8. Kapitel
Mit weichen Knien machte ich mich auf nach draußen und schlurfte über den Schulhof, jedoch nicht ohne mich nach jedem Schritt panisch umzudrehen, da ich mich verfolgt fühlte. Nicht, dass ich jetzt auch noch paranoid wurde.
Ich fühlte mich in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Entkommen mehr zu geben schien. Es fühlte sich an, als würde ich in einem engen Raum sitzen, in dem die Wände jeden Tag ein wenig näher auf mich zukamen, ohne Türen oder Fenster, ohne Möglichkeit auf ein Ausbrechen. In diesem Moment wünschte ich mir mein Handy wieder herbei. Ich wollte Jim anrufen, ihm alles erzählen und ihn anbetteln, mich hier rauszuholen, aber für die nächsten zwei Wochen war dieses Vorhaben nur eine leise Idee in meinem Hinterkopf. Wahrscheinlich hätte dies mein Motiv noch weiter verstärkt und erst recht Aufmerksamkeit erzeugt, die ich im Augenblick nicht gebrauchen konnte.
Von Weitem erkannte ich schon Vicky wie sie und drei andere Mädchen, die bereits eingetroffen waren, vor dem Schultor standen und sich miteinander unterhielten.
Bei ihnen angekommen begrüßten sich mich freundlich. Unter ihnen waren Patricia und Nancy. Beide kamen aus der Parallelklasse und auch sie hatte ich noch nie zuvor gesehen. Glaubte ich zumindest. Vielleicht hatten sie mich damals nach Claires Rede begrüßt und mir einen guten Start gewünscht, jedoch waren es zu viele Schüler gewesen, weshalb ich mir niemand bestimmtes gemerkt hatte. Sie schienen sehr nett zu sein. Es fiel mir schwer normal mit ihnen umzugehen, wobei ich Vicky gerne jetzt schon gesprochen hätte, um ihr über die angsteinflößende Begegnung mit Stevens Ex zu berichten. Sie fragten mich ein wenig aus, da ich für sie ja auch die Neue war, woraufhin ich alles brav beantwortete und ab und an mal lächelte. Es war ein einziges Spiel, welches ich allmählich zu begreifen schien.
„ Unser Fahrer ist schon da. Wo ist Kim?", fragte Vicky die anderen und schaute sich dabei schon nach ihr um.
„ Ich weiß nicht ...", erwiderte Nancy.
„ Nicht, dass sie sich wieder verspätet."
„ Bestimmt nicht ... ach, da hinten kommt sie doch schon!", rief Nancy und winkte ihr schon hektisch zu. Ihr Grinsen sah etwas merkwürdig aus, wobei sie trotzdem sehr hübsch war. Ihre Haut war bleich wie meine und voller Sommersprossen, während ihr Haar rötlich in der Sonne schimmerte. Ihre weißen Zähne strahlten und ihre grünen Augen waren zu Schlitzen geformt, so sehr freute sie sich über Kims Erscheinen. Sie trug schwarze kurze Locken und eng anliegende Jeans. Sie hatte bloß ihre Wimpern getuscht und etwas Lippenpflege aufgetragen, ansonsten schien sie auf Make-up zu verzichten.
Auch ihr erzählte ich, nach den vielen Umarmungen unter den anderen, meine kleine Geschichte, die ich schon auswendig konnte.
Als wir vollständig waren, machten wir uns zum großen Schultor auf. Ich musste sagen, dass ich innerlich ziemlich aufgeregt war. Ich war schon einmal durch dieses Tor geschritten, jedoch nur, weil es zum Joggen raus in den Wald ging. Leider hatte dieser Ausflug nicht allzu lange gedauert, doch heute würden wir das Schulgelände als Gruppe von Mädchen verlassen, um in die Stadt zu fahren und Kleider zu kaufen. Ich konnte es kaum fassen. Dabei wäre meine Freude größer gewesen, wenn es nicht in mir gearbeitet hätte, aufgrund dieser Begegnung. Ich bekam schon Gänsehaut, wenn ich Emmas Gesicht bloß vor meinem inneren Auge sah.
An der Straße parkte ein großer schwarzer Geländewagen. Als wir auf ihn zugingen, stieg ein nett aussehender Mann, ich schätzte ihn auf Mitte sechzig, aus. Er trug einen schwarzen Anzug und eine passende Kopfbekleidung. Er begrüßte jeden von uns höflich mit einem Händedruck und schob die Tür galant auf.
„ Danke", sagte ich und lächelte ihn an, welches er sofort erwiderte und mir damit ein etwas besseres Gefühl vermittelte. Wir stiegen nacheinander ein. Ich nahm am Fenster Platz, Vicky setzte sich neben mich, gefolgt von Patricia. Nancy und Kim saßen uns gegenüber. Der Fahrer schloss die Tür und stieg vorne wieder ein.
„ Habt ihr schon überlegt welche Farbe euer Kleid haben soll?", fragte Nancy mit großen braunen Augen in unsere kleine Runde hinein. Sie waren genauso dunkel wie ihre Hautfarbe. Türkis hätte ihr sicher super gestanden. Vielleicht sollte ich ihr einen Tipp geben, dachte ich und verwarf meine Idee wieder, warum wusste ich auch nicht so genau.
„ Ich möchte eins in gelb", antwortete Patricia, woraufhin ich sie sofort in einem gelben Tüllkleid sah, während ihr langes kastanienbraunes Haar ihren Rücken hinunterfloss.
„ Und ich eines in Aquamarin. Das ist meine Glücksfarbe, laut meines Sternzeichens", sagte Nancy, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Oder ich ihre.
„ Dann bist du Fische", platzte es aus mir heraus, als plötzlich alle Blicke auf mir lagen.
„ Ja, genau", lächelte sie erfreut. „ Bist du auch Fische?"
Ich schüttelte mit dem Kopf. „ Nein, ich bin Waage."
„ Na, da haben sich ja jetzt zwei gefunden", lachte Kim hinter vorgehaltener Hand.
„ Interessierst du dich etwa auch für Astrologie?", fragte Vicky mich schon augenverdrehend.
„ Naja, ich lese ab und an mal mein Horoskop, wenn ich es irgendwo in einer Zeitschrift sehe."
„ Na, wunderbar." Vicky schlug sich mit der Hand vor die Stirn und schüttelte den Kopf. Wir lachten mit ihr und die Stimmung war mit einem Mal viel lockerer als zuvor.
Als der Fahrer schon den Motor startete, hörten wir von draußen plötzlich jemanden rufen.
Zuerst regte sich keiner, doch als das Rufen nochmals ertönte, schauten wir uns alle an. „ Wer ist das?", fragte Patricia.
„ Ich habe keine Ahnung", erwiderte Nancy, wobei es sie auch nicht wirklich zu interessieren schien.
Vicky stand auf und lugte aus dem Fenster hinaus. „ Das ist Riley! Warten Sie bitte!", rief sie und öffnete auch schon die Tür. Nun sah auch ich durch die Scheibe hindurch und erkannte, wie er langsamer wurde, als er sah, dass wir warteten. Vicky stieg aus und sprach mit ihm, als er bei ihr ankam. Ich wollte gerne etwas hören, aber es war zu dumpf, um die beiden zu verstehen.
„ Wahrscheinlich verabreden die zwei sich gerade noch schnell für eine heiße Nacht", scherzte Nancy und verfiel zusammen mit Kim in ein Gelächter.
Nach wenigen Sekunden kam Vicky wieder hinein. „ Tja Mädels, wir haben wohl eine männliche Begleitung!"
Sofort kicherten die drei drauf los, als Riley auch schon hinter ihr einstieg.
„ Hallo, Hi", begrüßte er uns und nickte einmal in jede Richtung.
Hatte er nicht vorhin in meinem Zimmer gesagt, er müsse zu Englisch? Wieso war er jetzt schon wieder hier? Ob er freibekommen hatte, nur um uns zu begleiten? Glaubten sie, wir konnten nicht selbst auf uns aufpassen? Möglich war es, aber sicher konnte ich mir auch nicht sein.
Ihn zu sehen ließ mich nicht nur verwirrend zurück, sondern verursachte auch ein unsagbar schlechtes Gewissen in mir. Mit einmal sah ich ihn in meinem verwüsteten Zimmer stehen, ehe das Bild verblasste und Claire an dessen Stelle auftauchte. Riley hatte mich gebeten, nicht mit Claire zu reden, und schon gar nicht wieder auf den Schulfluren. Dabei hatte ich es ihm sozusagen versprochen und beide Bitten wenige Minuten später einfach missachtet. Ich fühlte mich unsagbar schlecht. Während er die Gefahr auf sich genommen hatte, erwischt zu werden, nur um mir zu sagen, dass mich keine Strafe nach dem Vorfall mit Mikey und Mrs Edingburgh erwartete, rannte ich sofort zu Claire.
Als unsere Blicke sich trafen, nickte ich ihm nur lächelnd zu und schaute aus dem Fenster. Die Sonne brach sich so schön in den Bäumen.
„ So, sind dann alle an Bord?", fragte der Fahrer von vorne und lachte sich ins Fäustchen.
„ Sie dürfen losfahren", bestätigte Vicky lachend und ließ sich in ihren Sitz fallen. Riley saß uns gegenüber und schien sich beinahe etwas unwohl bei den ganzen Mädchen zu fühlen. Alle schauten ihn an, zumindest vernahm ich das aus meinem Augenwinkel.
Auf mich wirkte das Ganze auf jeden Fall so, als wäre er der Bachelor und wir seine Kandidatinnen, von welchen er sich eine aussuchen musste. Ich sah zu Vicky. Sie war seine große Liebe. Und ich fand das unfassbar schön und wünschte mir, dass sie es endlich mehr würdigen würde, um es perfekt zu machen.
Seufzend lehnte ich meinen Kopf an die Lehne und merkte, wie sich das Auto langsam in Bewegung setzte.
Zuerst fuhren wir minutenlang durch den tiefen Wald. Die Bäume und ihre dichten
Blätterdächer gaben keine Aussicht auf das turbulente Stadtleben, was da draußen irgendwo, fern von uns, existierte. Dabei war es gar nicht so fern, wie ich geglaubt hatte. Nach ungefähr zwanzig weiteren vergangenen Minuten, lichtete sich der Wald und ging über in ein goldenes Ährenfeld, über welchem Vögel kreisten und sich Wühlmäuse und Hasen in ihren Bauten versteckten. Der Anblick des sich im Wind wiegenden Getreides lenkte mich so ab, dass ich erst ein paar Sekunden später bemerkte, wie sich von Weitem eine Straße vor uns erstreckte. Aufgeregt setzte ich mich auf und konnte meinen Augen kaum trauen. Ich glaube, ich hatte mich noch nie so über einen Stau gefreut, wie in diesem Moment. Je näher wir ihm kamen, desto mehr entblößte sich die Außenwelt vor uns, und diese hatte so viel zu bieten, dass ich gar nicht mehr wusste, wohin ich zuerst schauen sollte. Ich erkannte bunte Häuser aus denen Eltern mit ihren Kindern und Hunden kamen, um ihr alltägliches Leben zu meistern, Teenager, die verliebt mit ihrem Schwarm auf Fahrrädern, geschmückt mit Blumen und bunten Bändern, den sommerlichen Tag genossen, Vögel, dich sich gegenseitig in der Luft versuchten zu fangen und Eichhörnchen, die ihnen aus sicherer Entfernung auf Bäumen skeptisch dabei zusahen. Das Aufheulen von laut knatternden Motoren, ließ mich nach rechts schauen, von wo aus eine Motorradgang gefahren kam, die sich fühlten wie die Könige der Straße. Ihre schweren Maschinen rauchten und übertönten alle anderen Geräusche, während sie in Lederanzügen und abgedunkelten Helmen der Sonne entgegenfuhren.
Wir bogen in die Richtung, aus der sie gekommen waren, wo ein riesiges Möbelgeschäft auf der linken Seite, neben einem Industriegebiet, lag. Ich sah Menschen mit großen Paketen, die über ihre Einkaufswägen hinausragten, aus dem Geschäft kommen, fröhlich und voller Verheißung auf ein neues Fundstück zum Verschönern ihrer Wohnungen und Häuser. Doch ich erblickte auch die kleinen Dinge, wie die lilafarbenen Blumen, die am Wegesrand wuchsen und dicke Hummeln, die sich an ihnen labten. Das Nächste was ich sah, traf mich jedoch mitten ins Herz. Eine kleine, gemütliche Bar direkt neben einer riesigen Kreuzung. Sie passte nicht hierher und verdiente einen besseren Standort. Das hätte Jim sicherlich auch gesagt und wenn er dabei gewesen wäre, hätten wir bestimmt einen Abstecher bei ihr gemacht.
Den anderen schien der Ausflug auch sehr zu gefallen, da sie sich angeregt über hübsche Typen in Cabrios und das Kino unterhielten, an welchem wir ebenfalls vorbeifuhren, allerdings war ich diejenige, die komplett aus dem Häuschen war.
Ich klebte an der Scheibe, wie ein Kind vor einem Süßigkeitenladen.
„ Ist schön mal wieder die Außenwelt zu sehen, nicht wahr?" grinste Vicky und sah zu mir hinüber.
Ich lächelte in ihre Richtung und nickte, meine Zähne fest auf meiner Unterlippe haftend.
„ Es ist unglaublich."
„ Schau mal, der dort isst einen Burger." Riley zeigte nach draußen.
„ Davon können wir nur träumen!", mischte sich nun auch Nancy ein und verdrehte die Augen.
„ Wir sollten Tira mal den Vorschlag machen sich für einen Burgertag einzusetzen. Muss ja nicht jeden Tag sein, sondern vielleicht einmal im Monat?", schlug Vicky vor. „ Sie sitzt, oder besser gesagt, steht, an der Quelle. Claire ist auf sie angewiesen, weshalb sie es bestimmt erlauben würde."
Riley sah sie ehrfurchtsvoll an und zeigte auf sie. „ Du bist einfach genial!"
„ Man nennt mich schließlich nicht um sonst Die wunderbare Vicky!"
„ Haben wir dich je so genannt?", lachte Patricia.
„ Nein, aber das solltet ihr, aufgrund meiner bahnbrechenden Ideen!" Während sie alle lachten und Riley sie immer verliebter anschaute, schweifte mein Blick wieder aus dem Fenster hinaus. Ich wünschte Vicky hätte nie die Idee gehabt, auf diese Party zu gehen. Steven wäre an diesem Abend höchstwahrscheinlich sowieso gestorben, doch dann hätten wir es wenigstens nicht mitbekommen. Man hätte uns keiner Schuld bezichtigen können oder nicht verleugnen müssen, wirklich nicht vor Ort gewesen zu sein. Alles wäre nun so viel besser. Vickys Unbeschwertheit erreichte mich nicht mehr und half mir nicht über meine verkorkste Vergangenheit hinweg. Vielleicht war dieser Gedanke auch etwas egoistisch von mir, doch genau aus diesem Grund, ärgerte ich mich gerade in diesem Moment.
Der Wagen hielt vor einem sehr nobel aussehenden Laden. Ich las den Namen, der in hellblauen Buchstaben über einer Markise angebracht war.
Les vêtements
Ich konnte es kaum mehr abwarten, ihn zu betreten.
Wir stiegen aus und die warme Luft drückte mir sofort auf meine Lungen. Es roch nach Benzin und Pommes. Ich atmete tief ein und behielt diesen Geruch für ein paar Sekunden in meiner Nase, ehe ich wieder ausatmete und den anderen folgte. Riley öffnete uns die gläserne Tür und ließ uns Mädchen eintreten. Ich schaute extra an ihm vorbei, um mich nicht noch schuldiger zu fühlen.
Als wir hineingingen eröffnete sich ein Meer an prachtvollen Stoffen, Hüten und glitzerndem, edlem Schmuck.
„ Na, hier bin ich ja genau richtig gelandet", scherzte Riley und kassierte sofort einen Schlag von Vicky. Die anderen kicherten. Dies bekam ich jedoch nur am Rande damit, da ich dabei war, alles in mir aufzusaugen, was ich auf einmal wahrnehmen konnte.
Rechts von uns stand ein weißer, auf Hochglanz polierter, Tisch, auf dem ich Spitzenhandschuhe in allen Farben entdeckte, Federn hingen an einer metallenen Vorrichtung direkt über ihm und waren mit Edelsteinen verziert und eine Reihe von Lackschuhen waren in einem weißen Regal, links von uns, aneinandergereiht worden. Es war ein Traum für jede Frau, die so etwas liebte. Man konnte sich kaum satt an all den schönen Dingen sehen, doch die vielen Kleider auf den Stangen, waren der Höhepunkt. Als ich gerade auf sie zugehen wollte, sah ich von der Seite plötzlich jemanden auf uns zukommen.
„ Guten Tag! Sie sind sicher die Schüler von der Archer-Constitution-School." Eine Dame kam in einem figurbetonten schwarzen Satinkleid und auf hohen Hacken in unsere Richtung. Ihr grau meliertes Haar war zu einer Hochsteckfrisur nach oben gesteckt und mit den selben Feldern geschmückt, die auch hier im Laden angeboten wurden.
„ Hallo! Genau. Wir hatten einen Termin", bestätigte Vicky und reichte ihr die Hand.
„ Sehr schön! Es freut mich sehr, Sie alle kennenzulernen. Ich bin Mrs Burley und stehe Ihnen gern mit Rat und Tat zur Seite." Sie rückte schnell ihre Brille mit den langen Perlenbändern zurecht. Irgendwie erinnerte sie mich an Mrs Mars. Ihre Art und die Handbewegungen. Zudem schien sie sehr freundlich. Das mochte ich.
„ Und Sie benötigen Kleider für den alljährlichen Schulball habe ich mir sagen lassen. Gibt es ein bestimmtes Motto?"
„ Nein, das heißt, es ist Kleiderpflicht für die Mädchen und Anzugpflicht für die Jungen, ansonsten haben wir freie Hand."
„ Damit kann ich arbeiten!", freute sie sich und faltete die Hände vor ihrem Körper. „ Möchten Sie sich zunächst umschauen oder darf ich schon die ein oder andere Dame beraten? Oh, und wie ich sehe, haben wir sogar einen jungen Mann dabei! Sie suchen sicher nach dem passenden Anzug, nicht wahr?"
Riley lächelte und hob flüchtig eine Hand. „ Den habe ich bereits, danke. Ich bin nur Begleitung."
„ Nun gut, also sind sie als tatkräftige Unterstützung dabei!" Es war mehr eine Aussage als eine Frage.
Riley neigte den Kopf zur Seite, während die anderen Mädchen kicherten. „ So kann man es nennen, ja."
„ Nun gut, dann würde ich sagen, schauen Sie sich bitte in Ruhe um und zieren Sie sich nicht, das ein oder andere Kleid direkt anzuprobieren."
Es war der Startschuss für einen einzigartigen Rausch. Ich zögerte kaum, ehe ich auch schon durch die Kleider gesäumten Gänge lief. Meine Fingerspitzen fuhren auf den Stoffen entlang, meine Augen waren überall. Ich fühlte mich richtig wohl. Die Schule mit all ihren Problemen gab es in meinem Kopf nicht mehr. Ich war im Hier und Jetzt gefangen und genoss es in vollen Zügen.
Alle Mädchen verteilten sich im Laden. Riley schaute ab und an bei den Herrensachen vorbei, gesellte sich dann aber wieder zu Vicky. Ich sah zu viel. Am liebsten hätte ich ein Dutzend an Kleidern mit in die Umkleidekabine genommen, musste mich jedoch schweren Herzens für eine kleine Auswahl entscheiden.
Mit vier meiner Favoriten über meinem Arm, steuerte ich direkt auf die Kabinen mit den cremefarbenen Vorhängen zu. Dabei hatte ich einen Traum aus rosé. Es war trägerlos, reichte bis zu den Knöcheln und war mit kleinen Röschen rund um die Hüfte herum bestückt. Das Zweite war mintgrün, eher schlicht gehalten, aber mit Fledermausärmeln. Das Dritte war feuerrot mit einer schwarzen Paillettenflamme, die sich vom Saum bis zum Dekolleté schlängelte. Das Vierte war weiß wie Schnee und vorne von der Brust bis zu meinen Zehenspitzen mit sommerlichen Stoffen bestückt, genauso wie die dünnen Träger. Insgeheim war es jetzt schon mein Favorit, aber es musste auch zu mir passen, weshalb ich mich noch für ein paar andere Stücke entschieden hatte. Und außerdem, wann bekam ich je wieder die Chance so viele Kleider auf einmal anzuprobieren?
Nancy hatte sich ebenfalls in eine Kabine begeben. Vicky, Kim und Patricia waren noch auf der Suche. Ich zog den Vorhang zu, entkleidete mich schnell bis auf die Unterwäsche, und streifte mir schon das erste Kleid in rosé über.
Hastig drehte ich mich zum Spiegel, konnte nicht länger warten, mich endlich zu sehen, und schlug die Hände vor meinen Mund. Es war wunderschön!
Ich bekam beinahe Tränen in die Augen, als ich mich vor dem kleinen Spiegel betrachtete. Allerdings kniff es etwas unter den Armen, weshalb es längst ausgeschieden war. Trotzdem drehte ich mich noch ein paar mal nach links und rechts, um den Anblick des rosafarbenen Traums auf meiner Haut auszukosten.
Es fühlte sich wie Stunden an, doch solange niemand nach mir fragte, machte ich einfach weiter. Ich ließ mir für jedes einzelne Kleid sehr viel Zeit, wünschte mir zwischendurch mein Handy herbei, um diesen Moment für mich für immer festzuhalten und lächelte so strahlend wie lange nicht mehr. Ich war einfach glücklich und wünschte mir öfter solche Momente.
Zwischendurch hörte ich das Kichern der Mädchen draußen vor den Spiegeln. Irgendwie wollte ich nicht nach draußen gehen, um mich ihnen zu präsentieren. Es war ein zu intimer Moment für mich, als ihn mit den anderen zu teilen. Ich spähte hinaus und sah wie sie in ebenfalls prachtvollen Kleidern dabei waren Fotos von sich zu schießen. Vicky konnte ich nirgendwo ausmachen, genauso wie Riley. Kim und Patricia schienen auch endlich ihre Traumkleider gefunden zu haben, zumindest posierten sie in Träumen aus nachtblau und smaragdgrün, während Mrs Burley um sie herumtänzelte. Ich war bereits beim letzten Kleid angelangt und zog es hastig an. Mit meinen Füßen stieg ich zuerst in die Stoffmengen hinein und zog es dann über meine Beine und meinen Bauch. Schon als sich der zarte Stoff an meine Haut schmiegte, begann mein Herz ein wenig mehr zu schlagen. Das könnte es werden, dachte ich zwischendurch und legte die Träger sanft auf meine Schultern. Als ich den kleinen Reißverschluss an der Seite hochgezogen hatte, sah ich langsam in den Spiegel hinein und betrachtete mich lange Zeit. Ich fühlte mich wohl und es sah wunderschön aus. Doch ich musste es bei richtigem Licht sehen, hier war es noch zu dunkel. Also sah ich nochmal durch den Vorhang und erkannte, dass Patricia und Kim fort waren. Ich atmete erleichtert aus und lief barfuß über die kalten Fliesen. Der Stoff rauschte bei jedem Schritt und kitzelte meine Beine. Ich fühlte mich schon jetzt wie eine Prinzessin. Als ich dann vor den viel größeren, goldverzierten Spiegel trat, blieb mir fast die Luft weg. Das weiße Kleid mit den gezielten Farbsetzungen in hellgrün, türkisblau und sonnengelb an Brust, Beinen und den Armen, waren wie für mich gemacht worden. Ich konnte es kaum fassen, dass dies mein Kleid werden sollte, und drehte mich immer wieder um meine eigene Achse. Ob mich Mum und Dad bei diesem Anblick mit anderen Augen gesehen hätten?
Da erhaschte ich plötzlich ein buntes Gesicht im Spiegel. Das hieß, es war nicht wirklich im Spiegel, sondern wurde nur von der Eingangstür reflektiert. Ich erschrak und wurde sofort zurückversetzt in jene Nacht, als ich angefahren worden war. Mit einem Mal sah ich wieder die Brücke direkt vor mir, als stünde ich tatsächlich auf ihr. Das glitzernde Wasser, welches in der roten Abendsonne so etwas Magisches bekam, die schreienden Möwen, die ihre letzten Runden über ihm drehten, ehe auch sie sich zur Ruhe legten. Die quietschenden Reifen hinter mir, dieses Gesicht über mir, als ich dort lag, auf dem kalten Asphalt. Diese Männer ... einer von ihnen hatte ein buntes Gesicht getragen und der andere ...
„ Das nimmst du." Ich erschrak erneut und schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort stand Vicky und hatte einen Blick aufgesetzt, der mich fast verlegen schauen ließ.
„ Wo kommst du denn plötzlich her?" Es klang fast vorwurfsvoll. Vorsichtig spähte ich erneut in den Spiegel, doch da war weit und breit kein Gesicht mehr zu sehen. Ich drehte mich noch einmal nach vorne, um durch die Glastür zu blicken, doch auch dort war nichts von einem bunten Gesicht zu sehen.
„ Ich stand da hinten bei den Hüten." Ihr Blick hing fassungslos an meinem Kleid.
„ Das ist wunderschön. Es ist für dich gemacht! Nimm es, bitte! Alles andere wäre sträflich!"
Ich lachte. „ Meinst du wirklich?" Langsam drehte ich mich noch einmal vor dem Spiegel.
„ Natürlich! Es wäre fatal es nicht zu tun!"
„ Pass auf. Vicky neigt dazu, die Menschen um sich herum, zu bequatschen", ertönte plötzlich Rileys Stimme hinter uns. Ich musste lachen, Vicky jedoch verstand in diesem Fall wohl keinen Spaß.
„ Du findest dieses Kleid ja wohl auch schön, obwohl du ein Mann bist!"
„ Was soll das denn jetzt heißen? Ihr Frauen seid die, die die Klischees bedienen, nicht wir. Es wird ein völlig falsches Bild von uns vermittelt. Dies zu ändern, wäre eine Maßnahme."
Vicky verdrehte die Augen. „ Riley, Klappe halten ist auch ne Maßnahme." Verdutzt schaute er zu ihr, während sie nur wieder hin und weg von meinem Kleid war.
„ Nimm es!", drängte sie. Ich war immer noch mit mir am Hadern. Es sollte wirklich das richtige Kleid sein.
„ Es ist wirklich schön. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich es nehmen", mischte sich Riley wieder mit ein und grinste.
„ Siehst du," gackerte Vicky.
„ Na gut", kicherte ich. „ Ich nehme es", verkündete ich und lachte in meine Fäuste hinein.
„ Glückwunsch", flüsterte sie und breitete auch schon die Arme aus, in die ich mich begab und merkte, wie meine Augen allmählich feucht wurden. Riley sah uns beide bloß an, ehe sein Blick zu Patricia und Kim schweifte, die laut kicherten, als auch Nancy mit einem lachsfarbenen Kleid aus ihrer Kabine trat. Ob er unglücklich war? Ich konnte seinen Blick nicht so richtig deuten und vergrub meine Gedanken wieder.
Als ich mich umgezogen hatte und glücklich zur Kasse ging, begrüßte mich schon eine nette Frau hinter der Theke und scannte den Barcode an meinem Kleid. Sie tippte irgendetwas in die Kasse ein und trug den Preis in eine Liste.
„ Und sonst alles gut bei dir?", tönte plötzlich eine leise Stimme von links, sodass ich ein wenig erschrak und mich umschaute. Riley stand hinter mir, die Hände in den Hosentaschen und den Blick aufmerksam auf mich gerichtet. Ich hatte nicht damit gerechnet ihn so schnell wiederzusehen. Doch ich wusste genau, warum er mich dies fragte und nickte bereits.
„ Mir geht's gut, ja."
Er lächelte leicht.
„ Ich dachte, du hast Englisch", bemerkte ich und zog die Brauen fragend zusammen.
„ Ist ausgefallen", erwiderte er sofort und wippte auf und ab. „ Hör mal, ich wollte dich nur nochmal bitten dir keinen Kopf wegen des Vorfalls zu machen."
Verwundert blickte ich ihn an. „ Mach ich nicht. Zumindest versuche ich es. Ich werde auf das Ergebnis deiner Recherche warten und so lange mein Leben weiterleben," log ich, in allen Belangen.
„ Bestimmt", sagte er nur und presste die Lippen aufmunternd aufeinander, als mich die Frau an der Kasse ansprach.
„ Würden Sie bitte hier unterschreiben, dass Sie hier bei uns im Laden waren und, dass diese Artikelnummer, die ihres Kleides ist?" Es war mehr eine Aufforderung, der ich sofort nachkam.
„ Klar", willigte ich ein, nahm ihr den Kugelschreiber aus der Hand und setzte meine Unterschrift in die rechte Spalte der Liste. Es war merkwürdig etwas zu bekommen und dafür kein Geld zu bezahlen. So etwas hatte ich zuvor noch nie getan. Außer, wenn Jim mich mal auf einen Drink einlud. Das war auch immer etwas ganz Besonderes für mich gewesen.
Sie lächelte dankbar und packte mein Kleid in eine große, weiße Tasche, die viel edler verarbeitet war, als eine Plastiktüte in den Läden, in denen ich sonst immer einkaufen gegangen war, wenn ich es mir finanziell mal erlauben konnte. Als ich nach links schaute, war Riley schon wieder verschwunden und stöberte zusammen mit Vicky weiter nach ihrem Outfit. Sobald ich fertig war, schloss ich mich ihnen an und half bei der Suche. Nach einiger Zeit hatte schließlich auch sie ihren persönlichen Traum gefunden. Es war dunkelblau und mit bunten Steinen am Saum verziert. Auch Nancy, Kim und Patricia wurden fündig mit rosa-, lila- und türkisfarbenen Kleidern.
Draußen dämmerte es bereits als wir auf dem Nachhauseweg waren. Ich war müde und trotzdem hätte ich noch einen Spaziergang machen können, durch eine Sternennacht, vorbei an einem Brunnen mit leise plätscherndem Wasser. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Lehne und weinte jedem Meter der Außenwelt im meinem Innersten hinterher. Wie lange würde es dauern, bis ich das alles wiedersehen durfte? Doch auch die merkwürdige Begegnung im Spiegel heute Nachmittag spukte noch immer in meinem Kopf herein. Waren diese Bilder der Vergangenheit so intensiv gewesen, dass ich sie schon direkt vor mir sehen konnte? Oder war da wirklich etwas?
Als wir in den Wald bogen, brach in mir eine kleine Welt zusammen. Ich drückte die Einkaufstasche mit dem wunderschönen Kleid an mich wie einen tröstenden Teddy, der Sorgen kleiner werden ließ, wenn man ihn nur richtig fest umarmte.
Vor dem großen Tor machte der Fahrer schließlich Halt. Nacheinander stiegen wir aus und verabschiedeten uns von Riley, der alleine zum Jungentrakt hinüber musste. Wir anderen liefen gemeinsam auf unseren Trakt zu und trennten uns erst, als es in verschiedene Stockwerke ging. Vicky erläuterte noch einmal, wie wunderschön sie mein Kleid fand und, dass ich sicherlich die Schönste auf dem Ball sein würde, ehe auch wir uns eine Gute Nacht wünschten und uns für den morgigen Tag verabredeten.
Vergessen war die Traurigkeit über meine verlorene Freiheit und wich stattdessen dem Glück, welches ich in mir empfand, als ich an den weichen, bildhübschen Stoff denken musste. Ein Lächeln hatte sich in meine Lippen gebrannt, welches ich kaum noch von ihnen hinunterbekam. Ich betrat mein Zimmer, als meine Freude mit niederschmetternder Wucht gedämmt wurde. Ich sah das Chaos in meinem Zimmer, welches Emma in ihrem Zorn veranstaltet hatte.
Nun fiel mir alles wieder ein. Die Freude über die vielen Kleider, hatte mich alles vergessen lassen. Auch mit Vicky hatte ich kein Wort über das Geschehnis verloren. Wie konnte ich nur so dumm sein? Es wäre wichtig gewesen, jemandem davon zu erzählen!
Langsam stellte ich meine Tüte auf dem Boden ab und lief mit dem Schlüssel, spielend zwischen meinen Fingern, in mein Zimmer hinein. Ich fühlte mich hier nicht mehr sicher und entschied mich spontan dazu, meine Kommode vor meine Tür zu schieben. Sie war etwas schwer und unhandlich, aber ich schaffte es und fühlte mich gleich etwas wohler.
Der Abend kam schneller als gedacht. Nachdem ich mich geduscht und mich bettfertig gemacht hatte, schob ich die Komme um kurz nach halbneun zur Seite. Claire sollte schließlich keinen Verdacht schöpfen und mitbekommen, dass ich meine Tür von innen verbarikadieren musste, da mich eine irre Schülerin stalkte.
Als sie hineinkam, es war etwas später als sonst, umarmte sie mich stürmisch.
Verwundert erwiderte ich ihre Umarmung halbherzig und bekam Angst. Was war geschehen?
„ Claire, was ist passiert?"
„ Es tut mir einfach alles so leid." Sie ließ so abrupt von mir, dass ich beinahe nach vorne fiel und sie mich an den Armen packen musste. „ Sie haben dich so unfassbar unfair behandelt. Ich schwöre dir, dass sie nicht einfach so davon kommen wird."
„ Von wem sprichst du jetzt genau?"
„ Von Mrs Edingburgh. So wie sie sich dir gegenüber verhalten hat, kann ich in keinster Weise tolerieren."
Auch wenn mich ihre Art und Weise zu sprechen wunderte, nachdem sie mir mein Handy aufgrund dessen weggenommen hatte, lächelte ich und fasste nach ihren Händen. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Es war, als würde ich von jemandem ferngesteuert.
„ Ich danke dir, dass du so hinter mir stehst. Ich wusste ja selbst nicht, was richtig und falsch ist, aber ich habe Mikey helfen können und das war das Einzige, was ich wollte."
Ihre Liebenswürdigkeit war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie fand meine Wortwahl toll und stand komplett hinter mir. Es war ein Gefühl, welches ich so schon lange nicht mehr erlebt hatte und es stärkte mich so unglaublich sehr.
„ Hab keine Angst, Madison. Jeder der sich dir in den Weg stellt, muss sich auch in meinen Weg stellen und dieser Jenige braucht nicht zu denken, dass er gegen mich eine Chance hätte."
Ich musste kichern bei dem Gedanke wie sie Mrs Edingburgh einen Maulkorb verpasste.
„ Wie geht es Mikey? Weißt du irgendetwas?"
„ Mikey geht es zwar immer noch nicht sehr gut, aber er ist auf dem Weg der Besserung."
„ Wirklich, was hat er?"
„ Lungenentzündung", erwiderte sie und schaute so bitter drein, als würde sie es akzeptieren, nun vom Pech verfolgt zu werden. „ Der arme Kleine. Wer weiß, was passiert wäre, wenn er bis zum Schluss mitgelaufen wäre. Mit Steven haben wir schon einen Schüler zu viel verloren."
Sofort setzte sich der dicke Kloß in meinem Hals wieder ab. „ Ich würde ihn gerne besuchen, wenn das möglich ist."
Sie lächelte leicht und ihr starrender Blick veränderte sich in einen normalen, als sie zu mir blickte. „ Er ist sehr krank und braucht jetzt viel Ruhe. Es gilt ein striktes Besuchsverbot – vorerst. Er wird sicher ein paar Wochen auf der Krankenstation bleiben."
Ihre Worte stellten mich nicht zufrieden, obwohl ich den ein oder anderen Punkt nicht nachvollziehen konnte. Was bedeutete dieses Verbot für ihn? Völlige Isolation als elfjähriger? Schlimmer konnte es für ihn wohl nicht mehr kommen. „ Zum Glück ist es nichts ansteckendes. Sonst hätten wir jeden, der mit ihm zusammen gewesen war, in Quarantäne stecken müssen. Nichts auszudenken." Angst machte sich in ihren Augen breit. Auch mir machte dieser Gedanke Angst. Mit einem Mal legte sich ein Schweigen über uns, welches Claire mit einem Mal wieder brach.
„ So. Nun will ich aber wirklich dein Kleid sehen! Na, zeig schon!"
Ich neigte den Kopf und musterte sie für einen Moment. Ich hatte ihr wirklich zu danken, doch wohin steckte sie ihre große Traurigkeit? Es musste ihr sicher schwerfallen, so unbekümmert zu sein, damit wir anderen Schüler es leichter hatten.
Ihre Miene verdunkelte sich, als sie bemerkte, dass ich zögerte. „ Du hast doch ein Kleid, oder?"
„ Ja", sagte ich nun und packte die schmutzigen Wäschestücke in die Wanne in meinem Schrank. Der enorme Parfumgeruch, den ich gestern Morgen auf der Kleidung verteilt hatte, kam mir wie eine dicke Wand entgegen und haute mich beinahe um. Hastig schloss ich die Tür wieder und grinste Claire unschuldig an. Ich musste die Wanne morgen unbedingt nach draußen stellen, um die Beweise zu vernichten. Mit gesenktem Blick lief ich zur Tüte und trug sie bis zu meinem Bett. Vorsichtig griff ich nach den Ärmeln und zog es langsam hervor, sodass es seine ganze Pracht entfalten konnte. Claire staunte nicht schlecht und trat neben mich.
„ Wunderhübsch", sagte sie und fasste nach dem Stoff, ließ ihren Daumen darüber streichen und lächelte mich an. „ Es wird dir ausgezeichnet stehen. Pass auf, mit diesem Kleid wird es sicherlich noch so weit kommen, dass du zur Schulballkönigin gekrönt wirst."
Ich lachte auf. „ Das kann ich mir kaum vorstellen."
Claire hatte sich bereits abgewandt, um mit ihrer Durchsuchung in Schränken und Ritzen zu beginnen.
„ So ist es aber", sagte sie darauf nur.
Ich schaute wieder auf mein Kleid und kicherte vor mich hin. Dann packte ich es wieder ein und stellte es zurück.
„ Darf ich dich etwas fragen?", begann ich mit einem Mal, als sich mir die Begegnung mit dem bunten Gesicht wieder ins Gedächtnis rief.
„ Natürlich, Madison. Du kannst mit mir über alles reden. Hast du Probleme?"
„ Es ist nur", ich rieb mir angestrengt über meine Stirn, „ ich habe immer wieder solche Flashbacks von meinem Unfall. Es rufen sich immer wieder Bilder in meinen Kopf und ic weiß nicht, ob ich ihnen vertrauen kann, ob sie real sind, meine ich. Zuletzt hatte ich sie heute, während ich das Kleid anprobiert habe. Dann sehe ich sogar Dinge. Da waren Männer an dem Unfallort und sie haben mit mir gesprochen. Einer hatte sogar ein ... ein buntes Gesicht und genau das habe ich heute auch dort im Laden gesehen."
„ Oh, Madison. Nicht, dass wir deine Medikamente zu früh abgesetzt haben."
„ Nein, das hat doch nichts damit zu tun! Da war heute wirklich etwas. Denke ich ..."
Claire kam einen Schritt auf mich zu und fasste nach meinen Schultern. „ Du hast wahrscheinlich ein Trauma erlitten, sodass dein Kopf nicht mehr richtig einordnen kann, was richtig und was falsch ist. Da waren Menschen, die sich um dich gekümmert haben nachdem Unfall, weshalb du ihnen nun irgendwelche wagen Bilder zuordnest, die dich noch immer verfolgen. Du musst zur Ruhe kommen und das wird sicher dauern. Es freut mich, dass du dich mir anvertraust. Genauso muss es sein. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wenn du nochmal mit unserem Arzt Dr. Halliston sprechen würdest."
Der Name veränderte etwas und ich schien mich zu erinnern. Hatte ich mal jemanden gekannt, der Halliston hieß? Ich war so verwirrt, dass ich Kopfschmerzen bekam.
Warum kam er mir so bekannt vor?
„ Ich weiß nicht. Darf ich mir das nochmal überlegen?"
„ Du entscheidest, ob du ihn sehen möchtest. Wir haben auch gute Therapeuten, die sich all euren Problemen annehmen, wenn ihr einfach nur reden möchtet. Du brauchst mir nur Bescheid zu sagen."
„ Okay", erwiderte ich nur und nickte nachdenklich vor mich hin.
Erst als Claires manikürte Hand nach dem Klemmbrett neben mir griff, trafen sich erneut unsere Blicke.
Mit einer regungslosen Maske, die sich über ihr Gesicht gelegt hatte, zog sie einen Zettel hervor und reichte ihn mir.
„ Was soll ich damit?", fragte ich, als ich ihn auch schon an mich nahm. Ich zögerte einen Moment, ehe meine Augen den kleingeschriebenen, schwarzen Buchstaben folgten.
Hiermit sehe ich mich einverstanden, das geschehene Ereignis gegenüber all meinen Familienmitgliedern, Freunden und allen Mitmenschen aus meinem bestehenden Umfeld, sowie Dritten, Stillschweigen zu bewahren. Ausgeschlossen sind hierbei alle ermittelnden Beatmen des Police Departement, Baltimore und das Lehrpersonal der Archer-Constitution-School. Bei Verstoß in Form von Spekulationen, übler Nachrede oder Brechen, der hiermit geforderten Schweigepflicht, drohen eine Konventionalstrafe von 1. Million Dollar und ein sofortiger Schulverweis ohne Ausstellung von jeglichen bis dahin erworbenen Referenzen.*
*Dies gilt für jeden abgeschlossenen Bildungsgang, erreichten Wissensstand sowie jede bestandene Prüfung durch die Archer-Constitution Schule.
Ich riss die Augen auf. „ 1. Million Dollar?", platzte es aus mir heraus.
„ Wahrheit hat ihren Preis. Wir können nicht riskieren, dass dieses schreckliche Erlebnis die Runde macht und unsere Schule in solch ein schlechtes Licht rückt."
Ich konnte es nachvollziehen, was es für sie bedeutet hätte, wenn das Ganze an die Außenwelt gelangte, doch machten sie sich so nicht eigentlich strafbar?
„ Zum jetzigen Zeitpunkt deutet nichts auf ein Fremdverschulden hin, aber trotzdem. Tot ist tot." Ich schreckte vor ihren knallharten Worten zurück. „ Unterschreib schon. Alle werden es unterschreiben."
Ich schaute auf. „ Das heißt, ich bin ... die Erste?"
Claire trat von einem auf das andere Bein, ehe sie mit der linken Schulter zuckte.
„ Ich ... wollte erst deine Reaktion abwarten."
Warum war ihr meine Reaktion so wichtig? Jeder hätte dieses Blatt unterschrieben, wenn er oder sie nicht auf einer 1 Million schweren Strafe sitzen bleiben wollte.
„ Das kannst du nicht machen."
Claire schaute mich beinahe entsetzt an. Niemals hätte sie mit solch einer Reaktion gerechnet. Und vor allem nicht damit, dass ich kein Blatt vor den Mund nahm.
„ Warum nicht?"
„ Weil du niemandem den Mund verbieten kannst."
„ Die Polizei weiß Bescheid, seine Eltern wissen Bescheid, die ganze Schule weiß Bescheid! Reicht das denn nicht? Diese Schule ist die Existenz meiner Schwester und mir, unser Leben, verstehst du? Diese Meldung würde uns in ein verboten schlechtes Licht rücken!"
„ Aber die Eltern der Schüler könnten ihre Kinder nicht so einfach von dieser Schüler nehmen, ohne vertragsbrüchig zu werden."
„ Aber es würden keine neuen Bewerber mehr bei uns eintreffen, Madison." Sie fasste nach meiner Hand und schaute mich bestürzt an. „ Glaube ja nicht, dass mir das nicht schwerfällt fällt. Ich habe schon den ganzen Tag Magenschmerzen deswegen. Zumal ich gleich zu jedem Schüler gehen muss, um ihm all das zu erklären. Es gibt keinen Ausweg. Selbst Stevens Eltern werden so etwas bekommen, wobei ich noch nicht weiß, ob dieser Plan aufgeht." Sie seufzte und setzte sich wie eine Freundin auf mein Bett, die Hände zwischen die Knie geklemmt. Sie wirkte so glamourös in meinem Zimmer, während ich mit nassem Haar und in Schlafsachen vor ihr stand. „ Sie werden natürlich erzählen dürfen, dass ihr Sohn gestorben ist, jedoch ohne dabei zu erwähnen, dass es hier passiert ist."
Das klang alles so abgedreht, dass ich langsam aber sicher nicht mehr wusste, wo oben und unten war. „ Bitte, Madison. Jetzt schau nicht so fragend. Tu es für mich. Ich habe nur das hier. Es ist mein Lebenstraum. Ich wüsste nicht, wo ich landen würde, ohne meine Schule."
Vor Claire taten sich Abgründe auf, die ich sehr gut nachvollziehen konnte. Wie oft hatte auch ich in meinem Leben schon vor so einem Abgrund gestanden. Und wie sehr hätte ich mich gefreut, jemanden an meiner Seite gehabt zu haben, der mich davor bewahrte geradewegs hineinzustürzen. Es hatte lange gedauert, ehe Jim in mein Leben kam und genau dieser Anker war, den ich immer gebraucht hatte. Nun wollte ich dieser Anker für Claire sein.
Ich seufzte und kritzele meinen Namen auf den vorgegebenen Strich. „ Bitte", sagte ich und streckte ihr den Zettel entgegen. Mit großen Augen schaute sie auf und schluckte schwer.
„ Danke", vorsichtig nahm sie es entgegen. Es war ihr peinlich. Diese Aktion verlangte ihr alles ab, zumal ich ihr bildlich vor Augen geführt hatte, wie abstrus das Ganze eigentlich war. „ Es war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten. Du hast das Richtige getan."
Mit einem Lächeln, welches ihre Augen nicht erreichte, machte sie schließlich kehrt und verschwand mit ihrem Klemmbrett und meiner Unterschrift aus meinem Zimmer.
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