9. Kapitel

2 Wochen später

Mit zitternden Fingern legte ich mein Armband an und schaute nach draußen in die dunkle Nacht hinaus. Ich konnte keine Sterne erkennen, nur ein paar weit entfernte Straßenlaternen, die schemenhaft hinter dichten Bäume versteckt draußen im Dunkeln leuchteten.

Ich war sehr aufgeregt. Mein erster Schulball stand kurz bevor.

Ich blickte auf meine Wanduhr. Es war bereits halbacht. In einer halben Stunde würde die Ansprache und somit die Eröffnung des alljährlichen Schulballs beginnen. Vicky und Riley warteten sicher schon unten auf mich, weshalb ich beschloss, mich allmählich auf den Weg zu machen. Ich stand auf und lief noch einmal ins Badezimmer hinein. Mein Kleid rauschte bei jedem Schritt. Die Schuhe waren ein Geschenk von Claire und aus einem rosafarbenen Satinstoff. Sie glänzten trüb im Licht meiner Schreibtischlampe und besaßen einen kleinen Absatz, waren also sehr gut für lange Abende und auch das Tanzen gedacht, falls ich denn tanzen würde. Ob ich mich traute, wusste ich noch nicht genau. Bei dem Gedanken musste ich kichern. In letzter Zeit hatte ich öfter gekichert, ja sogar beinahe gelacht. Vicky, Riley und ich waren zu wirklich guten Freunden in den letzten vierzehn Tagen geworden. Wir verbrachten jede freie Minute zwischen den Unterrichtsstunden und auch jedes Mittagessen zusammen in der Cafeteria. Wir brauchten uns, gaben uns Kraft nach der Sache mit Steven. Wir drei teilten alle dasselbe Geheimnis und fühlten uns nur gemeinsam sicher in dieser heiklen Situation. Auch, wenn wir es uns nicht gegenseitig eingestanden, fühlten wir uns gemeinsam ein klein wenig heiler. Die Schule ging weiter, niemand sprach mehr über den schrecklichen Vorfall, sodass er allmählich begann zu verblassen und Ruhe und Alltag einkehrte. Es tat uns gut, auch wenn wir es nicht vergaßen, aber wir konnten wenigstens zwischendurch einmal abschalten, um unsere Leben weiterzuleben. Ich war froh, die beiden an meiner Seite zu haben, auch wenn sie nicht wirklich zusammenarbeiteten. Immer gab es diese missgünstigen Blicke von Vicky, wenn Riley wieder mal etwas sagte, was ihr so gar nicht passte. Es machte die Sache nicht leichter für mich, die beiden bei Laune zu halten.

Ich schaute nochmals in den Spiegel im Badezimmer und zuppelte noch etwas an meinem gelockten Haar herum, welches mir weich über die Schultern fiel und zum Teil auch am Hinterkopf hochgesteckt war. Auf meine Bitte hin, hatte Vicky mir die Haare am Nachmittag kunstvoll frisiert und mit Blumenhaarspangen festgesteckt. Niemals hätte ich sie so wunderschön hinbekommen und weinte beinahe, nachdem mir Vicky das Endresultat präsentierte und wie wild mit einem Spiegel um mich herumrannte. Lachend war sie hinausgetänzelt, in voller Vorfreude, weil ich mich so freute.

Um mein Make-up hatte ich mich selbst gekümmert. Vicky hatte mir ein paar Sachen dagelassen, da mein Vorrat an Kosmetikartikeln eher beschränkt war. Ich brauchte sage und schreibe eineinhalb Stunden, bis ich fertig geschminkt war. Ich war es nicht mehr gewohnt und trug die Farben deswegen mit sehr viel Bedacht auf Lider, Wangen und Lippen. Ich hielt es schlichter, trug bloß etwas Puder, Maskara und Lipgloss auf.

Als ich alles für gut befand und zufrieden mit meiner Aufmachung war, lief ich hinein in mein Zimmer und griff nach meinem Handtäschchen, welches auf meinem Bett lag. Ich hing sie mir über meine Schulter und schob hastig die Kommode beiseite. Obwohl es keine weiteren Vorfälle mit Emma gegeben hatte, traute ich mich einfach nicht, ohne die Kommode vor meiner Tür, zu schlafen. In den ersten Nächten hatte ich sogar trotz Kommode Panik geschoben, da ich mir unweigerlich die wildesten Dinge ausdachte und mir Emma mit einem großen Küchenmesser am Fußende meines Bettes stehen sah.

Seufzend knipste ich die Lampe aus und bewegte mich in Richtung Tür, die mit einem Mal aufging.

Ruckartig blieb ich stehen und starrte erschrocken nach vorne. Claire tauchte in mein Sichtfeld und ich lächelte erleichtert. Sie hatte mir einen wirklichen Schrecken eingeheimst.

„ Hallo Claire!", begrüßte ich sie fröhlich und bekam riesige Augen. Sie war in ein bodenlanges, blaues Glitzerkleid gehüllt. Sie war der Abendhimmel persönlich.

„ Hallo Madison", begrüßte sie mich.

„ Wow, du siehst super aus", schwärmte ich und warf einen Blick auf ihre silbernen Kreolen.

„ Wie ich sehe, hast auch du dich schon fertig für den Ball gemacht."

Ich schlug schüchtern die Augen nieder. „ Schon ist gut. Ich bin etwas spät dran. Gefällt es dir?"

„ Du siehst wunderschön aus."

Ich schaute auf und lächelte. „ Danke. Auch für dieses wunderschöne Kleid. Und die Schuhe!" Übermütig drehte ich mich einmal um meine eigene Achse. Claire runzelte verdutzt die Stirn. „ Naja, ihr ermöglicht den Schülerinnen und Schülern jedes Jahr aufs Neue so einen tollen Ball und die passende Kleidung gleich dazu. Ich finde, wir sind euch zu großem Dank verpflichtet. Natürlich auch deiner Schwester."

„ Danke für deine Worte", sagte sie und musterte mich von oben bis unten, ehe sie mich an meiner Hand fasste und zurück ins Zimmer zog. Sie schaltete das große Licht ein und positionierte sich in der Mitte des Raumes.

„ Was ist los?", kicherte ich. „ Du bist sicher hier, um den Rundgang zu machen, oder? Darf ich schon einmal vorgehen? Vicky und Riley warten bereits auf mich."

Sie presste die Lippen aufeinander und sah einen kurzen Moment von mir fort. Verwirrt folgte ich ihrem Blick. Anscheinend bedrückte sie etwas.

„ Claire, was ist denn los? Ist irgendetwas passiert?"

So wie sie dreinschaute, hätte man glatt denken, dass noch jemand gestorben war, oder irgendwer herausgefunden hatte, dass wir alle Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet hatten.

„ Leider muss ich dich enttäuschen, Madison. Du kannst heute Abend nicht auf diesen Ball gehen."

Zuerst verstand ich nicht, was sie da gerade gesagt hatte, dann vermutete ich, dass sie bloß scherzte.

„ Claire", lächelte ich.

„ Ich meine das ernst. Du gehst nicht dorthin. Du bleibst heute Abend hier. Auf deinem Zimmer."

Als ich ihren Tonfall und die Art, wie sie mich anschaute registrierte, verstand ich allmählich.

„ Warum sagst du so etwas? Natürlich werde ich auf diesen Ball gehen. Ich habe doch ein Kleid und ... und habe mich so schön zurecht gemacht. D-das kannst du nicht machen."

„ Leider kann ich das schon."

„ Warum ... warum tust du mir das an?"

„ Madison ..."

„ Warum willst du nicht, dass ich hingehe?" Ich wurde fuchsteufelswild. „ Ist es etwa immer noch wegen der Sache mit Mrs Edinburgh?"

„ Ja ... ja genau deswegen."

Ich zog die Brauen zusammen. „ Aber das hatten wir doch geklärt! Ich habe doch bereits mit meinem Handyentzug dafür gebüßt!"

„ Ich weiß, aber die ganze Schule weiß davon Bescheid. Wie stehe ich da, wenn ich nichts dagegen tue? Glaube mir, mir fällt das doch auch nicht leicht."

Ich glaubte ihr kein Wort. Sie sprach mit so einer Leichtigkeit daher, dass es mit jedem Wort etwas mehr in mir begann zu schmerzen.

„ Woher ..." Mir fehlten die Worte, wobei ich krampfhaft nach ihnen suchte.

„ Alle Schüler mit denen ihr draußen ward, haben mitbekommen, wie du eine Lehrperson behandelt hast."

„ Ja, aber sie haben auch mitbekommen, wie sie mich behandelt hat!"

„ Das mag sein und sie wird auch deswegen gebrandmarkt unter den Schülern sein. Und sie wird nicht ungeschoren davonkommen. Du sieht, ich stehe auf deiner Seite, das weißt du ja bereits, aber in diesem Fall muss ich leider auch hier durchgreifen. Es ist genauso wie mit der Verschwiegenheitserklärung. Eine Maßnahme, auf dich ich auch nicht stolz bin, genauso wenig, wie mit dieser hier."

„ Das kannst du nicht machen. Du hast gesagt, du bist auf meiner Seite. Irgendetwas stimmt da doch nicht! Es passt nicht zusammen!"

„ Tut mir leid, dass du es nicht verstehen kannst, Madison."

„ Claire, bitte. Wieso jetzt? Du warst heute Morgen doch auch hier! Da war noch alles in Ordnung!"

„ Ich habe bis gerade mit mir gehadert. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, ich weiß, aber es muss sein."

Ich griff nach ihrem Arm, welches sie verstört musterte. „ Du kannst mich bestrafen! Von mir aus jetzt, in diesem Moment. Ich tue alles, aber bitte verbiete mir nicht auf diesen Ball zu gehen! Schau doch ... ich freue mich schon so lange darauf."

„ Das geht leider nicht." Ihre Lippen bebten, sie war kurz davor einzuknicken. Noch ein bisschen mehr und sie würde Herz zeigen.

„ Ich muss dahin! Bitte, Claire! Das musst du verstehen! Vor allem du, als meine Betreuerin! Ich war noch nie auf einem Ball! Es ist mein größter Wunsch!"

Sie sah mich einen Augenblick lang an. „ Wir sehen uns morgen. Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich." Blitzschnell riss sie mir die Tasche aus der Hand und zog den Schlüssel hinaus, ehe sie begann zu rennen. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich ihr nach, als auch ich schaltete und ihr hinterhereilte.

„ Claire, nein!"

Ich war viel zu spät losgerannt als Claire auch schon hinter meiner Tür verschwand und den Schlüssel herumgedreht hatte. Ich war gefangen. Eingesperrt wie ein wildes Tier.

„ Claire!", schrie ich und hämmerte mit meinen Handflächen gegen die Tür. „ Lass mich hier raus! Du kannst mich doch nicht hier drinnen einsperren! Ich habe nichts böses getan!"

„ Madison, es tut mir sehr leid, aber du bist mit den Regeln vertraut gemacht worden und jeglicher Verstoß führt auch zu einer Konsequenz. Du bist nicht die Einzige, die heute Abend in ihrem Zimmer bleiben muss." Ich dachte kurz darüber nach, als ich hörte, wie sie sich auf ihren hochhackigen Schuhen davonmachte.

„ Nein! Claire, komm zurück! Mach mir bitte auf! Bitte, Claire, ich bitte dich!" Ich klopfte, trat und hämmerte gegen diese beschissene Tür, doch sie kam nicht zurück. Ich war gefangen in diesem Raum, ohne zu entkommen. Als mir bewusst wurde, dass ich hier nicht mehr rauskam, begann ich zu weinen und drückte die Stirn gegen das kühle Holz. Das konnte alles nicht wahr sein. Es wäre mein erster Ball gewesen und wegen so einer dummen Sache, ließ man mich nicht und sperrte mich weg in mein Zimmer, als wäre ich ein Kleinkind, was seine Eltern störte.

Ich schrie und schlug noch einmal gegen die Tür, woraufhin meine Hand schmerzte und von der Wucht summte. Ich wand mich etwas ab und sah in mein Zimmer hinein. Pure Dunkelheit sickerte durch das Fenster hindurch, bahnte sich einen Weg bis zu meinem Herzen. Das Fenster, schoss es mir sofort in den Kopf. Ich eilte so schnell durch den Raum, dass ich schon stolperte. Mein Kleid rauschte so laut, dass ich meine Schritte kaum mehr hörte. Am Fenster angekommen, riss ich wild daran, bekam es jedoch nicht ganz auf, denn es war nur auf Kipp zu stellen. Ich wollte hinausschreien, um Hilfe bitten, vielleicht würde mich irgendjemand da unten hören, doch wahrscheinlich hätte Claire es sowieso mitbekommen, sodass noch eine weitere Strafe auf mich gewartet hätte, aber die Sehnsucht war so groß, dass ich es erst versuchen wollte. Vielleicht hätte Vicky mit ihr reden und ihr nochmal die Sicht der Dinge schildern können. Sie musste mir einfach helfen! Oder Riley! Riley würde mich nicht im Stich lassen. Ganz bestimmt nicht! Er hatte die Sache mit Mikey mitbekommen und hatte mir zur Seite gestanden, als bei mir eingebrochen wurde. Hastig suchte ich nach meinem Handy, als es mir erneut wie Schuppen von den Augen fiel. Heute war der letzte Tag gewesen, an dem Claire mein Handy bei sich hatte.

„ Verdammt!", schrie ich wieder und sank auf den Boden. Ich weinte hemmungslos drauf los und starb innerlich beinahe vor lauter Traurigkeit. Ich hatte die ganze Zeit über gedacht, an dieser Schule glücklich zu werden, doch mit einem Mal wurde mir bewusst, dass dies niemals mehr geschehen würde. Ich war durch damit. Durch mit allem. Ich wollte von hier weg, keinen Tag länger mehr hier bleiben. Wie hatte ich mir auch jemals bloß vorstellen können ein geordnetes Leben zu führen? Was Claire mir heute Abend hier angetan hatte, konnte sie nie wieder gut machen. Ich weinte. Immer weiter und weiter, bis ich schließlich erschöpft auf dem Boden einschlief.

Der Morgen war bereits angebrochen, als ich wieder aufwachte. Es war Sonntag. Meine Uhr zeigte fünf Uhr an. Langsam erhob ich mich, als plötzlich ein Schmerz mit solch einer unbändigen Intensität in meine Brust zurückgeschossen kam, dass ich mich krümmte und eine Hand gegen meinen Brustkorb presste.

Der Ball war vorüber, während ich immer noch in meinem schönen Kleid auf dem Boden kauerte und spürte, wie meine Augen brannten und mein Gesicht von der vielen Tränenflüssigkeit klebte. Ächzend rappelte ich mich auf und schälte mich, erneut weinend und wimmernd, aus meinem Kleid. Unachtsam zerknüllte ich es und schmiss es in eine Ecke dieses Zimmers. Frierend stürmte ich ins Bad hinein und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah furchtbar aus. Meine Haut war fahl, trug kaum mehr Make-up. Schwarze Mascarareste klebten auf Lidern und der Stirn und der Lippenstift reichte mir bist fast unter mein Kinn. Es tat weh zu weinen, doch bei diesem Anblick strömten wieder Tränen über meine ausgetrockneten Wangen. Ich gab mir einen Ruck und nahm meine Gesichtsreinigung zur Hand, um die Reste zu beseitigen. Der frische Duft von Grapefruit und das lauwarme Wasser halfen mir etwas, um mich besser zu fühlen, doch sobald mein Gesicht frei von Make-up und mit Creme beschmiert war, kehrte der Schmerz auch schon wieder zurück. Danach zog ich die Spangen aus meinem Haar. Ich überlegte kurz, auch sie irgendwo hin zu feuern, entschied mich jedoch dagegen. Vicky konnte nichts dafür, dass ich nicht auf den Ball gehen durfte. Ich wollte ihr die Spangen wieder ordnungsgemäß zurückgeben. Meine Finger rissen und zerrten an meinen Haaren, bis sie vollkommen zerzaust waren, ehe ich sie schließlich so gut es ging glatt bürstete. Als ich sah, dass ich die Locken noch immer nicht ganz herausbekam, griff ich nach dem Duschkopf und wusch sie mir kräftig.

Danach zog ich mich an und ließ die nun wieder glatten Haare, feucht über meinen Schultern hängen, um sie an der Luft trocknen zu lassen.

Ich beschloss mein Bett zu machen, alles was einfach nur herumstand aufzuräumen, einfach alles zu tun, um mich abzulenken und nicht auf die Uhr zu schauen. Claire würde bald kommen und am liebsten hätte ich meinen schweren Schrank vor die Tür geschoben, um sie ja nicht sehen zu müssen, doch das hätte wahrscheinlich wieder eine Strafe nach sich gezogen.

Als ich alles erledigt hatte, ließ ich mich auf mein Bett fallen und setzte mich in den Schneidersitz. Ich fühlte mich wie im Gefängnis. Ich kam aus diesem Zimmer nicht mehr heraus und fühlte mich hundeelend, während ich gegen die Wand starrte. Ob sich meine Eltern wirklich so ein Leben für mich gewünscht hatten, nur damit etwas aus mir würde?

Gerade in dem Moment, als ich mich dies fragte, hörte ich einen Schlüssel im Schloss. Ich blieb mucksmäuschen still auf meinem Bett sitzen und hörte wieder ihre Schuhe über den Boden liefen. Ohne auch nur eine Miene zu verziehen, sah ich durch mein nasses Haar zu ihr auf.

„ Guten Morgen, Madison." Sie versuchte so fröhlich wie immer zu klingen, jedoch gelang es ihr nicht. Sie wusste genau, was sie angerichtet hatte. In ihren Fingern befand sich bereits mein von ihr geklauter Schlüssel, den sie wieder zurück auf meinen Nachttisch legte. Als sie von mir wegsah, begann sie gleich wieder an allen bekannten Stellen nach Rauschgiften zu suchen. Meine Augen folgten ihr, als wäre sie ein helles Licht. Ihrem dunkelblauen Kleid war ein puderzuckerrosafarbener Cardigan und eine karamelfarbene Hose gewichen. Ihre Haare waren zu einem Dutt gebunden, nichts mehr da, von ihrer edlen Hochsteckfrisur von gestern.

„ Du brauchst mich gar nicht so anzuschauen, du weißt genau, was du getan hast", sagte sie, während sie in meinen Schrank lugte und die Kleidung auf der Stange einzeln beiseite schob. Ich antwortete ihr nicht, kochte jedoch innerlich vor lauter Wut. Ja, ich hatte einen Jungen davor bewahrt zu ersticken. Nichts verwerfliches. Und du hast auf meiner Seite gestanden, bis du dich letztendlich dazu entschieden hast, mich doch zu verurteilen, dachte ich.

Als sie merkte, dass ich darauf nichts mehr sagen würde, drehte sie sich um und erhaschte mein zerknülltes Kleid in der Ecke. Sie seufzte und schloss die Schranktüren wieder.

„ Ich hätte dich gerne auf unserem Ball gesehen. Er war wirklich wunderschön."

Ich begann zu zittern. In meinen Augen sammelten sich erneut die Tränen. „ Nächstes Jahr solltest du besser aufpassen, was du vor dem Ball tust und was nicht. Es war nicht böse gemeint, aber eine Konsequenz ist nun mal eine Konsequenz. Und die muss kein geringerer ausbaden, als derjenige, der sie verursacht hat. Das verstehst du doch sicherlich, oder?"

Zuerst sagte ich nichts, versuchte mich zu beruhigen, um nicht beim leisteten Ton meiner Stimme drauf loszuweinen. Als ich soweit war, erhob ich die Stimme.

„ Ich verstehe sehr gut."

„ Und das ist die wichtigste Erkenntnis, um an sich zu arbeiten, um immer besser zu werden. Besser als Mensch und auch im Leben selbst. Auch wenn manches hart erscheint, kann man daraus immer etwas mitnehmen. Glaub mir. Ich spreche da aus eigener Erfahrung."

Ich zog die Brauen zusammen. War sie an ihrer ehemaligen Schule etwa auch so gequält worden?

„ Und eine Konsequenz hast du bereits hinter dir und gut überstanden, hoffe ich zumindest." Nun grinste sie schon wieder und zog etwas aus ihrer Gesäßtasche. „ Hier. Dein Handy." Sie reichte es mir und ich starrte es nur an. Ich brauchte es nicht mehr. In den Momenten, in denen ich es benötigt hatte, war es nicht bei mir gewesen und nun waren sie vorüber. Was sollte ich also noch damit? Als sie merkte, dass ich es nicht annehmen wollte, legte sie es auf meinen Schreibtisch. „ Ich habe dir ein paar Bilder von heute Nacht darauf geladen. Du findest sie in dem Ordner Ballnacht. Ich hoffe, sie gefallen dir."

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. War das wirklich ihr Ernst? Dachte sie wirklich, wenn sie mir ein paar Bilder vom gestrigen Abend auf mein Handy lud, würde alles wieder in Ordnung kommen? Sie hatte mir einen meiner größten Träume zerstört, nur, weil es ihr plötzlich in den Kopf kam, mich erneut wegen dem einen und selben Problem zu bestrafen!

„ Schau sie dir mal an", lächelte sie. „ Wir sehen uns heute Abend wieder. Einen schönen Sonntag wünsche ich." Mit einem Nicken verabschiedete sie sich und verschwand. Wütend blieb ich auf meinem Bett sitzen. Am liebsten hätte ich ihr irgendein böses Wort hinterhergeschrien, zügelte mich jedoch und versuchte Ruhe zu bewahren. Vielleicht sollte ich das Handy im Klo hinunterspülen, oder die Fotos sofort alle auf einmal löschen, doch die Angst und Neugier auf folgende Strafen siegte. Doch eigentlich brauchte ich davor keine Angst mehr zu haben. In dieser einen Sekunde fasste ich einen Entschluss. Ich musste Jim anrufen und von hier verschwinden. Es führte kein Weg mehr daran vorbei. Ich brauchte mein Handy doch. Wenigstens dieses eine Mal noch. Ich sprang von meinem Bett und schaltete es ein. Mit schnellen Fingern tippte ich den Code ein und wartete ungeduldig bis es funktionsbereit war. Ich wollte schon beginnen seine Nummer einzutippen, verharrte jedoch mit dem Daumen über der virtuellen Tastatur. Mein Herz begann zu rasen und ich öffnete den einzigen Ordner, der sich auf meinem Handy befand. Die Bilder reihten sich aneinander und sahen schon in Miniaturansicht nach einem wundervollen Abend aus.

Ich presste die Lippen aufeinander und schaute nach links. Sollte ich es wirklich wagen? Ich tat mir doch nur selbst damit weh, doch der Körper nahm eine Selbstzerstörung vor, wenn er sich nach etwas sehnte, auf was er nicht verzichten wollte. Zumindest lebte meiner nach dieser Regel.

Vorsichtig blickte ich zurück auf den Bildschirm, den Daumen schwebend über dem ersten Bild. Ich würde es drücken, ich musste es sehen, ich musste anschauen, wie es ausgesehen hatte.

Da klopfte es plötzlich an meiner Tür. Ich ließ die Hand mit dem Handy sinken und drehte mich um. Warum ließ man mich nicht einfach in Ruhe? Ich wollte niemanden sehen und schloss die Augen. Wenn ich keinen Mucks von mir gab, würde derjenige sicher wieder verschwinden. Doch ich hatte mich getäuscht. Wieder klopfte es, als ich Viktorias Stimme von draußen vernahm.

„ Madison, bist du da? Wenn ja, mach bitte auf!"

Sie hatte sicher den ganzen Abend auf mich gewartet und sich gewundert, wo ich abgeblieben war. Wenn sie nur gewusst hätte ...

Ich raffte mich auf, legte das Handy zurück auf meinen Schreibtisch und eilte auf die Tür zu. Als ich sie öffnete, war Vicky schon wieder dabei zu gehen, ehe sie bemerkte, wie sich hinter ihr etwas tat. Ihre Augen wurden riesengroß und sie machte kehrt.

„ Madison!", rief sie aus und kam mit einem Sprung auf mich zugerannt. Ihre Hände fassten nach meinen Armen, während sie mich eindringlich ansah. „ Wo zur Hölle warst du gestern Abend?"

„ Mir ging es nicht so gut", sagte ich und erschreckte mich vor mir selbst. Ich deckte Claire und log meine Freundin an? Gut, es war zwar nicht gelogen, dass es mir nicht gut ging, aber das allein hatte einen einzigen Grund: Claire hatte mich in meinem Zimmer eingesperrt und mir verboten zum Ball zu gehen.

„ Was konnte bitte so schlimm sein, dass du den Ball sausen lässt, auf den du dich jetzt schon seit zwei Wochen lang so sehr gefreut hast, auf den du seit Jahren schon gehen wolltest? Du hattest ein Kleid, ein paar wunderschöne Schuhe, ich habe dein Haar hergerichtet ... ich dachte, es sei etwas passiert, als du nicht kamst. Nach der Sache mit Steven war das ja auch kein Wunder!"

Ich zögerte einen Moment. Meine Hand kratzte unkontrolliert meinen Nacken. „ Ich hatte ... Kopfschmerzen und habe Tabletten genommen. Anscheinend haben die mich einfach K.O. geschlagen und ich habe es verschlafen. Es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht, dass du dich sorgst."

Vicky sah mich trotz meiner simplen Erklärung unfassbar misstrauisch an. „ Wo ich mittags bei dir war, ging es dir noch gut."

„ Ich weiß." Ich verdrehte die Augen, um meinem Schauspiel noch mehr Authentizität zu verleihen. „ Es kam mit einem Mal. Das habe ich öfter."

„ Naja, wenn ich mir dich so beschaue, sahst du wirklich schon mal besser aus."

„ Ich bin auch noch nicht ganz auskuriert, aber ich habe ja noch den ganzen Tag Zeit dazu."

Sie nickte nachdenklich. „ Okay. Man ich bin so froh, dass nichts Schlimmes ist."

„ Nein, alles in Ordnung. Ich lebe noch."

Dass der Spruch nach Stevens Tod mehr als unglücklich gewählt war, fiel mir erst auf, als ich ihn bereits ausgesprochen hatte.

Vicky sah noch etwas merkwürdiger drein, als würde sie mir am liebsten die Stirn fühlen.

„ Hattet ihr denn einen schönen Abend?", fragte ich und starb beinahe dabei.

„ Du hast gefehlt."

Ich war gerührt über ihre Worte. Hätte sie doch bloß gewusst, wie unfassbar gerne ich dabei gewesen wäre, wie sehr ich in meinem Kleid am Boden in der Dunkelheit geweint hatte und niemand da gewesen war, der mich aus meiner misslichen Lage befreite. Das Gefühl der Gefangenschaft hauste noch immer in meinem Körper und wollte nicht verschwinden. Dabei sollte es von mir lassen.

„ Ich habe Fotos. Willst du sie dir ansehen?", fragte sie zögernd.

Die hatte ich auch. „ Das ist super. Wie wäre es, wenn du sie mir später zeigst? Ich wollte mich noch etwas ausruhen. Nicht, dass es wieder so schlimm wird, weißt du?" Die Tränen waren nah und es wurde immer schwerer, sie zurückzuhalten.

„ Na klar. Gesundheit geht vor. Dann gute Besserung. Wir sehen uns dann morgen im Unterricht?"

„ Da bin ich dann wieder dabei."

Ein halbherziges Lächeln erschien auf ihren Lippen, ehe sie sich auch schon umdrehte und davonging. Sie schien ganz schön verwirrt und auch enttäuscht zu sein, wobei sie nicht so ganz genau wusste, ob sie das Recht dazu hatte, sauer auf mich zu sein.

Als sie fort war, liefen die Tränen bereits über meine Wangen. Ich schloss die Tür hinter mir und lief in meinem Zimmer auf und ab. Ich konnte diese Fotos nicht anschauen, weder auf meinem, noch auf Vickys Handy. Ich wollte nichts davon sehen, was mich noch trauriger stimmte als ich es überhaupt schon war. Und in diesem Zimmer wollte ich auch nicht länger den ganzen Sonntag versauern. Die Sonne schien verheißungsvoll vom Himmel hinab. Am liebsten wäre ich nach draußen gegangen, um einen ausgiebigen Spaziergang zu tätigen, um über alles nachzudenken, was um mich herum und mit mir selbst geschah. Ich wollte wieder Klarheit in meinem Kopf spüren, doch dass Einzige was ich spürte, war große Verwirrung. Ich verwarf meinen Plan nach draußen zu gehen, als mir einfiel, dass ich Vicky über den Weg hätte laufen können und sie wirklich sauer auf mich gewesen wäre, weil sie dachte, ich hätte immer noch Migräne. Doch was sollte ich tun? Ich musste dringend hier raus.

Da fiel mir Mikey ein. Soweit ich wusste, lag er noch immer auf der Krankenstation. In den letzten Tagen hatte Claire mich immer nur vertröstet, wenn ich sie wegen dem Besuchsverbot fragte. Dabei lag der arme Mikey schon zwei Wochen völlig allein auf der Station. Und Einsamkeit konnte ebenfalls krank machen. Ich war fest davon überzeugt, dass er hier keine Freunde hatte. Er könnte sicher etwas Gesellschaft gebrauchen und ich wollte ihn gerne wiedersehen. Gegen Claires Regel, griff ich nach meiner Kapuzenjacke und fuhr mit der Hand in eine ihrer Taschen hinein. Das leise Knistern ließ mich lächeln. Es waren die Gummibärchen, die ich eigentlich für mich aus Tiras Küche stibitzt hatte, doch nun wollte ich sie unbedingt Mikey bringen. Ich zog meine Jacke über, schließlich hatte ich Wochenende und konnte mal auf meine Uniform pfeifen, nahm meinen Schlüssel, mein Handy und den Guide, den Claire mir an meinem ersten Tag gegeben hatte, und verließ meinen Kerker. Ich war bisher noch nie auf der Krankenstation gewesen, wusste nur, dass er sich im Jungentrakt befand.

Draußen auf dem Flur, fühlte ich mich nicht mehr länger isoliert, sondern schutzlos, ja fast nackt. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich presste die Arme gegen meinen Körper, um schmaler zu wirken und nicht so aufzufallen, was mir bis zur Krankenstation tatsächlich gelang. Dabei musste ich jedoch feststellen, dass nicht viele Schüler unterwegs waren, obwohl das Wetter schön war. Sicher genossen sie ihr Leben auch einfach mal nur auf ihren Zimmern. Vielleicht hätte ich das auch, wenn ich nicht die ganze Nacht darin gefangen gehalten worden wäre, während die anderen alle ihr Leben zelebrierten.

Ich nahm Kurs auf den Jungentrakt und beeilte mich etwas, damit mich keiner in dem Pullover erwischte. Als ich die große Glastür hinter mir gelassen hatten, schaute ich zuerst auf den Guide und entdeckte dann eine kleine Tafel, die als Wegweiser diente. Die Krankenstation war nicht weit von hier entfernt. Ich lief nach links, den Schulflur hinunter. Es war immer noch merkwürdig hier zu sein. Es fühlte sich so verboten an, doch ich war nicht das erste Mal hier, weshalb ich keine allzu große Angst verspürte, gesehen zu werden. Auf meinem Weg kam ich an einer Reihe von Fahrstühlen vorbei, von denen Claire mir an meinem ersten Abend berichtet hatte, steuerte nach rechts und sah schon von Weitem eine weitere, große Glastür, auf der in Druckbuchstaben AMBULANZ stand.

Ich öffnete sie und trat in einen engen Flur hinein, auf dem in der linken Ecke eine kleine Anmeldung stand. Ich erkannte eine Frau dahinter, die irgendetwas im Computer nachschaute.

„ Hallo", begrüßte ich sie verhalten und sah mich kurz um. Die Station war in warmen, braunen Holztönen gehalten.

Zuerst schaute sie gar nicht auf, ehe sie sich wohl doch dazu gezwungen fühlte, den Kopf anzuheben. „ Bitte?"

„ Ich wollte ganz gerne jemanden besuchen. Mikey Greenwald. Er liegt seit circa zwei Wochen hier auf der Krankenstation."

Sie musterte mich bereits mit hochgezogener Augenbraue und wirkte genervt.

„ Hast du einen Ausweis?"

Erneut verwirrt überlegte ich, während ich mir in der Zeit ihren blonden Zopf und die Sommersprossen auf Nase und Wangen beschaute. „ Ausweis?"

„ Den du beantragen musst, um jemanden zu besuchen", half sie mir genervt auf die Sprünge. „ ... bei einer Vertrauensperson. Claire oder Rosemarie." Beim letzteren Namen musste ich kurz überlegen, bis mir wieder einfiel, dass Claires Schwester ja Rosemarie hieß.

„ Die Aufsichtsperson hier im Jungentrakt", half mir die Sekretärin kopfschüttelnd auf die Sprünge. „ Gehst du überhaupt auf diese Schule? Ich habe dich hier noch nie gesehen."

Mit einem Mal fasste mich eine Hand bei der Schulter. Ich erschrak und wand mich blitzschnell um. Ich traute meinen Augen kaum. Claire stand direkt hinter mir.

„ Das geht schon in Ordnung, Anna", sagte sie und führte mich von der missbilligend blickenden Krankenschwester fort. Vor Angst raste mein Herz. Claire hatte mich auf frischer Tat ertappt. „ Was machst du schon wieder?", fragte Claire, als wir weit genug von Anna weg waren.

„ Verfolgst du mich?"

„ Nein", sagte sie hart.

„ Aber du bist immer da, wo ich bin!"

„ Ja, wahrscheinlich, weil mein siebter Sinn mir jedes mal sagt, dass du schon wieder irgendetwas tust. Warum bist du hier? Hören die Flashbacks nicht auf?"

Es war das erste Mal, dass ich, seit ich Claire darüber berichtet hatte, nicht mehr daran gedacht hatte. Es waren keine weiteren Bilder mehr in meinen Kopf geschossen. Vielleicht hatte ich es nur einmal ansprechen müssen, um meine Gedanken wieder richtig zu ordnen.

„ Ich wollte bloß Mikey besuchen."

„ Hast du einen Ausweis?"

„ Nein. Davon hat mir keiner etwas gesagt!", erwiderte ich wütend.

„ Wie siehst du überhaupt aus?" Sie klang wie eine Mutter, die empört über die Kleidung ihres sonst so adretten Kindes war.

Ich schaute an mir herunter und konnte nichts Schlimmes feststellen, außer dass meine Sachen etwas schlabberten.

„ Es ist Wochenende", erinnerte ich sie.

„ Ja."

„ Und da haben wir keine Uniformpflicht" erinnerte ich sie weiter.

„ Ja, aber ...", ihr Gesichtsausdruck war vollkommen entsetzt, als würde sie eine riesengroße Tarantel auf meiner Schulter sitzen sehen. „ Ausgerechnet das?"

Ich hatte keine Lust noch weiter mit ihr über mein Outfit zu streiten, weshalb ich kehrt machen wollte, um endlich zu Mikey zu gehen, doch Claire war schneller. Sie schob sich vor die Tür.

„ Er war sehr krank."

„ Ja, das kann sein, aber ich denke, dass es mittlerweile genug Isolation ist. Er braucht Menschen um sich herum."

„ Das Krankenpersonal ist immer hier."

„ Das ist nicht dasselbe."

„ Warum bist du wirklich hier? Um ihm den Hals umzudrehen?"

Eine erneut unglückliche Wortwahl, wenn man bedachte, dass Stevens Freundin mir einen Mord anhängen wollte.

„ Was unterstellst du mir da? Ich wollte nur Hallo sagen!"

„ Er ist der Grund, weshalb du nicht auf den Ball gehen durftest."

„ So sehe ich das nicht", erwiderte ich trotzig. „ Ich frage dich schon seit Tagen, wann ich ihn besuchen gehen könnte und immer nur hast du mich vertröstet."

„ Du kennst ihn doch überhaupt nicht."

„ Na und?"

„ Wieso also willst du ihn besuchen gehen? Aus reiner Nächstenlie ... "

„ Weil es sonst keiner tut", unterbrach ich sie.

Claire sah mich kurz an, ehe sie die Tür direkt vor uns öffnete und beinahe schuldbewusst dreinblickte. „ Er wird sich bestimmt freuen. Drittes Zimmer von rechts. Besuchszeit ist bis 18:30 Uhr."

Einen Moment sah ich sie an, überlegte, ob ich noch irgendetwas zu ihr sagen sollte, entschied mich dann jedoch dazu, den Mund zu halten und einfach durch diese Tür zu gehen. Doch als ich an Claire vorbeilief, fühlte ich ein Unbehagen, welches mir Gänsehaut auf die Arme trieb. War es, weil sie mich eingesperrt hatte? Mich beinahe wie eine Geisel gehalten hatte? Ohne auch nur eine Miene zu verziehen schritt ich voran in einen geräumigen Flur, der mit gemütlichem Licht ausgestattet worden war.

Ich ging an drei Türen vorbei, bis ich vor der dritten stehen blieb und zweimal anklopfte. Ich hörte ein zaghaftes: „ Herein?", und öffnete die Tür. Das Zimmer war lichtdurchflutet, sodass ich beinahe geblendet wurde. Mikey saß am Fenster auf seinem Bett. Er war in einen Schlafanzug gekleidet und drehte seinen Kopf in meine Richtung. Sobald er mich erblickte, wurden seine Augen groß und seine Brauen zogen sich bis in seine Stirn hinein. Ich lächelte, als ich auf ihn zulief.

„ Du hier?", fragte er verblüfft.

Ich schaute mich kurz unsicher um. „ Ja, ich dachte, ich komme dich mal besuchen, um zu fragen, wie es dir geht." Perplex sah er mich an und bekam kein Wort mehr heraus. Ob es ihm nicht passte, dass ich hier war? „ Soll ich wieder gehen?", fragte ich vorsichtig.

„ Nein", sagte er sofort. „ Nein, quatsch. Setz dich. Guck mal, hier ist ein Stuhl." Mit hektischen Bewegungen rückte er mir einen Stuhl direkt neben seinem Bett zurecht.

„ Das kann ich auch machen", warf ich ein. „ Du musst dich noch schonen."

„ Mir geht es besser", grinste er und hustete gleich darauf. „ Naja, fast zumindest."

Kopfschüttelnd und lachend setzte ich mich und überschlug ein Bein. „ Tut mir leid, dass ich nicht schon eher gekommen bin."

„ Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Du bist jetzt hier."

„ Ja", lächelte ich. „ Hast du noch Fieber?'" Er schüttelte schon mit dem Kopf. „ Sie haben mir Fiebersaft gegeben. Der war so eklig und bitter." Er verzog die Miene. Ich musste darüber schmunzeln.

„ Hauptsache, es geht dir wieder gut. Mit einer Lungenentzündung ist nicht zu spaßen."

„ Wer hat dir davon erzählt?" Er legte den Kopf schräg.

„ Ich habe mit Claire gesprochen. Eigentlich wäre ich viel eher gekommen, aber sie sagte mir, dass du Ruhe brauchst."

„ So viel Ruhe auch wieder nicht", erwiderte er zaghaft und senkte den Blick. „ Naja, zumindest ist der Husten besser worden." Mikey klemmte seine Hände unter die Oberschenkel und zog die Stirn kraus. „ Hast du eigentlich Ärger bekommen wegen der Sache mit Mrs Edingburgh?"

Ich seufzte. „ Was heißt Ärger? Mich hat niemand angeschrien, dafür musste ich aber mein Handy für zwei Wochen abgeben."

„ Mist. Tut mir leid."

„ Ich kann auch ohne diese High-Tech-Dinger leben", beruhigte ich ihn. „ Und außerdem habe ich es jetzt wieder." Ich zog es aus meinem Pulli und zeigte es ihm. Erfreut lächelte er. „ Ach, ich habe übrigens noch was für dich dabei." Ich zog die Gummibärchentüten hervor und gab sie ihm.

„ Oh, dankeschön!", freute er sich und riss gleich eines davon auf. Er bot mir welche an, doch ich verneinte. Es war viel schöner zuzusehen, wie er sich an ihnen labte.

„ Dir ist bestimmt langweilig den ganzen Tag hier, oder?"

Er zuckte mit den Schultern und suchte nach den gelben Gummibärchen. Die hatte ich auch schon immer am liebsten gemocht. „ Es ist auszuhalten. Ich weiß mich zu beschäftigen."

Mein Blick glitt zu seinem Nachttischchen auf dem eine Flasche Wasser stand und ein paar Zeitschriften lagen. Bei genauerem Betrachten sah ich, dass es diese Klatsch – und Tratschblätter waren, die meine Grandma immer so gerne gelesen hatte.

Ich erhob mich etwas aus meinem Sitz, um die neueste Schlagzeile zu erhaschen. Hier bekam man ja nicht mehr allzu viel von der Außenwelt mit, als Mikey auch schon den Mund verzog und sie mit seinen Fingern weiter wegschob.

„ Was ist?", fragte ich und schnappte mir gleich eine der Zeitschriften. „ Also diese Überschriften kann doch keiner ernst nehmen", kicherte ich und schlug das Titelblatt auf. Sofort entdeckte ich eine Bilderstrecke der Stars, die sich bei der diesjährigen Oscarverleihung in wunderschönen Kleidern auf dem roten Teppich den Fotografen präsentierten. Ganz besonders faszinierte mich das Kleid von Eva Longoria. Sie trug ein zuckerwattefarbenes Kleid, welches bis auf den Boden reichte und in weichen Wellen ihrem Körper umschmeichelte.

„ Wie war es eigentlich auf dem Ball? Ihr müsst ähnlich ausgesehen haben wie die Stars in den Zeitschriften."

Plötzlich platzte die kleine Blase, in der ich mich für einen kurzen Moment befunden hatte, und tränkte alles in schwarz. Ich ließ die Zeitschrift in meinen Schoß sinken und lächelte bitter. „ Ich war nicht dort."

„ Wirklich nicht? Ich hätte alles dafür gegeben, um dort zu sein."

„ Das glaube ich dir. Ich auch."

„ Wie?", fragte er und legte den Kopf schräg.

„ Meine zweite Strafe: Ich wurde an diesem Abend bis zum Morgen in meinem Zimmer eingesperrt. Also, bis vor ein paar Stunden. Um genau zu sein."

Mikey klappte die Kinnlade hinunter, als er mich ansah wie ein Auto. „ Bitte was?"

„ Aber schschscht", flüsterte ich und legte einen Finger vor meine Lippen. „ Das weiß keiner außer du. Den anderen habe ich erzählt, dass es mir nicht gut ging und ich lieber im Bett bleiben wollte."

„ Warum?"

„ Ich wollte einfach nicht, dass sie Bescheid wissen. Wahrscheinlich, weil ich mich schäme. Wofür auch immer."

Zuerst sah er mich verständnislos an, ehe seine Miene sich veränderte und er nickte. „ Verstehe." Und ich konnte in seinem Blick erkennen, dass er tatsächlich verstand. Hatte er sich auch je so gefühlt?

„ Willst du sie mitnehmen?", fragte er und deutete mit dem Kinn auf die Zeitschrift in meinen Händen. „ Die gibt es nur hier auf der Krankenstation. Und sie ist mega aktuell."

Mikey schien sich auszukennen.

Dankbar lächelte ich. „ Da würde ich mich sehr drüber freuen."

„ Klar. Kannst sie gerne behalten. Ist zwar ein schwacher Trost, aber ... ich weiß nicht, wie ich das sonst wiedergutmachen kann ..."

„ Du brauchst überhaupt nichts gutzumachen, Mikey."

„ Du hättest mir nicht helfen sollen", unterbrach er mich und schaute mich mit so einem festen Blick an, dass ich mich kaum noch davon lösen konnte. „ Wenn du es nicht getan hättest, wärst du auf diesem Ball gewesen, dir wäre dein Handy nicht weggenommen worden und sicher eine Menge Ärger erspart geblieben."

Ich zog die Brauen zusammen und konnte nicht fassen, was er da gerade eben gesagt hatte.

Meine Hand griff nach seiner, was er irritiert beobachtete. „ Bist du völlig verrückt? Sag so etwas bitte nie wieder! Es ist alles gut so wie es ist. Ich würde das immer wieder machen, wenn es dabei um deine oder irgendeine andere Gesundheit ginge. Was ist dagegen schon so ein blöder Ball?"

Er sah mich eindringlich an. Für ein Kind hatte er ein unfassbares Auffassungs- und Einfühlungsvermögen. Er war hochintelligent und ein sehr hübscher Junge, das passte den anderen wohl überhaupt nicht. Ihr Problem war nicht seine Andersartigkeit, sondern, dass er ihnen überlegen war.

„ Mach dir keine Gedanken, ja? Ich komme schon klar. Sieh du zu, dass du wieder ganz gesund wirst." Langsam stand ich auf, was er aufmerksam beobachtete.

„ Was machst du?", fragte er.

„ Ich will dich nicht weiter stören und sicher brauchst du doch noch etwas Ruhe. Vielleicht sieht man sich ja mal auf dem Schulhof. Ach und danke nochmal für die Zeitschrift." Als ich sie mir gerade unter meinen Pulli schieben wollte, sprang er vom Bett und stand unschlüssig vor mir.

„ Musst du schon gehen? Ich meine, könntest du nicht noch ein bisschen bleiben? Wir könnten die Zeitschriften ja zusammen ansehen. Ich bin auch gar nicht müde." In diesem Moment wirkte er ziemlich unsicher. Er wusste nicht mehr, wem er trauen konnte, was richtig und falsch war, und wer es tatsächlich ernst mit ihm meinte. Er tat mir so unsagbar leid und ich war ebenso erfreut darüber, dass er mich anscheinend mochte.

„ Na klar, ich bleibe sehr gerne, Mikey. Aber denkst du, dass du das schaffst?

„ Ja, bestimmt! Komm, setz dich wieder." Er klopfte bereits hastig auf den Stuhl, ehe auch er eine der Zeitschriften nahm. Ich setzte mich sofort zurück auf meinen Platz, zog ebenfalls mein Magazin hervor und blätterte auch schon drauflos.

Wir verbrachten den ganzen Tag miteinander, stimmten darüber ab, welches das schönste Kleid war, welcher Look verbesserungswürdig war und mit welchem der Promis wir einmal gerne in den Freizeitpark gehen würden. Ich fühlte mich dabei fast selbst wie ein Kind, was glücklich war, lachte und sich keine Gedanke um den Ernst des Lebens machen musste. Einfach unbeschwert sein, so unbeschwert wie fast noch nie.

Die Zeit verging viel zu schnell, als schließlich eine weitere Mitarbeiterin, dieses Mal eine Krankenschwester erschrocken dreinschaute, als sie zu uns in Zimmer hereinkam. Die Besuchszeit war längst vorbei, sodass sie mir eindringlich klar machte, es umgehend zu verlassen.

„ Natürlich, Ma'am", kicherte ich, als Mikey sich schon eine Hand vor den Mund presste.

Die Zeitschrift konnte ich noch so gut verstecken, dass sie es nicht bemerkte.

„ Ich verbitte mir dieses Lachen", regte sie sich auf, während ich Mikeys hohes Lachen hinter mir vernahm und selbst immer noch lachend hinaus eilte.

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