gar nicht. „Warum ich? Tom arbeitet hinten bei der Aufbereitung, das ist doch viel interessanter. Und Julia könnte ihr am Empfang zeigen, wie-"
„Nun, ich möchte aber, dass Sie das tun." Er verschränkte seine Wulstfinger miteinander und platzierte sie auf seinem Bauch. „Wir haben im Moment viele Aufträge, deswegen hat Herr Tiele alle Hände voll zu tun. Und Frau Umbrich kann der Praktikantin nichts erklären, wenn sie den ganzen Tag wichtige Telefonate führen muss. Sie hingegen, nun ja, haben keinen direkten Kundenkontakt und-" Sein Räuspern war laut, als er sich selbst unterbrach. Es klang in meinen Ohren nach.
„Und ich bepinsle ja bloß ein paar Gesichter, stimmt's?"
„Das habe ich nicht gesagt." Aber gedacht. „Nichtsdestotrotz werden Sie sich um sie kümmern. Und ich will, dass das Mädchen mit einem guten Eindruck von uns wieder geht. Jetzt, wo alle Internet haben, können wir uns schlechte Bewertungen nicht mehr leisten."
Toll. Wut flammte in mir auf, ich biss sie Zähne zusammen.
Mein Handwerk war nicht niederer Natur als das der beiden anderen oder der sonstigen Mitarbeiter. Würde Herr Henry Gottfried Johann Schneider nur ein einziges Mal eine minimal ältere Leiche im Aufbahrungsraum sehen, wie sie ohne Makeup aussah, würde er im Kreis kotzen. Ich war derjenige, der sie ansehnlich machte, der dafür sorgte, dass sie wieder so lebendig wirkte, wie Freunde und Familie sie gekannt hatten. Ich sorgte dafür, dass es wirkte, als würde da kein Toter liegen, sondern bloß eine schlafende Person, eine, die sofort wieder aufwachen könnte, wenn man sie nur ganz leicht an der Schulter rüttelte.
„Sie können jetzt gehen." Er wedelte mit der Hand vor sich herum. Ich würde sie ihm am liebsten abhacken.
Ich drehte mich um, innerlich mit hoch erhobenem Mittelfinger. „Auf Wiedersehen."
„Ey, Nordt, wart' mal!" Tom schlitterte über den Flur auf mich zu. „Kannst du mir kurz helfen?"
„Wobei?" Mir war nicht danach, jetzt nett zu irgendwem zu sein, allerdings wollte ich es mir mit ihm auch nicht verscherzen. Er gehörte so ziemlich zum Inventar des Unternehmens, obwohl er nicht viel älter war als ich. Vielleicht sollte ich allgemein öfter auf die Einladungen von Kollegen eingehen und sie nicht aus Prinzip abweisen, wenn es sich nicht gerade um eine verpflichtende Betriebsfeier handelte.
„Der Typ bei mir wiegt gefühlt dreihundert Kilo. Ich krieg' sein scheiß Hemd nicht an." Er kratzte sich über die Nase. An den Händen trug er Latexhandschuhe. Ich wollte nicht wissen, wo die gerade noch gewesen waren.
„Ja, klar", seufzte ich.
„Danke, man. Das schaff' ich nicht allein." Er hob beide Daumen in die Höhe.
„Kein Problem."
Ich folgte ihm zurück zu seinem Arbeitsplatz und hörte nur mit halbem Ohr zu, wie er sich darüber beschwerte, dass seine Kunden ständig die ausgefallensten Anziehsachen ins Grab mitnehmen wollten. Wenigstens heiterte es mich etwas auf, dass ich mich im Gegensatz zu ihm nicht mit anderen Menschen herumschlagen musste, um mir mein täglich Brot zu verdienen.
„Sag mal", Tom schaute kurz stirnrunzelnd auf den Leichnam, bevor er die Halswirbel knacken ließ, „hast du mitbekommen, wen wir bald reinbekommen? Julia hat mir davon erzählt, als sie die Formalitäten mit der Mutter durchgegangen ist."
„Klingt ja wichtig. Wer ist es denn?"
„Der junge Kerl aus den Nachrichten."
„Hm." Ich hievte den Oberkörper des Leichnams in die Luft, Tom zog ihm das Hemd hinten runter. Seine dunkle Hautfarbe auf der Totenblässe wirkte beinahe grotesk.
„Dem fehlen einfach die Finger", murmelte er. „Alle Finger. Wie krank ist das bitte?"
Ich zuckte bloß mit den Schultern.
„Bitte nicht zu viel Anteilnahme." Er schnaubte, ich schwieg.
Wie krank diese Welt sein konnte, war mir nichts Neues.
„Gewonnen." Ich schrieb eine Null in die letzte Spalte unter meinem Namen und hob eine Braue. „Wie viel hast du?"
„Siebenundachtzig." David legte die bunten Uno-Karten ab.
„Bist du heute abgelenkt?"
„Nein, ich verliere doch ständig." Seufzend zog er die Knie an die Brust. „Langweilst du dich, Isa?"
„Wie kommst du jetzt darauf? Ich gewinne gerne. Das ist nicht langweilig." Ich grinste, aber er fummelte bloß an irgendeinem Fusel auf meinem Bettlaken herum und sah an mir vorbei.
„Das meine ich nicht."
„Und was meinst du?" Ich sortierte die Karten und wickelte ein Gummi um sie herum.
„Dass-" Er biss sich auf die Unterlippe, bevor er sich mein Kopfkissen krallte und an seine Brust drückte. Heute Nacht würde es nach ihm riechen.
Ich rieb mir über die Augen. „Dass?"
„Dass wir immer nur bei dir oder mir zuhause sind."
„Warum sollte mich das stören? Ich habe gerne meine Ruhe."
„Aber du gehst auch aus."
„Ja, manchmal. Und dann reicht es wieder für eine ganze Zeit." Ich musterte ihn. „Ist alles in Ordnung? Ist was im Laden passiert?"
Er drehte mir den Rücken zu. Irgendetwas musste vorgefallen sein, was er sich zu Herzen genommen hatte. Aber die Geduld, ihm die Details einzeln aus der Nase zu ziehen, hatte ich einfach nicht.
„Ich tue nichts, was ich nicht will, ja? Also mach dir keinen Kopf."
„Sicher?"
„So sicher wie das Amen in der Kirche", bekräftigte ich und schmiss die Karten beiseite. „Willst du was anderes spielen?"
„Nein, keine Lust." Er ließ sich nach vorne auf den Bauch fallen, das Kissen jetzt unter seinem Körper. Er trug eine weite Jogginghose, eine von mir, weil er mit Jeans hergekommen war, und es gefiel mir, wie sie seine Figur umhüllte – auf diese simple, unscheinbare Art, bei der der Stoff das meiste verdeckte, nur um an genau den richtigen Stellen Hebungen oder Senkungen anzudeuten.
„Wir könnten einkaufen gehen", murmelte ich. „Du brauchst eh neue Sachen."
„Noch weniger Lust." Er drückte seine Stirn gegen die Matratze.
Ich seufzte. „Manchmal muss man eben Dinge tun, die einem unangenehm sind."
„Ich habe genug anzuziehen."
„Aber gut sieht das alles nicht mehr aus", warf ich ein und griff an den Saum seines Shirts. „Total ausgeleiert."
Langsam richtete er sich wieder auf, lehnte sich dabei nach hinten auf seine Fersen. „Findest du, dass meine Klamotten schlecht aussehen?"
Beleidigen hatte ich ihn nicht unbedingt wollen. „Also-"
„Ich weiß ja." Sein Blick glitt an sich herab, dann knetete er mein Kopfkissen durch. „Aber warum sollte ich mich schick machen? Für wen?"
Für mich.
Ich lächelte schräg. „Für deine Kunden?"
Er zögerte kurz, dann ließ er mein Kissen fallen, beinahe enttäuscht. „Meinetwegen."
Knapp eine Stunde später spazierten wir schon im ersten Laden herum – wobei er mehr wie ein dressiertes Hündchen hinter mir her trottete, als mit mir zusammen durch die Gegend zu bummeln.
„Das hier?" Ich fischte einen grobmaschig gestrickten Pullover in beige heraus, den Nacken etwas niedriger als bei einem Turtleneck und enganliegend, dafür war der Rest weiter.
David nahm mir das Kleidungsstück ab und runzelte die Stirn. „Das hat fast die gleiche Farbe wie meine Haut. Darin würde ich aussehen, als wäre ich nackt."
„Es hat eine ganz andere Farbe als deine Haut." Die war nämlich um einiges heller. Glatter.
Makellos.
„Ich kann ihn ja mal anprobieren." Überzeugt schien er nicht, aber immerhin legte er sich den Pullover über den Arm und verschmähte ihn nicht sofort. Ein kleiner Erfolg.
„Du kannst dich auch ruhig selbst umgucken oder soll ich Modeberater spielen?"
David schnaubte. „Ich bin erwachsen."
„Dann benimm dich auch wie ein Erwachsener und geh dir was raussuchen."
Ein bisschen Gemecker später marschierte er mit einem Arm voll Kleidung Richtung Kasse. Ohne sie vorher überhaupt anprobiert zu haben. Ich kommentierte es nicht – weil er sich vor lauter Ungeduld meine rechte Hand geschnappt hatte, um mich hinter sich herzuziehen. Als wäre es normal, jeden seiner Finger an meinen zu spüren, ihre Kälte, die kaum wahrnehmbare Feuchtigkeit seines Schweißes an der Innenseite.
Ich krallte mich an ihm fest. Wie ein Ertrinkender. Und redete mir ein, dass wir nicht wussten, was wir da taten.
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