Jualinka und die Nebelfrauen
Jualinka ist ein kleines Mädchen, das gerade in der Schule lesen gelernt hat. Sie liest sehr gerne und hat große Freude daran zur Schule zu gehen. Jeder Tag ist ein Erlebnis. Genauso gerne spielt sie aber auch mit ihren Freundinnen. Nach den Hausaufgaben gehen sie in die Wiesen und Wälder in der näheren Umgebung und lassen sich die schönsten Spiele einfallen.
Als Nachzügler einer großen Familie kennt sie es nicht alleine zu sein oder Einsamkeit zu verspüren. Mit ihren Brüdern und Schwestern versteht sie sich meistens gut. Manchmal gibt es Streitigkeiten, aber Jualinka mag keinen Streit. Sie versucht immer schnell den Frieden wieder herzustellen, dabei lernt sie auch viel.
Einmal ist ein Bruder mit ihr zu der Wiese um die Ecke gegangen. Diese ist umgeben von Bäumen mit zum Teil tief hängenden Ästen, auf denen sie wunderbar wippen und federn konnten. Nachdem sie das eine Weile getan hatten, sind sie auf einen der größeren Bäume geklettert. Weil Jualinka noch so klein war, hob ihr Bruder sie so hoch, dass sie auf den untersten Ast klettern konnte.
Jualinka kann nicht gut klettern, aber es machte sie neugierig, wie ihre Wiese von oben aus der Höhe der Baumkrone aussieht. Auf halber Höhe drehte sie sich um und betrachtete die Wiese. Manches war kleiner, aber wundersamer Weise auch viel schärfer. Sie hatte gar nicht gewusst, wie viele Blumen auf der Wiese wachsen. Sie wollte weiter gucken und kletterte so hoch, wie die Äste sie trugen. Das dauerte eine Weile und als sie oben war erschreckte sie sich darüber, wie hoch sie geklettert war. Eine Zeit lang saß sie ganz verängstigt auf ihrem Ast und traute sich nicht wieder hinunter. Der Bruder war schon dreimal schneller wieder unten und hatte keine Lust zu warten. Er sagte noch: „Du kommst genauso runter, wie Du raufgekommen bist." und weg war er.
Nachdem Jualinka ein bisschen geweint hatte, weil sie sich allein gelassen fühlte, hat sie sich an den Abstieg gemacht - aber erst, nachdem sie einmal in die Runde geschaut hatte, wie die Welt von ganz oben aussieht. Schließlich hat sie ihr Kleid ja nicht umsonst schmutzig gemacht und sich die Hände und Knie aufgeschürft. Das letzte Stück am Baumstamm musste sie nun springen und hat es auch geschafft.
Mama war gar nicht froh, als ihre Kleine wie der letzte Dreckspatz aus dem Wald kam. Mama hat ein bisschen geschimpft, weil Jualinka nicht auf ihr Zeug aufgepasst hat. Aber als Jualinka abends im Bett lag und an das Abenteuer auf dem Baum zurückdachte, war sie bei aller Angst, die sie zwischendurch empfand, froh und auch ein bisschen stolz, dass sie es gewagt hatte hinaufzusteigen. Durch solche und andere Erlebnisse lernt Jualinka, ihre eigenen kleinen Wege zu gehen.
Ein anderes Mal hat sie mit allen Geschwistern im Garten gespielt und auf den Haushaltsgeräten, die sie gerade zu fassen bekamen, Hausmusik gemacht. Eine Waschmaschine und einen Geschirrspüler oder ähnliche Gerätschaften gab es noch nicht in Jualinka ihrer Familie und so wurden der Kochtopf von Mama und die Zinkwanne mit dem Kochlöffel zum Schlagzeug. Dem Waschbrett, das sonst zum Rubbeln beim Waschen genutzt wurde, ließen sich die abenteuerlichsten Töne entlocken und ein Kamm umwickelt mit Butterbrotpapier ersetzte eine Mundharmonika, wenn man mit dem Mund die Luft dagegen pustet. Dazu sangen sie laut und fröhlich.
Ihre Fantasie war manchmal grenzenlos und für Langeweile blieb keine Zeit.
Jualinka ist nicht übertrieben fröhlich, aber in ihrem Herzen wohnt eine Sonne, die manchmal aus ihr heraus scheint. Ihre Mundwinkel gehen eher nach oben als nach unten und tief in ihrem kleinen Kinderherzen lebt der Wunsch, einfach nur glücklich zu sein.
Sie kennt die Erde gut, auf der sie lebt, sie hat schon früh angefangen, sie zu erkunden. Die Welt, die sie entdecken möchte, fängt auf der Straße vor ihrem Elternhaus an und die Wälder und Wiesen mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Farben sind ihr wohlvertraut. Papa nimmt sie morgens in der Frühe manchmal mit in die Wälder, wenn die Tiere gerade erwachen und die Menschen noch schlafen. Er erklärt ihr, wo sie hingehen kann, was das für Bäume sind, die sie sieht und welche Beeren sie essen kann. Meistens jedoch geht sie nur selig und fröhlich hinter ihm her, zufrieden mit dem Moment.
Am Ende der Straße links herum führt ein Weg in den Ort.
Eigentlich braucht man für den Weg in den Ort zu Fuß zwanzig Minuten. Wenn Jualinka etwas besorgen soll, schickt Mama sie aber immer früher los. Sie weiß ganz genau, dass Jualinka länger braucht. Nicht, weil sie trödelt, sondern weil es so viel zu entdecken gibt.
Neulich erst sah sie eine Sonnenblume, in der eine Biene Nektar sammelte und wenn eine Hummel angebrummt kommt, ist Jualinka immer ganz entzückt und kann sich nicht losreißen. Einen Schmetterling, der sich auf dem Stein sonnt, möchte sie nicht verscheuchen. So hält sie an, betrachtet ihn und erfreut sich an seiner Schönheit. Durch solche und ähnliche Erlebnisse verlängert sich der Weg oft.
Ein Bruder sagt immer: „Kopf hoch und gerade gehen, sonst wird der Rücken krumm." Aber das geht nicht, dann kann Jualinka ja nicht mehr die Ameisen auf der Straße sehen, denen sie ausweicht, um sie nicht zu zertreten.
Es gibt so viel zu entdecken, dass sie manche Dinge ganz schnell machen möchte, damit sie ganz schnell wieder nach draußen zu ihren Geschwistern und Freunden zum Spielen gehen kann. Da sind zum Beispiel die Hausaufgaben. Sie geht gerne in die Schule aber Hausaufgaben nehmen ihr die Zeit am Nachmittag für die Dinge, die ihr auch Spaß machen. Am Anfang ging es "Husch die Wusch" und fertig war die Arbeit. Aber da hat Mama gleich aufgepasst. Jualinka musste ihre Hausaufgaben immer wieder abschreiben, bis sie ordentlich und richtig waren. Das hat dazu geführt, dass sie einmal eine ganze Woche nicht mit ihren Freundinnen spielen konnte.
Jualinka hat schnell gelernt, dass es nach der Schule immer Hausaufgaben zu erledigen gibt, auch wenn sie nicht versteht warum. Daran kann sie nichts ändern. Sie hat aber festgestellt, dass sie viel mehr Zeit zum Spielen hat, wenn sie die Aufgaben von Anfang an ordentlich macht.
Wenn Du jetzt glaubst, dass Jualinka ihre Welt immer Friede, Freude, Eierkuchen ist, dann stimmt das nur zu einem Teil. Manchmal hat sie auch einfach nur Angst. Jualinka mag das Licht und Dunkelheit macht ihr Angst. Die Vorhänge in ihrem Zimmer sind so durchscheinend, dass sie mitbekommt, wenn am Morgen die ersten Sonnenstrahlen den Tag begrüßen. Wenn das erste Tageslicht ihre Nasenspitze kitzelt, dann reckt und streckt sich ihr kleiner Körper dem Licht entgegen und sie begrüßt den Morgen mit einem Lächeln.
Jualinkas Welt ist durch das Lesen größer geworden und sie hat eine blühende Fantasie. Wenn sie etwas liest, dann ist das immer mehr. Manchmal ist sie ganz versunken in die Welt der Geschichten und befindet sich an den Orten ihrer Helden.
Sie fühlt die Traurigkeit der kleinen Dampflock in ihrem Buch, weil sie zum Schnellzug umgebaut wird und nun so schnell über die Gleise rast, dass sie gar keine Zeit mehr hat der Frau am Wegesrand, die die Wäsche in ihrem Garten aufhängt, zuzulächeln und zu tuten. Sie gruselt sich über die Bücher der älteren Geschwister, die sie eigentlich noch gar nicht lesen darf. Ist ein Buch lustig, dann lacht sie unbekümmert dort hinein, egal wer es mitbekommt. Genauso intensiv fühlt sie aber auch, wenn es unheimlich wird.
Am Ende der Straße rechts herum führen die Wege durch Wiesen, Wälder und Moorlandschaften. Besonders in den dunklen, nassen und kalten Zeiten des Jahres, haben diese Wege für Jualinka etwas Unheimliches. Wenn die Dunkelheit kommt, der Nebel heraufzieht und die Straßenbeleuchtung am Wegesrand nur wie kleine Funken wirken. Wenn der Wind durch die Bäume pfeift und der Weg nur noch dunkel zu sein scheint, sieht Jualinka hinter jeder Hecke einen Schatten, jedes Geräusch wird zur Bedrohung. Ihr kleines Herz fängt an zu pochen und oft nimmt Jualinka die Beine in die Hand und rennt nach Hause. Zu Hause tut sie meistens so, als ob nichts ist.
Wenn jemand sie fragt: „Ist was? Du bist so gerannt!" Sagt sie: „Nein!", sie möchte ja nicht ängstlich vor ihren Geschwistern wirken, aber nachts träumt sie davon. Manchmal träumt sie so intensiv, dass sie mitten in der Nacht durch's Haus spaziert. Eines Morgens ist sie bei ihren Brüdern im Zimmer wach geworden, manchmal hat Papa sie im Flur aufgegabelt und wieder ins Bett gebracht. Jualinka bekommt das nicht mit, aber sie ist oft müde.
Eines Morgens muss Jualinka nicht in die Schule. Sie darf bei Mama bleiben. Weil sie eine so große Familie hat, sind "Mama Zeiten" selten und somit kostbar. Mama macht im Haushalt alles, wenn Papa zur Arbeit geht. Vieles ist mühselig, weil sie ja noch keine elektrischen Geräte hat, aber Mama beklagt sich nie. Es ist einfach so. Jualinka genießt es sehr mit Mama auf der Couch zu sitzen und ihr zuzuschauen, wie sie stopft und strickt. Als Mama merkt, dass Jualinka trotzdem unruhig wird, zieht sie ein Geschenk hinter der Couch hervor. Jualinka fühlt, dass es etwas ganz Besonderes zu bedeuten hat. Geschenke gibt es nur zum Geburtstag und zu Weihnachten, so ein Tag ist heute nicht.
Mama und Papa haben ihr ein Buch gekauft und hübsch verpackt!
„Die Nebelfrauen“
Den Titel findet Jualinka erst gruselig und auf dem Buch sind zarte, verschwommene Konturen abgebildet, wie von Frauenkörpern, die sich aus dem Nebel lösen. Jualinka ist ganz verwirrt. Das Buch sieht auf den ersten Blick nicht so aus, wie eines von denen, die sie schon lesen darf. Mama ermuntert sie aber zu lesen und dann liest Jualinka den ganzen Tag.
Das Buch handelt von einem kleinen Mädchen, welches immer große Angst hatte, wenn die dunkle Jahreszeit kam. Wie Jualinka, hatte auch sie Angst an den Wiesen vorbeizugehen, wenn es dunkel wurde. Im Herbst und im Winter setzte die Dämmerung schon am frühen Nachmittag ein und an manchen Tagen kam die Sonne gar nicht zum Vorschein. Das kleine Mädchen fürchtete sich dann sehr. Bei jedem Geräusch zuckte es zusammen.
Jualinka sitzt auf dem Sofa und bei jedem Zucken des Kindes zuckt auch sie zusammen. Ihr Kopf steckt tief in dem Buch und manchmal vergisst sie zu atmen. Voller Staunen erlebt sie an einer Stelle im Buch, als die Angst des Kindes besonders groß wurde und das Mädchen ganz verzweifelt war, wie sich aus den Wiesen leichte Nebelschwaden emporhoben und es wispernde Stimmen hörte, die es beruhigten. Sie klangen wie eine zarte Melodie, die das Kind einhüllten. Die Geräusche, die sie eben noch geängstigt hatten, waren verschwunden. Aus dem Nebel bildeten sich Konturen von Frauen. Die Nebelschwaden um sie herum wirkten wie weit schwingende Mäntel. Die Frauen umringten das kleine Mädchen, hüllten es in ihre Mäntel und sprachen ihm Trost zu. „Pscht - Du brauchst keine Angst zu haben du bist nicht alleine. Wir sind die Nebelfrauen und bringen dich sicher nach Hause." Das Mädchen hörte auf zu weinen und kam wohlbehalten zu Hause an. Von diesem Tag an waren die Nebelfrauen immer da, wenn die Angst zu groß wurde und haben das kleine Mädchen nach Hause gebracht. Seitdem hatte das kleine Mädchen keine Angst mehr vor ihrem nach Hause Weg. Sie wusste jetzt, dass sie nicht alleine ist.
Als Jualinka das Buch zu Ende gelesen hat, geht sie zu ihrer Mama und drückt sie fest. Sie weiß, dass sie ab heute keine Angst mehr haben muss. Mama und Papa und ihre Geschwister sind immer da. Wenn sie es doch einmal vergisst, wird sie an die Nebelfrauen denken, dann wird alles gut. Sie muss nur ganz fest daran glauben - bestimmt!
Ende
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