31. Kapitel
„ Du solltest wirklich etwas schlafen. Schau doch, mein Schoß eignet sich perfekt dafür." Riley lächelte dieses warme Lächeln, welches mich zuhause fühlen ließ, und machte eine einladende Handgeste in Richtung seiner Beine. Wir hatten uns wieder in Rosemarie's Büro eingefunden, um weiterhin ein Auge auf Mikey werfen zu können.
„ Ich möchte jetzt nicht mein Bewusstsein verlieren, sondern mir jeder Sekunde bewusst werden, die ich hier mit dir verbringe, auch wenn es nicht der schönste Ort ist, aber mit dir kann ich es ausblenden." Riley war machtlos gegen diese Worte und küsste gerührt mein Haar.
„ Da kann ich wohl nichts erzwingen, was?", lächelte er mit unzähligen Lachfalten.
Ich schüttelte mit dem Kopf, die Zähne auf meiner Unterlippe haftend.
Stille entstand zwischen uns. Eine Stille, in der wir uns musterten und bloß mit unseren Blicken kommunizierten.
„ Kurz nachdem wir uns verabschiedet haben, bin ich zuerst durch den Wald, dann über das riesige Ährenfeld, erinnerst du dich daran?" Mitleidig nickte er. „ Ich habe mich bis zur Straße gekämpft. Ich dachte, sie wären die ganze Zeit hinter mir und könnten mich jeden Moment wieder in ihre Fänge bekommen." Mit einem Mal sah er mich unheimlich leidvoll an. Ich seufzte und fasste nach seinen Händen. Wahrscheinlich um ihm Kraft zu geben. Mir ging es den Umständen entsprechend gut. Ich hatte alles Geschehene irgendwie wegstecken können. Er sollte sich keine Vorwürfe mehr deswegen machen.
„ Ich konnte mich noch an die kleine Kneipe erinnern, die ich auf unserem Weg zu Les vêtements gesehen habe. Dort habe ich mich von Emma absetzen lassen, weil ich es nicht lange mit ihr in so einem engen Raum ausgehalten habe. Sie wollte mich zwar nicht gehen lassen, aber ich habe darauf bestanden. Von dort aus wollte ich mich selbst zur Polizeistation kämpfen. Aber ich bin nie dort angekommen, sondern von der Kneipe direkt im Krankenhaus gelandet."
Riley's besorgter Blick, ließ mein Herz fast zerschmelzen. Noch immer war es unfassbar, ihn so plötzlich wieder in meinem Leben zu haben. Ich hatte damit abgeschlossen – endgültig, doch ich hatte mich in einer Lüge verrannt, genau wie Riley, der es nur getan hatte, um mein Leben zu schützen. Was hatte er dabei bloß auf sich genommen? Und doch war da etwas in seinen Augen, was mich fragend zurückließ. Irgendwie wirkte er nicht wirklich überrascht deswegen.
„ Wusstest du auch davon?", fragte ich zögernd.
„ Ich wünschte, ich hätte bei dir sein können, um dich zu beschützen. Dann wäre es gar nicht so weit gekommen."
„ Das war nicht die Antwort auf meine Frage", erinnerte ich ihn vorsichtig.
„ Ich wusste davon. Von allem. Von der Bar, dem Krankenhaus, deiner OP ..."
„ Woher?"
„ Das Mädchen, welches dich vor der Bar angesprochen hat ... sie war Jack's Schwester. Er war auch dort und hat dich aus der Ferne beobachtet. Sie haben dich gemeinsam zum
Krankenhaus gefahren."
„ Jack?" Nun fielen mir die Augen fast aus. Jack war auch in dieser Bar gewesen und hatte mich sogar gerettet? Das war alles viel zu hoch für mein Gehirn und ich hinkte etwas hinterher. „ Aber ich dachte, er ... er wäre auch weggebracht worden genauso wie Emma! Wie konnten die beiden verschwinden?"
„ Mit Hilfe von Dr. Halliston. Er hat sich als psychiatrischer Beurteiler ausgegeben und bestätigt, dass die beiden zu null Prozent verrückt sind."
„ Wie kam er denn auf sie?" Er hatte auch mir geholfen, zumindest hatte er es versucht. Zwar erfolglos, aber er hatte nicht einfach nur zugesehen.
„ Er stand mit Claire dauerhaft in Kontakt und kam oft an diese Schule. Er hat mehr mitbekommen, als wir uns denken können. Sobald du fort warst, habe ich mit Emma und ihm telefoniert. Emma sollte dich abfangen und Jack sollte dich im Blick behalten."
„ Kann ich Jack wiedersehen?", fragte ich hoffnungsvoll, ohne nun auf die Sache mit Dr. Halliston einzugehen.
Riley nahm mir alle Hoffnungen als er auch schon mit dem Kopf schüttelte. „ Er musste nach der ganzen Aktion auch untertauchen. Also richtig untertauchen. Nicht so, wie nach seinem Aufenthalt in der Psychiatrie."
„ Der Arme ... und ich habe ihn durch meinen Brief dahin gebracht."
„ Hey Madison", er fasste nach meinem Arm. „ Er ist dir in keinster Weise böse deswegen. Ihm war es wichtig, dir zu helfen, so weit er konnte. Und wenn er und Nalli nicht gewesen wären, wer hätte dir dann helfen können?" Nalli war seine Schwester, nahm ich an. Sie hatte sich lustig über mich gemacht und gedacht, ich hätte bloß zu viel getrunken. Wahrscheinlich war selbst das alles eine Maskerade ihrerseits gewesen, um ihren Bruder zu schützen.
„ Ich bin ihm für alles sehr dankbar."
„ Das weiß er und sicherlich hätte er dir das auch alles nochmal gerne persönlich gesagt, aber die Situation lässt es einfach nicht zu. Genauso wenig könnten wir Dr. Halliston im Moment treffen. Auch er ist untergetaucht, zumindest geht er nicht mehr an sein Telefon und ist auch nicht im Krankenhaus."
„ Er hat auch mir geholfen. Claire hatte ihn jedoch dazu gezwungen sich als Psychiater auszugeben und mich als verrückt abzustempeln. Als er bei mir in der Zelle war und wieder ging, hinterließ er mir einen Zettel, auf dem stand, dass ich aushalten sollte und Hilfe auf dem Weg sei. Und genauso war es auch."
„ Er muss schon ziemlich lange auf unserer Seite stehen."
Ich nickte eilig. „ Das tut er."
„ Warum bist du so überzeugt davon?"
„ Ich habe mit ihm gesprochen.Er hat mir vieles erzählt. Jim war auch dort! Ja, er war dort! Im Krankenhaus, meine ich. Claire's Männer haben ihm eines Abends in seiner Bar aufgelauert und ihn mehr oder weniger in die Mangel genommen. Er hatte zwei Rippenbrüche und eine leichte Gehirnerschütterung. Sie hat ihn als allererstes besucht, nachdem sie bemerkt hat, dass ich ihn angerufen hatte. Anscheinend hat sie all meine Gespräche überwacht. Sie drohte ihm mit Konsequenzen, wenn er weiter mit mir Kontakt hielt, wobei er ihn ja unterbinden wollte. Nicht wegen Claire, sondern, weil mein Dad ihm dazu geraten hatte. Warum auch immer. Ich denke nicht, dass es wegen Claire war, sondern, weil er mir eins reinwürgen wollte. Jim hat das aber alles keine Ruhe mehr gelassen. Er wurde misstrauisch und brachte meinen Dad wohl auf etwas. Nach seinen Erzählungen schmiedeten sie einen Plan, gingen dem Ganzen nach so gut es ging, und Claire scheint auch davon etwas mitbekommen zu haben. Deswegen hat sie ihre Männer auf ihn gehetzt."
„ Oh mein Gott", hauchte er. „ Sie hat wirklich überall ihre Finger im Spiel."
„ Vielleicht hätten sie uns retten können, aber sie hat es wieder einmal verhindert."
„ Was ist dann passiert?", fragte er behutsam und strich mir mit der Hand über meine Wange.
„ Ich habe im Krankenhaus Dr. Halliston getroffen. Er hat mich damals nach meinem Unfall behandelt. Er hat sich mir recht schnell zu erkennen gegeben, weil ich ihn natürlich nicht mehr kannte. Doch als ich wusste, wer er war, habe ich ihn so lange gelöchert, bis er mir erzählt hat, dass sich Claire öfter ... junge Menschen aus dem Krankenhaus geholt hat. Und ich war eine davon."
Riley's Ausdruck war nicht so geschockt, wie ich zuerst vermutet hatte und ein unwohles Gefühl machte sich in mir breit.
„ Warte ... Du wusstest auch davon?"
Er leckte sich kurz über die Lippen, ehe er mich aus schuldigen Augen ansah. „ Ich wusste davon. Ich wusste, dass sie so etwas tat. Anfangs habe ich alles versucht, um ihre dieses Vorhaben auszureden, aber Claire kannst du nichts ausreden, wenn sie sich etwas in ihren Kopf gesetzt hat. Sie hat mir gedroht, gesagt, wenn ich noch einmal darüber spreche, dass ich mein blaues Wunder erleben würde und eines Tages vielleicht auch gar nicht mehr aufwachen würde, nachdem ich mich zum Schlafen gelegt hätte." Er zog die Brauen hoch, während ich sprachlos neben ihm saß und mit dem Kopf schüttelte. „ Ich hatte Angst. Damals war ich fünfzehn, habe die Dinge noch anders gesehen als heute. Jedoch hatte ich auch nicht die Mittel, die ich jetzt habe. Nun bist du hier, ich bin damit nicht mehr allein und wir sind beide davon überzeugt ihr endlich das Handwerk legen zu können. Dafür brauchte ich erst dich, vorher wäre es einfach nicht möglich gewesen überhaupt darüber auch nur nachzudenken." Riley griff nach meiner Hand und drückte sie. „ Als Vicky mir erzählte, wie du hierhergekommen bist, also durch was, war mir sofort klar, dass du eine dieser Schülerinnen warst. Und erneut habe ich Claire dafür gehasst. Sie war und ist ein hinterlistiges Miststück", presste Riley hervor und es klang komisch mit dem Gedanken, dass sie ja seine Mutter war, in meinen Ohren. Doch ihr Verhältnis war nicht das Beste, weshalb es nicht so von Bedeutung war, als wenn alles anders gewesen wäre.
„ Meine Eltern hatten aber auch ihre Finger im Spiel. Angeblich hatten sie längst über mich entschieden und dann kam der Unfall."
„ Erzählt Claire", warf er ein und schaute mich misstrauisch an. „ Was ist passiert, bevor wir uns wiedergesehen haben? Draußen mit Vicky."
Ich seufzte und musste versuchen, gefasst zu bleiben, als ich an diese schreckliche Zelle zurückdachte, wo jedoch auch er viele Stunden nackt und ausgetrocknet ausharren musste, bis ich ihn schließlich fand.
„ Dr. Halliston wollte mir helfen! Er hat mich über alles aufgeklärt und mich versteckt, als Claire mit Rosemarie und Mrs Mars im Krankenhaus aufgetaucht ist, aber sie hat es herausgefunden und mich mitgenommen. Als wir zurück in der Schule waren haben sie mir eine Beruhigungsspritze verabreicht und mich in die selbe Zelle gesteckt, aus der ich dich gestern geholt habe."
Riley's Gesicht war eine Maske des Leides und ich konnte es kaum mitansehen, weshalb ich meine Erzählung schnell zu Ende bringen wollte, um es nicht länger ertragen zu müssen.
„ Er hat mich in dieser Zelle besucht und so getan, als wäre er plötzlich gegen mich, aber im Endeffekt war das nur eine Masche, weil die Zelle videoüberwacht wurde. Dabei hat er Mrs Mars angeheuert mich da herauszuholen."
„ Mrs Mars?"
„ Ja." Ich nickte. „ Sie hat mir einen Fluchtweg verschafft und wollte, dass ich zur Polizei gehe, aber dann habe ich dich und Vicky gesehen und aufgegeben. Sie wusste, dass etwas nicht stimmt, konnte aber nicht selbst dagegen vorgehen, weil Claire auch sie ständig beobachtet hat." Ich seufzte schwermütig. „ Und als ich dann von Claire das Go bekommen habe zu gehen, war mir alles egal und ich habe nur noch an mich gedacht." Schuldbewusst rieb ich mir über die Arme und senkte den Blick. „ Mittlerweile bereue ich es."
„ Nein, das darfst du nicht." Er fasste nach meinen Händen und drückte sie sanft. „ Nach alledem was du durch hast, war es längst Zeit, dass du an dich denkst."
„ Aber ich weiß nicht wo sie ist. Was ist, wenn ihr etwas passiert ist? Dann wäre ich schuld. Und das, wo sie immer für mich da war und mich gerettet hat!"
„ Ich glaube nicht, dass ihr etwas geschehen ist."
„ Ich hoffe, du hast recht."
„ Das ist alles meine Schuld", hauchte er und drehte sich weg von mir.
„ Riley, nein! Was redest du dir da ein? Du warst immer derjenige, der versucht hat alles zusammenzuhalten. Du hast alles versucht richtig zu machen, aber Claire's Spiel war uns immer viele Schritte voraus!"
Er schwieg, ehe er wieder zu mir schaute. „ Ich zweifle so an mir."
„ Riley", hauchte ich bestürzt.
„ Vielleicht hat man es mir nie so wirklich angemerkt, ich habe versucht alles unter Kontrolle zu bringen, aber innerlich sah alles ganz anders aus in mir. Ich habe mich oft wertlos gefühlt. Vicky hat es mir am aller deutlichsten gezeigt. Indem sie mich nicht wollte, hatte sie alles bestätigt, was Claire mir all die Jahre, in denen ich noch ein Kind war, in mein Hirn gehämmert hat." Ahnungslos schaute ihn an, wobei ich nicht wollte, dass er es aussprach.
„ Dass ich völlig wertlos bin."
Meine Hand wanderte an seine Wange und streichelte sie behutsam. Riley schloss die Augen und presste sie gegen meine Finger.
„ Das ist so schön", flüsterte er.
„ Was hat sie dir nur angetan?", fragte ich schließlich und fasste noch nach seiner anderen Wange. Dieser Satz holte ihn zurück in die kalte Realität und er schlug sie wieder auf.
„ Jahrelange Unterdrückung. Manchmal meintest du, ich sei gestört. Vielleicht eine Folge ihres Wahnsinns, aber ..."
„ Nein", fiel ich sofort dazwischen und griff nach seinen Händen.
„ Ich liebe diesen Wahnsinn und deswegen kann er nicht von Claire kommen, verstehst du das? Ich brauche das, ich brauche dich zum Leben, genauso wie du bist! Und ich will niemals mehr hören, dass du wertlos bist, denn das bist du nicht, okay? Du bist alles. Und ich will, dass du dich niemals, nicht durch Claire oder sonst irgendwen, der versucht dir beziehungsweise uns, zu schaden, veränderst, okay? Ich brauche dich so wie du bist." Seine Lippen bebten bereits. Mit so viel Liebe, mit der ich ihn nur so überschüttete, hatte er nicht gerechnet.
„ So etwas Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt", flüsterte er, als sich eine Träne aus seinem Augenwinkel stahl und über die Wange rollte.
„ Riley", weinte nun auch ich, weil ich kaum mitansehen konnte, wie er vor mir weinte. Es hatte mir schon einmal das Herz gebrochen. Bevor ich noch meine Arme um ihn schlingen konnte, kam er mir zuvor und zog mich fest an sich.
„ Ich liebe dich", hauchte er mir in mein Haar. „ Ich liebe dich so sehr!"
„ Ich liebe dich, Riley. Und bitte komm nicht mehr mit der Idee, dass du es nicht schaffst." Ich hob meinen Kopf und sah ihm ins Gesicht. „ Denk daran, wenn du es nicht schaffen würdest, würde ich es auch nicht schaffen. Ohne dich kann ich nicht mehr sein." Unsere Hände verschränkten sich so fest miteinander, dass es beinahe schmerzte, aber diesen Schmerz hieß ich herzlich Willkommen. Er drückte Kraft und Überlebenswillen aus und davon hatten wir mehr als genug.
Wir verbrachten die restliche Zeit zusammen.
Mikey schlief so lange, bis der Zeiger auf der Uhr an der Wand fünf vor sieben zeigte, ehe wir ihn mit viel Bedacht aufweckte. Er schien sofort wieder im Hier und Jetzt zu sein, da er keine Sekunde länger liegen blieb und direkt aus dem selbstgebastelten Bett kletterte. Riley und ich nahmen ihn bei der Hand und liefen gemeinsam mit rasenden Herzen auf das Fenster zu.
„ Was, wenn es sich nicht öffnen lässt?", fragte Riley, als wir da vor zum Stehen kamen.
„ Dann werden wir einen anderen Weg finden", erwiderte ich mit starker Stimme. Ich wusste, dass wir es schaffen würden. Und gemeinsam konnte uns niemand mehr etwas anhaben. Claire war jetzt allein und wir zu dritt. Unsere Barrieren waren aus der Welt geschafft und unsere Kraft war stärker den je. Ihre Chancen waren gleich null. Natürlich musste man bei ihr damit rechnen, dass sie plötzlich ein Ass aus ihrem Ärmel schüttelte, aber wir würden schlauer sein als sie. Wir konnten sie besiegen.
Riley biss sich auf die Lippe. Und anstatt er wieder davon sprach, dass ihm etwas ankommen könnte, nickte er bloß zustimmend und küsste mich noch einmal. Als er von mir abließ, sahen wir uns an, schickten uns gegenseitig Mut und Hoffnung, ehe er sich seufzend zum Fenster drehte und die Schultern straffte.
Mikey presste sich ohne etwas zu sagen gegen meine Hüfte. Ich bemerkte dies lächelnd und schlang einen Arm um ihn. Inzwischen war Riley auf den Schreibtisch geklettert, um nach dem Griff des Fensters zu greifen. Noch einmal glitt sein Blick auf die Uhr an der Wand, die mittlerweile Punkt sieben Uhr anzeigte.
„ Es muss klappen", flüsterte er. Er zögerte einen Moment, ehe er mit einem kräftigen Ruck den Griff nach hinten zog und das Fenster somit öffnete.
Mikey stieß einen Freudenschrei aus, woraufhin ich ihm sofort die Hände auf den Mund presste.
„ Für das Schreien haben wir gleich noch genug Zeit", sprach ich ihm gut zu und ließ meine Hände wieder sinken.
„ Entschuldigung", murmelte er einsichtig.
„ Es ist alles in Ordnung." Behutsam strich ich ihm mit meinen Fingern über die Wange.
„ Die Frage ist nur, wie wir vorgehen. So wie besprochen?"
Mein Kopf richtete sich in Riley's Richtung. Er stand dort mit den Armen in den Hüften und einem ratlosen, hektischen Blick.
„ Wir packen Mikey auf jeden Fall in die Mitte, sodass er von beiden Seiten jemanden hat, der ihn festhält."
„ Aber ich mache mir auf beiden Positionen um dich Sorgen. Ob du als Erstes oder Letztes gehst."
Gerührt schaute ich zu ihm hinüber. Der Einzige, der sich früher um mich gesorgt hatte, war Jim gewesen. Außerdem war es anders gewesen, als jetzt bei Riley. Mit ihm hatte ich bereits ein Bett geteilt und liebte ihn unsterblich. Es bedeutete großes Glück für mich, ihn gefunden zu haben, da ich genauso allein geblieben wäre, wie er.
„ Ich habe auch Angst um euch beide, um mich, aber wir müssen es hinkriegen. Es ist unsere einzige Möglichkeit. Claire kann uns draußen nicht so schnell abfangen, wie auf den Fluren. Wie wir es also machen, Riley, wir müssen sehr vorsichtig sein und einen kühlen Kopf dabei bewahren."
Er nickte.
„ Deswegen gehe ich zuerst. Ich fange Mikey auf. Dann werden wir beide dich zu uns holen."
„ Einverstanden", sagte er und half mir bereits auf den Schreibtisch hoch.
„ Bitte sei vorsichtig", bat er mich, als ich das Bein schon über den Rand der Fensterbank streckte. Während Riley mich an meiner Taille festhielt, setzte ich mich rittlings in das Fenster hinein. Ich schwankte ein wenig und zwang mich dazu nicht nach unten zu schauen, doch es war längst zu spät. Die Neugier besiegte die Vernunft und ich warf einen Blick nach unten. Wir befanden uns bereits im siebten Stock und das Ausmaß der Höhe war mir noch nie so bewusst geworden, wie in diesem Moment. Abgesehen von meiner Höhenangst, doch dafür machte ich meine Sache ganz gut.
Verzweifelt suchte ich zitternd nach Riley's Hand, die er blitzartig packte und zu mir hinaufschaute. „ Du musst das nicht machen! Wir können uns auch etwas anderes überlegen!" Ich spürte förmlich, wie er mich davon abbringen wollte, tatsächlich hier hinauszuklettern, aber ich hatte den Willen es zu tun und wollte mich von nichts und niemandem mehr abbringen lassen.
„ Es ist okay", gab ich Entwarnung, obwohl es auch etwas gelogen war, und versuchte stark zu bleiben.
„ Pass auf!", wies Riley mich besorgt an. „ Wenn du dich sicher fühlst, strecke deinen linken Arm nach dem Geländer aus." Ich tat wie mir befohlen und umklammerte meine Finger um das kalte Eisengitter, welches wirklich nicht weit von mir entfernt war. Meine Finger konnten problemlos danach greifen. „ Dann stellst du deinen Fuß zwischen die zwei schmalen Gitter, direkt vor dir."
Seine Stimme war unheimlich angespannt, genauso wie ich mich fühlte. Ich zitterte am ganzen Körper, während der Schweiß von dem eiskalten Wind hier oben allmählich auf Sitrn und Rücken getrocknet wurde. Eine falsche Bewegung, ein unbedachter Moment, ein Ausrutscher und es wäre alles vorbei gewesen. Diesen Sturz würde kein Mensch überleben. Ich versuchte so viel wie möglich von der Angst in mir herunterzuschlucken und tat wie mir gesagt. Vorsichtig stellte ich meinen rechten Fuß zwischen die Metallstangen, bis ich sicheren Halt verspürte. „ Du musst jetzt mit etwas Schwung hinüber. Ich halte dich so lange ich kann, ja?", sagte Riley.
„ Okay", willigte ich ein. Ich durfte nicht zu viel und nicht zu wenig Schwung nehmen, um nicht auf halber Strecke das Gleichgewicht zu verlieren oder von der ruckartigen Bewegung loszulassen. Mein Herz raste und in meinem Bauch rumorte es laut.
„ Du schaffst das! Ich weiß einfach, dass du es schaffst, okay?"
Riley sprach ruhig und besonnen auf mich ein. Ich konnte nicht anders und sah zu ihm. Sein liebevolles Gesicht, welches so viel für mich übrig hatte, gab mir die Kraft, die ich benötigte, um das hier oben durchzuziehen. Mit ihm fühlte ich mich unzerstörbar. Stark. Als könnte ich niemals sterben. Doch die Sorge um ihn und um Mikey blieben bestehen und trübten das Gefühl der Unzerstörbarkeit in mir.
Ich blies Luft zwischen meine Lippen hindurch, ehe ich Schwung nahm und nach vorne schnellte. Riley's Hände verließen meine Taille und ich fand mit meinem linken Fuß Halt neben dem rechten.
„ Jawohl!", hörte ich Riley hinter mir triumphieren.
„ Super!", rief Mikey und streckte schon seine Daumen in die Höhe. Ich lächelte leicht und schwang mich über das Gitter. Meine Gliedmaßen zitterten und ich hatte es noch immer nicht ganz realisiert, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Nun war Mikey an der Reihe. Er machte es genauso wie ich, doch seine Augen überredeten ihn dauernd, nach unten zu schauen.
„ Guck mich an, Mikey. Nicht nach unten. Davon wirst du nur schwindelig!", redete ich auf ihn ein. Sein Blick hob sich und blieb auf meinem Gesicht haften.
„ Meine Arme und Beine sind zu kurz", bekam er mit einem Mal Bedenken.
„ Mikey, du schaffst das. Du hast gesehen, wie ich es gemacht habe. Außerdem halten Riley und ich dich."
„ Okay."
Riley überreichte ihn mir quasi, während Mikey nach meinen Unterarmen griff und sich so fest an sie klammerte, dass es bereits schmerzte, aber das war nicht schlimm. Ich wollte ihn nur zu mir schaffen, weg von der Gefahr.
„ Siehst du, war doch ganz einfach", lächelte ich ihm zu als er mir schon gegenüberstand.
„ Ja", sagte er, hob das Bein, um es über das Geländer zu bekommen, rutschte jedoch auf seiner Hose ab und verlor den Halt. Er riss die Augen auf und flog in die Tiefe.
Ich schrie so laut auf, dass ich mich selbst davor erschreckte. Sofort zog er mich mit, sodass ich mit meinem ganzen Oberkörper über dem Geländer hing, an meinen Armen der zappelnde Mikey.
„ MADISON!", schrie er weinend, während die Todesangst in seinen Augen stand.
„ NEIN!", brüllte Riley vor mir. Ich war froh seinen Ausdruck in diesem Moment nicht sehen zu können.
„ BITTE, LASS MICH NICHT FALLEN!"
„ ICH HABE DICH! ICH LASSE DICH NICHT LOS!", schrie ich ihm entgegen, obwohl dies leichter gesagt als getan war. Sein ganzes Gewicht riss an meinen Armen, machte sie müde und ließ sie schmerzen. Dabei hatte ich nur nach einer seiner Hände greifen können, die andere hielt noch immer das Kleid.
„ Du musst aufhören mit den Beinen zu strampeln!", schrie Riley ihn aus dem Fenster an.
„ Halte sie ruhig, dann kann Madison dir auch helfen! Madison, geh etwas in die Knie!", wies Riley uns panisch an und versuchte uns aus der misslichen Lage zu befreien. Dabei hatte ich keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte in die Knie zu gehen, da ich bei jeder Bewegung damit rechnen musste, ihn loszulassen, oder gleich zusammen mit ihm in den Abgrund zu stürzen. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als Riley's Anweisung zu befolgen und mich hinzustellen, als würde ich einen Schneeberg auf Skiern hinunterfahren wollen. Mikey's Hand wurde immer rutschiger. Er schrie aus Leibeskräften und strampelte mit den Beinen in der Luft herum.
„ Ich will nicht sterben!"
„ HALTE ENDLICH STILL!", kreischte Riley, dass es in meinen Ohren bereits klingelte. Mikey stoppte. Wie es für Riley hatte ausschauen müssen. Er war uns so nah und doch wieder zu entfernt, um helfen zu können. Er hätte uns beide auf einmal verlieren können. Das musste sich furchtbar anfühlen.
Ich konnte nicht nach oben schauen. Nicht nur, weil ich es nicht wollte, sondern, weil es physikalisch im Moment nicht möglich war. Stattdessen sah ich weiterhin zu Mikey, der mir mit leidvoller Miene entgegenschaute.
„ Du wirst nicht sterben, Mikey!", sprach ich ihm so gut es ging zu. „ Ich werde dich jetzt zu mir hochziehen!"
„ Ich heiße nicht Mikey!", rief er krächzend zu mir hinauf.
„ Er muss dieses Kleid endlich loslassen!", schrie Riley.
„ Riley hat recht! Du musst das Kleid loslassen, damit ich deine andere Hand nehmen kann!"
„ Nein, ich kann nicht! Es gehört mir!"
Mir platzte fast der Kragen! Mikey hing sicherlich vierzig Meter über hartem Beton, der seinen Tod hätte bedeuten können, und Rosemarie's Gedanken ließen seinen Kopf noch nicht einmal in dieser Situation in Ruhe? Das musste aufhören! Und das am besten sofort!
„ Es gehört dir eben nicht! Und dein Name ist auch nicht Valerie, sondern Mikey Greenwald, du bist elf Jahre alt und kommst aus Philadelphia! Du brennst für Mode und Make-up, für das Anders-sein! Du bist ein Junge und einer von den Guten, kein Mädchen und vor allem nichts was schlecht ist! Du bist gut so wie du bist! Vergiss Valerie, sie existiert nicht!"
Mikey jammerte und schaute mich nicht mehr an. Es war als würde er es gar nicht hören wollen, doch ich hatte kein Erbarmen und versuchte ihn in dieser schrecklichen Situation endlich aufzuwecken!
„ Erinnere dich an dein altes Leben, Mikey! Denk an deine Zeichnungen, deine Kleidersammlung, wie du mir das Backen gelernt hast, den Karottenkuchen, den du so liebst, wie wir auf der Krankenstation in deinem Zimmer gelacht haben! Das bist du, Mikey! Du! Und keine Valerie oder jemand, der nicht okay ist! Du bist ein wertvoller Mensch, ein Kind, was so klug und talentiert ist und zu einem noch viel klügeren und talentierterem Mann heranwachsen wird! Deine Eltern lieben dich abgöttisch, trotz allem was geschehen ist und das werde auch immer! Und ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen, wenn du es möchtest! Nie wieder!" In diesem Moment sah er plötzlich auf. Sein Gesicht war voller Tränen, die Augen rot und dick geschwollen, doch ich konnte eine Klarheit in ihnen erkennen, die mich beinahe umhaute.
„ Versprich es mir!"
„ Das kann ich nur, wenn du mir deine andere Hand reichst", schluchzte ich mittlerweile.
Mikey hing noch für ein paar Sekunden dort, ohne sich zu rühren, als sich plötzlich der Stoff unter seinem Arm löste und ich mit einem Mal erkannte, wie das Kleid im Wind geh Boden flatterte. Da streckte sich auch schon sein kleiner Finger in meine Richtung. Ich lächelte trotz aller Anstrengung zu ihm hinunter und wartete darauf, dass sie in gleicher Höhe, wie die rechte Hand war, die ich bereits fest umklammerte. Als er die letzten Zentimeter geschafft hatte, ließ ich eine Hand von ihm und packte ihn bei der zweiten. Er rutschte und wir schrien, doch ich hatte ihn und würde ihn niemals mehr loslassen.
„ Ich habe dich! Ich ziehe dich jetzt zu mir hoch!"
Er weinte noch immer, doch er wurde ruhiger. Mit aller Kraft, die mir in diesem Augenblick zu Teil wurde, konnte ich ihn zu mir hinaufziehen. Als ich ihn endlich auf meinem Arm hatte, brachen wir beide zusammen und rangen nach wertvoller Luft.
Mit verschwommenem Blick schaute ich in den Himmel hinein und sah die grauen Wolken auf dem ebenso grauen Hintergrund. Mein Körper pochte von der Anstrengung und mein Kopf schaltete alle Gedanken aus, die ich bis gerade noch gedacht hatte.
Da hörte ich plötzlich metallene Schritte und das Gerüst unter mir begann zu wackeln. Zuerst konnte ich es nicht einordnen, dachte, es würde noch zu meinen vorherigen Schwindel gehören, als mir mit einem Mal das Herz stehenblieb.
Zuerst war es nicht real, unbegreiflich, doch mein Kopf schaltete wieder und leitete die Information der Gefahr an meine Beine weiter, sodass ich ruckartig aufsprang. Hastig lehnte ich mich über das Geländer und schaute nach unten, wo ich Claire auf dem direkten Weg zu uns nach oben ausmachen konnte.
„ Nein!" Ich schaute mich hastig um. „ Mikey, du musst zurück!", entschied ich sofort und fasste ihn schon bei den Schultern.
Mikey hatte sich noch gar nicht richtig berappelt, Claire dafür aber auch noch nicht gesehen, und bekam es mit der Angst zu tun, als er meine Worte allmählich begriff.
„ Nein, ich kann nicht!"
„ Doch, du musst! Hör bitte auf mich! Du musst zu Riley zurück! Riley!" Auch er hatte noch nichts von Claire mitbekommen.
„ Mikey muss zurück. Da unten ist abgesperrt. Ich komme auch."
„ Aber ...", wollte Mikey einwenden, doch ich hielt ihm den Mund zu. „ Sag ihm bitte nichts. Ihr könnt die Polizei gleich in Empfang nehmen. Sie werden mir helfen, okay?"
„ Was hast du vor?"
„ Madison! Ist alles in Ordnung?", rief Riley mir zu und ich sah die pure Panik in seinem Gesicht stehen. Was hatte er da mitansehen müssen, als Mikey nur an meiner Hand über dem sicheren Tod hangelte.
„ Ja", antwortete ich atemlos. „ Riley, er muss zu dir! Wir kommen dort unten nicht weiter!", log ich und es schmerzte so unfassbar doll ihm jegliche Hoffnungen zu nehmen.
„ Das darf alles nicht wahr sein!", brüllte er wütend und haute mit der Faust gegen die Wand.
„ Schnell, Mikey", bat ich ihn in der Zwischenzeit und half ihm erneut zurück in
Rosemarie's Büro. Als Riley ihn schon in Empfang nahm, erkannte ich aus dem Augenwinkel eine Person, vielleicht gerade einmal zwei Meter von mir entfernt, die einfach nur dastand und aufgeregt atmete.
„ Jetzt werdet ihr nicht mehr gehen", sagte sie ganz ruhig.
Ich sah noch ein letztes Mal zu Riley, der immer noch dabei war, Mikey behutsam zu sich zu holen. Sie sollten das hier nicht sehen. Wenn ich jetzt weiter nach oben rannte, hätten sie keine Ahnung, dass mir Claire auf den Fersen war.
Ich riss mich von ihrem Anblick los und raste die Stufen weiter hinauf, Claire direkt hinter mir. Ich wusste, dass es oben keine Möglichkeit gab, zu entkommen. Vielleicht würde ich dort mein Ende finden. Ich wusste es nicht, wollte auch nun nicht darüber nachdenken.
Ich ließ die letzte Treppenstufe hinter mir und geriet ins Straucheln. Mit voller Wucht fiel ich der Länge nach hin und riss mir die Knie auf. Stolpernd versuchte ich mich erneut aufzurichten, doch prallte wieder auf dem Boden auf. Es war als hätte sie meine Beine mit einem Zauberspruch gelähmt. Keuchend ergab ich mich vorerst meinem Schicksal und wartete auf sie.
Sie kam oben an wie eine junge Göttin. Ihr Haar wehte ihr offen um das Gesicht. Obwohl es etwas zerzaust war und ihr Kayal sich mittlerweile nun schon unterhalb ihrer Augen befand, sah sie noch immer wie eines dieser Models aus einem Hochglanzmagazin aus. Ihr Gang stets unverändert glamourös und perfekt. Sie hatte mich nun nicht mehr jagen müssen, denn sie wusste, dass ich ihr hier auf dem Dach komplett ausgeliefert war. Ihre Gewissheit machte sie frei und zufrieden.
„ Oh Madison. Meine liebe Madison", begann sie plötzlich zu wimmern und senkte den Blick. „ Nun liegst du sprichwörtlich am Boden."
Sie kam direkt auf mich zu, was mir wieder neue Kraft verlieh. Panisch versuchte ich wieder aufzustehen, aber die Angst hatte sich in meinem kompletten Körper festgesetzt. Ich hatte keinerlei Kontrolle mehr über ihn und schaffte es nicht rechtzeitig aufzustehen, um ihr zu entkommen. Ich verharrte in meiner Position, als ihre Schuhe direkt vor meiner Nasenspitze Halt machten. Mein Atem kam nur noch stoßweise und ihre Präsenz übernahm meinen Geist.
„ Hier. Nimm sie. Du kannst sie gebrauchen." Zuerst verstand ich den Zusammenhang ihrer Worte nicht, als ihre Hand in meinem Sichtfeld auftauchte. Sie wirkte einladend und vertraut, und doch steckte so viel böses in ihr. Sie hatte damit bereits gewürgt und Türen verschlossen, um mich von der Außenwelt zu isolieren. Ich würde sie in keinem Fall fassen. Diese Zeiten waren vorbei.
„ Fahr zur Hölle", stieß ich spuckend hervor.
Claire trat einen Schritt zurück und lachte. „ Oh, meine Kleine. Wie konnte das alles nur passieren? Wie nur? Erklär es mir!"
Ich hatte meine Sprache verloren. Die Angst lähmte nicht nur meine Gliedmaßen, sondern setzte sich nun auch auf meinen Stimmbändern ab.
„ Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ich dich das erste Mal sah. Du warst so unschuldig und so hilflos und nun ... nun sehe ich eigentlich dasselbe Bild, aber ich habe dich kennengelernt. Hinter dieser Fassade dort unten, brodelt schreckliches." Geschafft fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Stirn, als ich auch schon die Pistole zwischen ihren Fingern klemmen sah. Mit einem Mal brach ein Blitz über mir herein. Diese Pistole hatte ich schon einmal gesehen. Sie gehörte Mrs Mars! Zumindest hatte sie sie dabei gehabt, als sie mich aus der Zelle befreite!
„ Wo ist Mrs Mars? Das ist ihre!", keuchte ich und zeigte auf die Waffe.
Claire beäugte sie genauer und machte dann eine anstrengende Pose. „ Lass mich kurz überlegen. In dem Magazin waren noch fünf Kugeln. Jetzt sind es nur noch vier."
„ Nein", weinte ich. „ Du hast sie umgebracht!" Und ich war Schuld daran gewesen. Ich hatte ihr nicht zugehört, gar nicht erst versucht ihr zu helfen. Und nun war sie tot.
„ Sie ist nicht meinen Regeln gefolgt. Was sollte ich noch mit ihr? Sie hat gegen mich rebelliert, genauso wie du. Gegen eure eigene Mentorin, die euch ein Zuhause geboten hat, eine Möglichkeit auf ein besseres Leben. Es ist zu traurig. Jedoch mag es Menschen geben, die sich immer wieder alles selbst kaputt machen."
„ Was willst du von uns?", fragte ich atemlos und krächzend.
„ Eigentlich wollte ich nur etwas von dir. Leider Gottes müssen wir mittlerweile in der Vergangenheit sprechen. Die Zeiten haben sich geändert. Erst warst du allein, und ich wollte das Beste aus dir herausholen, aber dann kamen immer mehr und ich verlor beinahe den Überblick. Vieles konnte ich aus der Welt schaffen, aber es gilt immer noch einiges zu bereinigen."
Fassungslos riss ich die Augen auf und schaute zu ihr nach oben. Sie hatte schreckliche Dinge getan. Das hatte sie gerade eben zugegeben und sie würde weitermachen, bis nur noch ich übrig blieb.
„ Es sind Menschen an dieser Schule gestorben," flüsterte ich.
„ Ja, und es werden noch drei mehr", lachte sie und legte den Kopf schief.
Mein Herz setzte aus, ehe es weiterraste und schon in meiner Brust schmerzte.
„ Es sind doch nur die Menschen gewesen, die es nicht anders verdient haben."
Sie sagte dies in so einem Ton, dass mir beinahe schlecht davon wurde.
„ Du hast es nicht verdient! Dachte ich zumindest immer. Doch was ist jetzt noch davon übrig?
„ Was ist mit ihnen geschehen?" Auch wenn sie mir gerade durch die Blume erzählt hatte, dass sie auch mich beseitigen wollte, blendete ich es einfach aus, um endlich die Wahrheit zu erfahren.
„ Nichts was hier an dieser Schule passiert ist, war ein Zufall. Es gab einige Dinge zu klären, manche waren schlimmer, die anderen etwas weniger schlimm. Im Großen und Ganzen war es aber keine allzu schöne Angelegenheit."
„ Was redest du da?", weinte ich.
„ Das ist mein Ernst, okay? Ich wünschte auch, es nicht getan haben zu müssen, weil im Endeffekt nicht das eingetreten ist, was ich mir erhofft habe, aber das konnte vorher ja keiner wissen."
„ Was hast du getan?", fragte ich sie ohne Umschweife und schaffte es nun mich auf allen Vieren aufzustellen.
„ Willst du eine Liste?", fragte sie provokant.
„ Warst du das mit Steven? Hast du ihn umgebracht?"
„ Natürlich, war ich es. Und Brian hat es für mich ausgeführt. Sie haben gegen sämtliche Regeln verstoßen. Eine Party mit Alkohol und Drogen, Steven hat davon sogar heimlich welche gelagert, beide haben sie sich an dich herangeschmissen. So habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Der eine war tot und der andere mit seinem schlechten Gewissen beschäftigt."
Mein Kopf konnte ihre qualvollen Worte, die sie voller Enthusiasmus und Überzeugung von sich gab, kaum aufnehmen und realisieren. Eine Frau, Leiterin einer ganzen Schule, Vertrauensperson und Lehrerin, hatte ihren eigenen Schüler ermordet und sich selbst dabei gar nicht die Hände schmutzig gemacht, sondern es einen anderen Schüler für sich machen lassen. Sie war so widerwärtig, dass es mir schwerfiel sie weiter anzusehen.
„ Er sollte nur etwas aus seiner kleinen Sammlung stibitzen und es ihm ins Getränk rühren. Der perfekte Selbstmord. Keiner hat Verdacht geschöpft. Der Plan war einfach perfekt."
Da hatte sie leider Unrecht, denn Pam und Logan hatten sehr wohl einen Verdacht gehegt. Sie hatten nie an Selbstmord geglaubt. Und sie hatten recht damit gehabt. Das konnte Claire jedoch egal sein, da die Detectives keinen blassen Schimmer von ihrer unfassbaren Tat gehabt hatten.
„ Schüler denken ja, dass ihre Lehrer vollkommen bescheuert sind und nichts um sich herum mitbekommen, aber da haben sie nicht mit mir gerechnet. Ich hatte Steven's Versteck schon einen Tag vorher entdeckt, da wir das Badezimmer wegen Schimmelbefall behandeln mussten. Und ich fand sein Versteck in der Toilette. Ich habe nichts gesagt, um mir eine geeignete Strafe für ihn auszudenken, bis ich auf dem Schulhof etwas von einer Party hörte. Ich machte mich also abends auf zu seinem Zimmer und fing Brian ab, als er gerade aus der Tür trat, wahrscheinlich um nach dir zu suchen. Er erschrak ziemlich doll und war noch viel ängstlicher, als ich ihm meinen Vorschlag unterbreitete. Er konnte sich überlegen von dieser Schule zu gehen, oder aber Steven aus dem Weg zu räumen und zu bleiben. Und was soll ich sagen? Man kennt einen Menschen erst immer nur nach seinen vollbrachten Taten. Er brachte ihn um und rettete damit seine eigene Haut. Mit den Konsequenzen für sich selbst, musste er alleine bleiben. Ich hatte ihm schließlich eine Möglichkeit zum Wählen gegeben."
Mir wurde durch ihre Erzählung so einiges klar. Brian hatte die Party längst vor uns verlassen, wahrscheinlich um nicht mitanzusehen, was er getan hatte. Seit dieser Nacht war er mir nur einmal im Cafe begegnet und war auch dort recht wortkarg geblieben. Einzig auf dem Schulball war in seinem Gesicht wieder so etwas wie Lebensfreude zu sehen gewesen und unser Gespräch machte nun auch mehr Sinn.
Obwohl ich kurz vor einem erneuten Zusammenbrauch, diesmal auch auf meine Seele bezogen stand, schaffte ich es mich auf meine Knie zu setzen und nicht länger wie ein hilfloser Fisch vor ihr auf dem Boden zu kauern.
„ Und was ist mit Emma? Sie ist danach verschwunden."
„ Emma hatte keine Ahnung von alledem, umso besser konnte ich ihre Trauer benutzen. Sie war zwar längst nicht mehr mit ihm zusammen, aber sie liebte ihn noch immer. Ich habe ihre Beziehung erst dann bemerkt, als sie sich eines Abends aus seinem Zimmer stahl, als Rosemarie und ich eine Besprechung in ihrem Büro hatten. Kurzerhand druckte ich ein paar Bilder von wunderschönen Mädchen aus dem Internet aus und gab sie Rose mit, die sie schließlich unter seinem Kopfkissen drapierte. Emma fand sie schließlich bei einem weiteren, heimlichen Besuch und beendete die Beziehung mit ihm. Aber ich sah diese stetig roten Augen, die Verletzung, von ihrem Geliebten betrogen worden zu sein. Es brach mir beinahe das Herz, doch ich musste stark bleiben. Und als Steven tot war, habe ich ihr diese schreckliche Nachricht persönlich überbracht, um zu sehen, was bei ihr noch zu holen war. Sie brach in meinen Armen zusammen und ich wusste, woran ich war. Ich erzählte ihr von dir, der neuen Schülerin, die mit ihm gemeinsam auf der Party gewesen war und sich an ihn herangeworfen hatte. Er war eindeutig nicht interessiert an ihr und zeigte ihr dies an jenem Abend auch. Wenige Stunden später war er tot. Und selbst wenn sie die anderen Gäste gefragt hätte, niemand wusste genau, was zwischen euch passiert war und ob er dich hatte abblitzen lassen. Also war es wieder einmal perfekt." Die Tränen rannen mir ungehemmt über meine Wangen, meinen Hals und durchtränkten mein dünnes T-Shirt, welches im kalten Wind um meinen frierenden Körper flatterte. „ Ich hetzte sie auf und stachelte sie an, dir Angst zu machen, gab ihr Tipps wie sie dich bedrohen konnte und wie sie dein Zimmer präparieren sollte. Materialien und die Ideen letztendes stammten von ihr. Und ich muss sagen, sie hatte wirklich künstlerisches Talent! Diese Gesichter auf den Puppen waren beeindruckend und diese Dramaturgie in ihrer kleinen Geschichte, die sie dir erzählen wollte! Meisterhaft!"
„ Warum das alles?", schrie ich weinend. „ Warum hast du mich so gequält?"
„ Weil du gegen meine Regeln verstoßen hast. Du bist zu dieser Party gegangen, wobei du ganz genau wusstest, dass es nicht erlaubt war und die Dreistigkeit hattest, es als neue Schülerin einfach trotzdem zu tun, ohne Rücksicht auf Verluste!" Ihre Sprechweise nahm aggressive Züge an. Sie hasste Ungehorsam, vor allem, wenn sie es nicht von demjenigen erwartet hätte.
Ich senkte den Blick und presste die Lippen zusammen. Ich hatte Emma so viel unrecht getan. Es war eine bloße Verzweiflungstat gewesen. Nun wusste sie über alles Bescheid und verdächtigte mich längst nicht mehr. Claire hatte dieses Verhältnis zwischen uns geschaffen, wie so oft. Sie war das Böse in Person.
„ Ich hätte nicht hingehen dürfen, das ist wahr, aber Mord und Vergeltung wegen so etwas? Das kann ich einfach nicht glauben ..."
„ Glaub was du willst, Madison. Dies sind die Fakten, über die ich dich freundlicherweise auch noch aufkläre. Jemand anderes an meiner Stelle würde vielleicht längst diesen Abzug hier gedrückt haben, da er es nicht für nötig befinden würde, noch so viel vorher zu erzählen, wenn ihm sein Ziel doch schon so klar vor Augen steht." Sie hob erneut die Pistole und warf einen kurzen, verstohlenen Blick darauf. Ich wusste, wie das hier enden würde. Claire würde mich erschießen und danach würde sie sich Riley und Mikey holen und dieselbe Prozedur auch mit ihnen vollziehen. Keiner würde sie für unseren Tod belangen können, da sie mit Sicherheit bereits alle nötigen Vorbereitungen getroffen hatte, damit man unsere Leichen niemals mehr wiederfand. Sie würde wieder einfach so davonkommen und niemand würde unseren Tod je rächen können.
„ Ich dachte mit ihrer letzten und auch wirklich heftigen Aktion, wäre deine Strafe beendet, der Spuk vorbei. Sie hatte ich weggeschafft und das mit Mrs Edingburgh interessierte mich nicht, da du die Wahrheit gesprochen hattest. Für dich habe ich sie übrigens auch in der Versenkung landen lassen. Um ein Haar, hätte sie dich schneller vertrieben, als ich hätte schauen können. Das konnte nicht zulassen. Ich ließ sie gehen und behielt dich bei mir. Deine Strafe, nicht auf den Ball zu gehen, erachtete ich als ziemlich gering und mild. Riley dagegen musste ein paar mehr Dinge wegstecken, aber ich denke als großer Junge überlebt man auch mal ein paar Nächte ohne wärmende Decke und sein Kissen, bei eisigen Temperaturen." Sie kicherte. In diesem Moment brach mein Herz. Ich hatte ja nie gewusst, was Riley für seine Lüge hatte einstecken müssen, nur, weil ich meinen Mund nicht halten konnte. „ Ich dachte, wenn ich dein Handy einkassiere, würde es genügen und dir zeigen, dass es nicht richtig wäre, sich mit einer Lehrperson zu streiten, auch wenn ich dein Verhalten als richtig einstufte. Ich wollte es trotzdem vergessen und mich wieder nur auf dein Lernen und deine Fähigkeiten konzentrieren, um dir zu helfen aus diesem Loch von Leben zu kriechen, aber wie ich leider feststellen musste, enttäuschtest du mich erneut. Riley in deinem Zimmer stehen zu sehen, das war ... das war wie ein eisiger Fausthieb direkt in die Magengrube. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es mir dabei ging. Und dann versuchtet ihr mich sogar noch anzulügen, als wäre ich so dumm und würde es euch abkaufen. In diesem Moment war ich fertig mit dir und zweifelte an all den Jahren, in denen ich glaubte, etwas zu wissen. Das war auch der Grund weshalb ich dich nicht auf den Schulball ließ. Du solltest eine noch größere Bestrafung erhalten, als die da vor. Dich alles vorbereiten zu sehen, um dir dann hinterher in deinem wunderschönen Kleid zu sagen, dass du nicht hingehen würdest, bedeutete eine Genugtuung für mich, die alle Zweifel bereinigte. Nur dadurch konnte ich wieder etwas zu dir aufbauen. Der Gedanke zu wissen, dass du lernst und ich dafür gesorgt habe, war unheimlich befriedigend für meine Seele."
Ich richtete ein Knie in ihre Richtung. Es wurde immer schwerer für mich auf die Beine zu kommen, doch ich musste ihr gegenüberstehen, mit ihr auf Augenhöhe sein. Nachdem was sie mir alles erzählte, durfte ich mich nicht weiter vor ihr beugen.
„ Aber du entglittest mir durch die Hände wie eigenwilliger Seifenschaum. Ich bekam dich mit nichts mehr zu packen und verlor all meinen Glauben daran, dich je zurückgewinnen zu können. Ich weinte oft. So oft wie noch nie und ich wollte mich bessern. Damit du mich wieder leiden konntest. Die Wendung kam als ich dich vor der Bar deines Freundes aufgabelte. Ich randalierte und schrie im Auto wie verrückt. So groß war meine Wut auf dich, dass du nicht einfach an deinem ersten Tag wieder in der Schule erschienst, denn das hieß erneute Bestrafung und ein weiterer Vertrauensbruch, den wir uns eigentlich gar nicht mehr leisten konnten."
„ Ich musste in einem gefrorenen See baden, was hast du gedacht? Dass ich vor Freude einen Flick Flack mache?"
„ Nein. Ich wartete immer nur darauf, dass du deine Strafe endlich annehmen und sie akzeptieren würdest, so wie mit deinem Handy, als ich es dir abnahm. Es hätte alles so leicht für uns sein können."
„ Gib mir nicht die Schuld an unserem Verhältnis", warnte ich sie und stellte auch das zweite Knie auf, sodass ich in der Hocke saß.
„ Ich gebe niemandem die Schuld, da ich vielleicht einfach zu viel Hoffnung in all das gesetzt habe."
„ Du hast auch Austin auf dem Gewissen, der wegen dieser Aktion sterben musste!"
Anstatt Claire auch nur über meine Worte nachdachte, musste sie plötzlich grinsen. „ Der liebe Austin. Er sollte doch bloß Riley etwas ausspionieren und hat ihn während des Unterrichts draußen telefonieren sehen. Da Riley seinen Spitzel aber bemerkt hat und sich sogar mit ihm prügeln wollte, ließ ich einfach beide ins kalte Wasser springen. Was für ein Wortwitz."
Ich war die ganze Zeit über so ahnungslos gewesen, während sich so viel im Hintergrund abspielte, was mich hätte noch wahnsinniger werden lassen, als ich es überhaupt schon gewesen war.
„ Dass er gestorben ist, war gar keine Absicht und ich war auch wirklich sehr traurig darüber. Zwei Schüler in einem Jahr zu verlieren, war nicht die Devise." Sie klang, als würde sie über schlechte Einnahmen in einem Secondhandladen sprechen. Dass es sich dabei aber um Menschen mit Familie und Freunden handelte, Leben, welche ohne jeden Sinn einfach ausgelöscht worden waren, war ihr, so glaubte ich, gar nicht richtig bewusst.
„ Dann war da noch die Sache mit Jack. Er wollte mir nicht sagen, ob ihr beide Kontakt miteinander pflegtet, weil es gegen die Schweigepflicht seinen Kunden gegenüber verstieß." Sie verdrehte abfällig die Augen. „ Um sicherzugehen, hoben wir sein Lager aus und brachten auch ihn fort."
„ Warum habt ihr ihnen alle dasselbe angetan? Wieso mussten sie alle in eine psychiatrische Einrichtung?"
„ Wer hat dir denn davon erzählt?" Ihre Stimme machte mir Angst, aber ich hatte sofort eine passende Antwort parat.
„ Das hat man sich hier so erzählt."
Sie schien sich mit meiner Antwort zufrieden zu geben und legte die Hände galant ineinander. „ Weißt du, du kannst einen Ruf nur dann zerstören, in dem du denjenigen für verrückt erklären lässt. Jemand der aus dem Gefängnis kommt, hat vielleicht noch eine Chance auf einen Neuanfang, jemand der jedoch aus einer Irrenanstalt kommt, wird immer nur der Verrückte in den Augen der anderen sein. Jemand der nicht fähig war, meine Regeln zu befolgen und nicht wusste, wie er sich an dieser Schule zu benehmen hat, der hat es nicht anders verdient, als seinen Ruf zu zerstören!"
„ Das wolltest du auch mit mir machen. Mit meinem Ruf."
„ Genau, aber es ist nie dazu gekommen, stimmt's? Auch dort warst du mir überlegen und hast mich ausgespielt. Und danach kam eins ins andere. Ich musste dich suchen, weil du mir erneut entflohen warst, versuchte wieder dich dorthin zu kriegen, wo ich dich haben wollte, jedoch bin ich erneut kläglich gescheitert. Den Rest der Geschichte kennst du ja selbst. Erst als du in meinem Bett lagst, dachte ich, dass es wieder so werden könnte wie früher und wir noch einmal von vorne beginnen könnten, aber du warst nicht bereit zu kooperieren. Und das konnte ich nicht dulden. Ich wollte dich nie gehen lassen, Madison, und plante den Feueralarm direkt nach deinem Verschwinden aus meinem Penthouse. Das alles so kommen musste, ist äußerst furchtbar, aber wir können es nicht mehr ändern, oder?"
Diese Frage ließ mich aufhorchen. Sie hatte all die Zeit gehofft, dass wir wieder zueinander fanden, doch aufgrund ihrer Boshaftigkeit hatte ich keinen Anschluss mehr an sie gefunden. Was wäre gewesen, wenn ich ihr nun etwas vorspielte und gelobte mich zu bessern? Ich wusste zwar nicht, wie ich jemals wieder aus dieser Nummer herausgekommen wäre und mich vor ihr erniedrigen, war das Letzte was ich wollte, aber wenn es Riley und Mikey retten würde, hätte ich alles getan.
„ Vielleicht ... ist es noch nicht vorbei." Meine Beine zitterten wie Espenlaub, als ich mich vor ihr aufbäumte und endlich Aug in Aug mit ihr war. „ Du hast mir alles gesagt, was ich wissen wollte. Dafür bin ich dir sehr dankbar."
Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen und ich spürte einen kleinen Erfolg.
„ Gerne, gerne, Madison. Ich glaube, das war ich dir auch schuldig. Schließlich habe ich deine Geheimnisse auch alle aufdecken können."
Nicht alle, dachte ich und grinste bei der Vorstellung, wie sicher sie sich war und dabei vollkommen falsch lag.
„ Ich wäre bereit für einen ... Neuanfang, jetzt nachdem ich alles weiß. Du bist sehr zielgerichtet und durchdacht. Wenn ich so werden könnte wie du, hätte ich es sicher leichter im Leben. Wie es wohl sein muss, wenn man sich einfach immer selbst helfen kann ..."
„ Für einen Neuanfang ist es längst zu spät. Du bist bereits kaputt. Ich kann nichts mehr mit dir anfangen. Wie ein Spielzeug, welches abgenutzt und nicht mehr so strahlend ist, wie es einst unter dem Weihnachtsbaum lag. Es tut mir wirklich Leid, Madison, aber ich beende die Zusammenarbeit nun mit dir. Es war eine lehrreiche Zeit und ich möchte, trotz der vielen unnötigen Ereignisse, keines von ihnen missen." Ihre Hand mit der Pistole richtete sich auf mich. Sofort war ich in Schweiß gebadet und versuchte sie zu besänftigen.
„ Nein, nein, Claire! Bitte, tu das nicht! Es gibt für alles eine Lösung. Ich könnte wieder dir gehören! Wenn ich nur genug an mir arbeite, kriegen wir mich wieder so hin, wie ich mal war. Bestimmt! Ich bin noch längst nicht da, wo ich hin wollte, seit ich diese Schule besucht habe. In mir steckt so viel Potenzial. Und davon bin ich selber überzeugt, weil du es mich gelehrt hast!" Ihre Hand begann allmählich zu zittern und ihre Oberlippe zuckte merkwürdig. „ Claire, wir waren mal ein Team. Weißt du noch, wie oft du mich gelobt hast? Ich kannte keine Regeln bis dahin, war nie mit so etwas vertraut worden. Ich brauchte eine lange Anlaufzeit, um zu begreifen! Jetzt weiß ich aber worauf es ankommt! Du hast mich regelrecht erleuchtet!"
Sie lachte abschätzig. „ Das glaubst du ja wohl selber nicht."
„ Doch, es ist wirklich wahr! Bitte, gib mir die Möglichkeit, mich noch einmal zu beweisen. Jeder hat doch eine zweite Chance verdient!"
„ Ich habe dir genug Chancen gegeben", erwiderte sie beinahe unsicher. „ Und jedes Mal dachte ich, du würdest dich fangen. Aber meistens sind es die, auf die du dein ganzes Leben setzt, die dich am Ende zerstören." Verwundert blickte ich sie an, als ich Tränen auf ihren Wangen sah.
„ Ich werde dich nicht wieder enttäuschen!" Nun versuchte ich meinen Worten noch etwas mehr Kraft zu verleihen, doch sie prallten einfach so an ihr ab, als ob sie sie gar nicht hören würde.
„ Es gibt im Leben zwei Entscheidungen, die ein jeder Mensch zu fällen hat. Entweder du nimmst den Freitod oder jemand anderes tötet dich. Und ich gewähre dir diese letzte Entscheidung. Aus einem Freitod kannst du so viel machen. In gewisser Weise fängt man neu an. Ein anderer, der dir dein Leben nimmt, behält es für immer in seinem Besitz, während du seelenlos umherirrst, immer auf der Suche nach Erlösung." Mit tränenverschmiertem Gesicht blickte sie auf. „ Dazu hatte ich dich zu gern, um dich nicht wählen zu lassen."
Sofort packte mich wieder die kalte Angst und presste mich an sich, sodass ich immer regloser wurde. „ Das kannst du nicht machen. Ich habe mich ergeben."
„ Das hast du schon einmal getan."
„ Und in diesem Moment meinte ich es auch so. Jetzt sehe ich aber, welche Macht du hast mich das zu lehren, was du all die Zeit versuchtest in meinen Schädel zu pressen. Ich will es."
Sie biss die Zähne aufeinander und stieß einen kehligen Schrei aus. „ Entscheide dich, Madison!"
„ Ich entscheide mich für dich!", schrie ich zurück.
„ Verspiele nicht meine Gutmütigkeit. Die anderen werden diese Entscheidung nicht fällen dürfen!"
„ Lass sie bitte aus dem Spiel! Sie haben nichts damit zu tun! Sie sind unfreiwillig da hineingeraten! Wenn du mich nicht mehr willst, dann entscheide ich mich eben, aber nur, wenn du mir versprichst, sie am Leben zu lassen! Bitte!"
„ Ich würde dir diese Bitte ja sogar gewähren, weil ich dir immer noch nicht widerstehen kann, aber es geht nicht. Ich muss sie erlösen, bereinigen von dem, was sie getan haben, damit sie frei sind."
„ Bereinigen? Mikey ist ein Kind! Er hat sein ganzes Leben noch vor sich!"
„ Als was? Als ein bemitleidenswerter Mann, der von sich selbst nicht weiß, was er überhaupt ist und überall anecken wird, weil ihn niemand so akzeptieren wird, wie er ist? So ein Leben willst du ihm nicht ersparen?"
„ Er liebt sein Leben. Er kommt damit klar."
„ Dann retten wir eben die anderen, damit ich ihnen diesen Anblick ersparen kann."
„ Du widerliches Miststück!", platzte es aus mir heraus.
Wissend schaute sie mich an und ich wich geschockt einen Schritt zurück. „ Madison, ich dachte, du würdest in deiner Rolle bleiben. Verdammt. Ich habe mich schon wieder in dir getäuscht."
„ Mikey, muss leben. Er darf nicht sterben", hauchte ich und merkte, wie mich die Erdanziehungskraft wieder zu sich holen wollte.
„ Schau doch nur, wie er auf dich abfährt, als wäre er irgend so ein dahergelaufener Fan und du die Diva, die er immer sein wollte!" Ich sah sie entsetzt an. „ Sein Verstand ist verdorben. Wir hätten ihn viel früher eliminieren und uns nicht weiter mit ihm befassen sollen. Er hat es nie auf den richtigen Pfad geschafft, egal, wer ihm davon berichtete und du ... hast ihn ermutigt, weiter auf dem Weg des Verderbens zu bleiben!" Sie schrie und spukte wild um sich. Sie wusste von uns, wusste, wie sehr ich ihn unterstützt hatte, sich nichts von alledem anzunehmen, was über ihn gemeint oder gesagt wurde. Sicher war die ganze verdammte Schule mit unzähligen Sicherungskameras ausgestattet worden. Sie hatte mich immer im Blick gehabt, egal wo ich war, ob in seinem Krankenhauszimmer oder auf dem Schulhof.
„ Das hat er sich nicht verdient. Er ist ein wunderbarer Junge, mit einer wunderbaren Fassade, hinter die ihr alle noch nicht geschaut habt! Genauso wie bei Riley!"
Claire lachte laut schallend auf. Verwirrt stand ich vor ihr und sah ihr dabei zu, wie sie sich kaum mehr einkriegte, so als hätte ich ihr den Witz des Jahrtausends erzählt. Dabei hatte ich nur ihren Sohn erwähnt.
„ Riley, dieser Heuchler von einem Jungen! Er hat mich mit meinen eigenen Mitteln ausgespielt! All die Zeit! Er hat mich belogen und betrogen, jegliche Regeln gebrochen, die ich auch ihm auferlegt habe, um ein reibungsloses Miteinander zu gewährleisten! Welch eine Enttäuschung er doch auf ganzer Linie abgibt! Sag mir, was soll ich länger mit ihm anfangen? Keiner wartet auf ihn. Er ist zu nichts mehr zu gebrauchen! Völlig überflüssig!"
Ich stand kurz vor einer Explosion. „ Er ist dein Sohn!"
Claire's Lachen verstummte und sie sah mich schockiert an, ehe ein erneutes Lächeln auf ihren Lippen aufblitzte. „ Sieh an, sieh an. Er scheint dir ja wirklich alles anzuvertrauen. Obwohl du genauso wenig wert bist wie er. Dieser Junge hat mir immer nur Ärger gemacht, mich damals vor allen dastehen lassen, wie die letzte Versagerin, die ihren Sohn nicht richtig erziehen kann, weil er immer schon gegen mich rebelliert hat! Weil er nicht verstand, dass ich etwas anderes von diesem Leben wollte, als mit einem Kleinkind allein und verlassen Zuhause zu sitzen! Mit einem Jungen!" Sie machte eine kurze Pause, in der sie ihren Blick senkte und mit ihren Fingern begann an der Pistole zu nesteln. Von Panik erfüllt schaute ich ihr dabei zu, immer darauf gefasst, dass sie sie hervorschnellen ließ und abdrückte.
„ Mit einem Mädchen wäre alles ganz anders gelaufen, habe ich recht?"
Ihre Miene gefror zu Eis. Zitternd schaute sie auf, die Augen wieder voller Tränen. „ Mit Mikey konnte ich ein wenig nachholen. Fandest du sein neues Zimmer nicht auch wunderschön? Es war Rose's Idee. Sie hatte auch schon immer einen Blick für das Schöne." Ich war nicht mehr in der Lage etwas zu sagen. Zu sehr hatten mich ihre vielen Ansichten, Gedanken und Erzählungen schockiert. Claire war eine Wahnsinnige, nicht ganz dicht! Und sie wollte unseren Tod, weil wir nicht so waren, wie wir sein sollten.
„ Du siehst, ich kann es nicht lassen, selbst wenn ich wollte."
„ Ohne mich, wärst du nie auf diese Gedanken gekommen, sie nun eliminieren zu müssen. Es ist immer noch eine Angelegenheit zwischen uns beiden", hauchte ich, woraufhin ihre Augen größer wurden und plötzlich meinen Körper entlangfuhren und mich ausgiebig musterten.
„ Das ist es schon lange nicht mehr, wobei es leichter gewesen wäre, sich nur mit dir herumzuschlagen. Ich hätte nur dich gehabt, dir sagen können, wie dreckig du jetzt in diesem Moment ausschaust und dich fragen, wo deine guten Manieren abgeblieben sind."
„ Das hat dich nicht länger zu interessieren."
„ Du warst mal so adrett." Sie lächelte unglücklich als sie an diese Zeiten zurückdachte. „ Und dein Umgangston ... habe ich denn wirklich alles falsch mit dir gemacht?"
„ Warum sprichst du immer von dir und mir? Ich bin nicht dein Kind!"
„ Genau so ist es, aber du bist ich." Fassungslos starrte ich sie an. „ In jeder einzelnen Facette."
„ Warum sagst du so etwas?", schrie ich sie an, doch sie reagierte gar nicht.
„ Aber du hast mich nicht stolz gemacht, dabei habe ich all meine Hoffnungen in dich gesetzt." Ich hatte keine Ahnung von was sie da sprach. „ Du hast dich so schön anschauen lassen und bist auf die falsche Schiene geraten. Aber so war es doch bisher immer, oder? Dein ganzes Leben war ein ständiges auf und wieder ab."
Ich schluckte schwer. Mit diesem Satz traf sie mich tief. „ Welches Leben ist das schon nicht?", konterte ich, um stark zu bleiben.
„ Das gibt es", lächelte sie tränenverschmiert. „ Das weiß ich. Ich habe es nur noch nicht gefunden." Sie schaute auf. „ Auch ich habe unter schrecklichen Eltern gelitten, bin frühzeitig ausgezogen und habe mit etlichen Niederschlägen kämpfen müssen, bis ich mir das erarbeitet hatte, auf dem du jetzt stehst." Ich sah mich flüchtig um. „ Meine Schule! Um Kinder auf das wahre Leben, was da draußen herrscht, vorzubereiten! Um ihnen klar zu machen, dass sie da draußen nichts geschenkt bekommen! Disziplin und Erfolg führen zu einem guten Leben. Geld und Besitz. Auf andere Menschen kann man sich nicht verlassen. Sie sind bloß große Enttäuschungen."
„ Und dann wurdest du schwanger", fügte ich an und wurde mit einem unsagbar hasserfüllten Blick ihrerseits bestraft.
„ Ja, deswegen habe ich dich vor dieser Gefahr bewahrt. Ich wollte, dass dein Leben besser verläuft als meines! Es hätte mir so viel gegeben dies mitanzusehen."
„ Aber du hast es trotzdem geschafft. Trotz des Kindes! Du hattest alles, Claire! Deine eigene Schule, eine Schwester, die sie mit dir leitete, einen wundervollen Sohn, Geld ... wieso hast du das einfach alles so weggeschmissen?"
„ Es wird immer weitergehen", sagte sie und fasste auch noch mit der anderen Hand nach der Pistole. Sie stellte sich breitbeinig vor mich und erhob sie erneut. „ Und ich werde erst dann wieder ruhig schlafen können, wenn meine Arbeit getan ist. Vielleicht war das meine Bestimmung und ich bin fest davon überzeugt, dass mich großartiges erwarten wird. Ich werde dieses perfekte Leben finden und dann werde ich es formen und lieben und nie, nie wieder hergeben." Verstört blickte ich ihr ins Gesicht. Sie schaute noch ein paar Sekunden erfüllt an mir vorbei, als hätte sie längst ihren Körper verlassen, doch dann schlug alles um. Sie wurde allmählich ungeduldig und ihre Maske brach. „ Geh zur Dachkante."
„ Ich werde nicht springen."
„ Das wirst du doch! Ich warne dich!" Sie fuchtelte wild mit der Pistole in ihren Händen herum, damit ich nach vorne lief, doch ich bewegte mich keinen Zentimeter.
„ Denk nochmal darüber nach! Ich will dir nicht dein Leben nehmen!"
„ Ich habe mich entschieden. Wenn ich schon sterben muss, habe bitte die Kraft dazu, es selbst zu tun! Aber wenn ich du bin, wirst auch du dabei sterben."
Sie lächelte. „ Ich bin die Stärkere von uns beiden, weshalb ich überleben werde. Ich kann nicht sterben, bevor ich nicht das vollkommene Leben gefunden habe!" Ihre Augen wurden so groß, dass es unheimlich wirkte.
„ Das gibt es nicht!", kreischte ich.
„ Geh zur Kante, Madison!", forderte sie mich wie ein drohender Orkan auf. „ Wenn du das nicht tust, muss ich leider abdrücken."
„ Schieß doch", flüsterte ich. Sofort änderte sich ihre ganze Miene. „ Schieß doch!", kreischte ich, als plötzlich eine Tür aufknallte und ich erschrocken feststellen musste, dass Riley und Mikey mich gefunden hatten. Sie hatten den Weg über den Dachboden gewählt und schwebten mit einem Mal in Lebensgefahr. Entsetzen stand in ihren Gesichtern, als sie sahen, was sich hier oben gerade abspielte.
Riley blieb sofort ruckartig stehen und hielt Mikey an seinem Arm zurück, doch Claire hatte die beiden längst ausgemacht und sich lächelnd herumgedreht. Es herrschte einen Augenblick lang Stille, als sich ein ohrenbetäubender Schuss löste und Riley zu Boden sackte.
Vor lauter Schreck sackte auch ich in mir zusammen und starrte in seine Richtung. Das Einzige, was ich noch erkannte war, wie er mit dem Kopf aufschlug.
„ Nein", schluchzte ich von Wahnsinn erfasst. Dieses Bild konnte nicht wahr sein. Es musste eine Illusion sein! Es war einfach nicht real!
„ Du hast mir befohlen zu schießen, also beschwere dich nicht. Du hast mit keiner Silbe erwähnt auf wen. Und du kannst froh sein, dass du es nicht warst. So eine Kugel im Bein ist wirklich nicht schön."
Kugel im Bein? Ein Funken der Hoffnung entflammte in mir und ich erkannte, wie Riley sich regte. Sein Gesicht war schmerzverzehrt und seine Hände hielten das rechte Bein. Sie hatte ihn nicht erschossen, noch nicht. Am liebsten wäre ich erleichtert zur Seite gekippt. Allmählich schwanden mir die Sinne. Ich wollte mich dem schwarzen Sog hingeben. Er machte alles unschädlich. Jeder Schmerz und jede Wunde machte er wieder heil, aber dort wo es ihn gab, gab es Riley nicht. Oder Mikey. Und ich wollte nur dort sein, wo sie existierten.
„ Wie schön, dass ihr uns nun auch endlich beehrt und ihr es mir so leicht macht. Dann muss ich euch nicht extra im ganzen Gebäude suchen."
„ Lass sie in Ruhe!", schrie ich sie an.
Mit einem Mal hob sie ihre Hand mit der Pistole und richtete sie erneut auf die beiden.
„ NEIN!", kreischte ich.
„ Also soll ich erst mit dir anfangen? Ich habe nicht vor, dich leiden zu lassen indem ich erst deine beiden Lieblinge aus dem Weg räume. Du hast mich zwar oft enttäuscht, aber im Grunde ist mir egal, wer von euch zuerst oder zuletzt stirbt. Hauptsache, ihr sterbt überhaupt."
Tränen rannen mir bereits aus den Augen. Warum musste uns das bloß passieren? Was hatten wir getan, dass uns so ein Ende nahte? Wir hatten nie etwas Schlimmes im Schilde geführt, träumten bloß von einer Zukunft und dem Gefühl davon, endlich frei zu sein. Nun waren wir hier auf dem Dach der Schule und diese Pistole, die sich in Claire's Händen befand, würde uns töten.
„ Ich weiß nicht, wenn ihr mir keinen Vorschlag macht, muss ich es mir wohl selbst aussuchen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Es gibt noch so viel zu erledigen." Ihre Hand mit der Pistole richtete sich wieder in Riley's Richtung. Mittlerweile kniete Mikey bei ihm und band ihm mit seinem Pullover das Bein ab, während er nur noch im dünnen Hemdchen vor ihm saß. Ihre Handflächen waren durchtränkt von Blut und der Schweiß rann Riley von der Stirn.
„ Nein, ist das putzig. Der kleine, verkehrte Junge hilft dem großen verkehrten Jungen. Welch ein rührender Anblick!"
Fassungslos sah Riley zu ihr auf. Er verstand diese Welt nicht mehr und hatte alle Hoffnung auf das Gute verloren.
„ Jetzt schau mich nicht so an, Riley. Wir wussten doch beide, dass das eines Tages so mit uns enden würde. Wozu also das überraschte Gesicht?"
„ Ich hätte niemals gedacht, dass du es wirklich eines Tages wahrmachst," keuchte er. Sein Brustkorb hob und senkte sich zu schnell und seine Augen drückten so viel Leid aus, dass es mich innerlich zerriss.
Sie lächelte schief und stellte sich etwas gelassener hin. „ Ach, Riley. Du kennst die Geschichte und du kennst unseren Stand. Du warst mir mein ganzes Leben ein Dorn im Auge. Du warst nichts, worauf ich hätte stolz sein können, beinahe hättest du mir auch noch mein Leben verbaut. Es war also die einzig richtige und kluge Idee, dich aus meinem Kopf zu verbannen, um wieder klare Gedanken fassen zu können und das zu erbauen, was schon immer mein Wunschtraum war."
Riley saß einfach nur da und lauschte den unfassbaren schrecklichen und niederschmetternden Worten seiner eigenen Mutter, die ihn nie haben und nun sogar sein Leben beenden wollte, während aus seinem Bein weiterhin Blut sickerte. Und auch mir blutete das Herz bei diesem Anblick. Ich fühlte unsagbare Schmerzen und keuchte bereits. Meine Handflächen landeten auf dem Asphalt und stützten meinen bebenden Körper.
„ Und jetzt beginne ich noch einmal neu. Dieses Mal jedoch ohne dich." Sie erhob die Pistole und zielte auf seinen Kopf. „ Noch irgendwelche letzten, theatralischen Worte?"
Riley schluchzte, kniff kurz die Augen zusammen, ehe er mit einem so klaren Blick zu ihr aufschaute, dass es eine Gänsehaut auf meine Haut jagte.
„ Ich hasse dich."
„ Ebenso", erwiderte sie und wollte abdrücken, als ich meine Stimme wiederfand und dazwischen schrie.
„ NEIN, BITTE NICHT!" Ich war stolpernd aufgestanden und rannte auf sie zu. „ Schieß auf mich! Nicht auf ihn! Du wolltest mich und ich habe deinen Plan vernichtet! Ich habe es verdient!" Meine Worte lenkten sie für einen Moment ab. Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und grinste. Ich konnte diese Regung in ihrem Gesicht nicht deuten. Würde sie mir diesen Gefallen nun doch tun? Liebte sie es, meine verzweifelte Stimme zu hören und mitzuerleben, wie ich mich vor ihr erniedrigte und ergab?
All diese Fragen wirbelten wie ein Orkan in meinem Kopf herum und suchte nach Antworten. In diesem Chaos, drückte sie ohne mit der Wimper zu zucken plötzlich den Abzug und einer lauter Knall ertönte.
Erschrocken blieb ich stehen und sah hinüber zu Riley, der mit beiden Händen nach jemandem griff. Ich kam gar nicht so schnell hinterher, wie meine Augen schauen konnten.
In Sekundenschnelle sah ich, wie Rosemarie's Hände Riley's Gurgel verließen, ihr Körper mit voller Wucht zur Seite kippte und auf dem steinernen Dach aufprallte.
Riley stand dort. Hektisch schaute ich ihn nach einer weiteren blutigen Wunde ab, aber es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Es war nur das Bein, welches blutete. Fassungslos schaute er zu Claire auf, während Rosemarie regungslos vor seinen Füßen lag.
Sie hatte die ganze Zeit über gelebt. Riley hatte sie gar nicht auf seinem Gewissen, sondern nun ihre eigene Schwester. Plötzlich war sie tot. Eine Wendung, mit der wir so nicht gerechnet hatten.
Ich schlug die Hände vor meinen Mund und sah zu Claire, die hämisch in meine Richtung grinste und noch überhaupt nicht ahnte, was geschehen war.
„ Du hast sie erschossen", keuchte Riley, als ich auch schon sah, wie sich eine riesige Blutlache um ihn herum ausbreitete. Erst seine Worte brachten Claire dazu, nachzusehen was hinter ihr geschehen war.
„ Rose", flüsterte Claire wie ein kleines, verängstigtes Kind als sie sie auf dem Boden liegen sah. Sie lief einen Schritt vor, wollte zu ihr, doch irgendetwas schien sie dazubehalten.
Claire hatte ihre eigene Schwester erschossen. Und es wäre Riley gewesen, wenn sie nicht direkt vor ihm gestanden hätte. Niemand hatte sie bemerkt. Sie musste Riley aus dem Hinterhalt angegriffen haben. Nur durch einen glücklichen Umstand, hatte er sie umgedreht, um sie von sich abzuschütteln. Nun war sie diejenige, die reglos dort lag und bei Claire herbe Panik ausbrechen ließ. Die Pistole, aus der sich der tödliche Schuss gelöst hatte, zitterte in Claire's Hand und ich starb beinahe, bei dem Gedanken, dass sie sie auf Riley oder Mikey hätte halten und dieses mal abdrücken könnte.
„ Bist du jetzt zufrieden?", schrie Riley mit Tränen in den Augen.
„ Ich ... Rose ... es ... es tut mir so leid."
„ Wenn du sie nicht getötet hättest, wäre es dein eigener Sohn gewesen", flüsterte ich, woraufhin sie sich mit einem völlig verstörten Gesicht zu mir drehte.
„ Sie war deine Schwester! Bemerkst du, was hier passiert? In was du dich da verrannt hast?"
„ Aber ... du bist ich."
„ Nein, das bin ich nicht! Dort liegst du! Rosemarie war deine Schwester! In ihren Adern floss dasselbe Blut wie in deinen! Und jetzt versickert es im Asphalt." Sprachlos schaute sie auf das viele Blut hinab. „ Schau sie doch nur an, ihr seid identisch. Ein Mensch ..."
„ Aber wenn sie ich ist und ich sie getötet habe, dann bedeutet das ..."
Ich sah zu Riley, der plötzlich die Augen aufriss.
Sie setzte die Pistole so schnell an ihre Schläfe, dass ich kaum hinterherkam. Ihr Blick war ausdruckslos, doch auch noch in diesem Zustand sah sie wie ein verlorenes, wunderschönes Model aus, ehe ein ohrenbetäubender Knall ertönte, ihr Körper schlaff zur Seite kippte und sie der Länge nach hinfiel. Sobald sie regungslos liegen blieb, fuhr ein verzweifelter Schrei durch die Luft. Und diese Stimme schrie meinen Namen.
„ Madison!" Mikey rannte weinend und mit offenen Armen auf mich zu.
Fast ohnmächtig, vor lauter Erleichterung, dass er und Riley außer Gefahr waren, sackte ich auf meine Knie und zog Mikey fest in meine Arme hinein.
Es brach mein gequältes Herz, als er bitterlich und laut schluchzend an meiner Schulter weinte. Auch ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten, als endlich alles herauskam, was sich über die letzten Monate in mir festgesetzt hatte.
„ Ich dachte, du stirbst", wimmerte er und rang nach Luft.
„ Schscht", zischte ich leise und streichelte sein Haar. „ Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut. Du brauchst keine Angst mehr zu haben." Wobei dies einfacher gesagt als getan war. Ich hatte es selbst mitmachen müssen.
Da wanderte mein Blick zu Riley, der reglos dort stand und auf eine bestimmte Stelle auf dem Boden starrte. Er stand unter Schock, das sah ich genau.
Ich beobachtete ihn noch einen Augenblick und wiegte Mikey hin und her, gab ihm das Gefühl der Geborgenheit und streichelte immer wieder über sein Haar. Dann bemerkte ich, dass die Lage ernster wurde. Er sah zu uns, doch ich konnte keine Last von seinen Schultern fallen sehen. Von seinem vorherigen Kampfgeist, seiner Angst und der Panik in seinen Augen, war nun nichts mehr übrig, genauso wie Erleichterung oder irgendeine andere Gefühlsregung. Er wirkte wie eine Eisfigur ohne jegliches Leben in sich. Da war nur noch Kälte und Schatten. Seine Augen trugen dunkle Ringe und seine Haut war aschfahl.
Wie hypnotisiert stand ich schließlich auf, zog Mikey einfach nur hinter mir her und wollte zu ihm gelangen.
„ Riley", flüsterte ich sehnsüchtig und streckte eine Hand nach ihm aus. „ Wir müssen weg von hier. Du brauchst ärztliche Hilfe. Riley, hörst du?"
Aber er hörte nicht. Er blieb einfach teilnahmslos stehen und schaute in irgendeine Richtung. Der stramme Pullover, welchen Mikey ihm um das Bein geschnürt hatte, war mittlerweile wieder mit Blut durchtränkt.
„ Mikey, nimm meine Hand", forderte ich ihn auf, doch Mikey konnte kaum von mir ablassen, klammerte sich stattdessen nicht nur an meine Hand, sondern auch an mein T-Shirt, als würde ich wie ein Ballon davonfliegen, wenn er mich loslassen würde.
Ich lief auf Riley zu, wollte ihn zur Besinnung bringen, um schleunigst mit ihm und Mikey dieses Dach zu verlassen. Der Weg war frei. Niemand würde uns mehr aufhalten. Wir konnten das Schultor überwinden und uns in den Wald retten. Sicher trug mindestens einer der beiden toten Frauen ein Handy bei sich, welches wir hätten benutzen können. Jetzt konnte es alles wieder gut werden. Wir hatten es geschafft.
„ Riley", sagte ich noch einmal, wollte gerade nach ihm greifen, als er plötzlich und ohne jene Vorahnung kehrt machte, um an die naheliegende Dachkante zu humpeln. Es war wie damals, als wir zusammen auf diesem Dach gesessen hatten und er mich auf die Idee brachte, doch einfach so zu tun als wäre ein Meer unter uns. Nicht der raue Asphalt, den ich überhaupt nicht hatte sehen wollen. Riley hatte oft alles so leicht aussehen lassen, wenn uns keine Gefahr drohte. Er hatte mein Herz oft vor dem Zerspringen bewahrt. Es musste schrecklich für ihn gewesen sein mir seinen plötzlichen Gefühlsumschwung vorzuspielen, und so zu tun, als wäre ich nicht länger relevant für ihn. Aber das war nicht er gewesen. Er hatte dies nur getan, um mich zu beschützen und nun würde ich ihn beschützen.
Riley war stehengeblieben, ballte die Hände zu Fäusten und schwankte hin und her. Als ich bemerkte, was er vorhatte, stürzte ich hervor, hing Mikey ab und umklammerte ihn von hinten.
„ Nein", stieß ich hervor und presste meine Wange so fest gegen seinen Rücken wie es nur ging, um sicherzustellen, dass er es spüren konnte. „ Nicht", weinte ich nun hemmungslos als wir beide zwischen Abgrund und sicherem Boden schaukelten.
„ Ich bin so allein", murmelte er plötzlich verstört vor sich hin. Ich horchte auf.
„ Nein, das bist du nicht! Rede dir so was nicht ein! Ich bin hier und Mikey auch! Wir sind jetzt eine Familie!"
Er kippte gefährlich weit nach vorne.
„ Nein!", schrie ich und versuchte mit meinem Gewicht dagegen zu lenken.
„ Madison!", kreischte nun auch Mikey, als er merkte, dass ich schon auf den Zehenspitzen stehen musste. Er schlang seine Arme von hinten um meine Taille und versuchte uns wieder ein Stück nach hinten zu ziehen.
„ Riley, bitte. Komm von der Kante weg. Wir müssen nach Hause!", weinte ich.
„ Ich habe kein Zuhause."
„ Doch, Riley! Ich bin dein Zuhause und wir wollten uns ein Leben aufbauen, erinnerst du dich?"
„ Ein Leben aufbauen?" Er wirkte wie hypnotisiert.
„ Ja, ich wollte es doch nicht annehmen und sollte mir darüber Gedanken machen, aber ich liebe dich und ich will ein Leben mit dir, okay? Ich habe mich doch schon längst entschieden! Ich will mit dir zusammen leben, ich will dich heiraten und immer an deiner Seite sein, aber dafür musst du mit mir nach hinten treten! Du darfst nicht an den Abgrund da unten denken, okay? Das Leben ist hier um uns herum!"
Riley erwiderte gar nichts darauf. Ich prustete bereits, da ich kaum mehr Luft zwischen meinen Sätzen geholt hatte und es sich mittlerweile als ziemlich anstrengend erwies, ihn so stark zu umklammern und ihn davon abzuhalten sich weiter nach vorne zu beugen.
„ Bitte!", flehte ich ihn an. „ Bitte, Riley. Komm mit mir nach hinten. Komm mit mir ins Licht!" Doch ich erreichte ihn in seinem Kopf nicht mehr. Er hatte seine Mutter und Tante auf einen Schlag verloren, gesehen wie seine Mutter sie erschoss und sich danach selbst hinrichtete, wie das Blut sich auf dem Boden ausbreitete und ihre schlaffen, leblosen Körper auf dem Asphalt lagen. Doch er durfte nicht zu ihnen zählen. Er musste bei den Lebenden bleiben! Jedoch wurde es hier vorne zusehends gefährlicher. Riley's Gewicht zog mich allmählich mit nach vorne. Er hing wie ein schwerer Stein in meinen Armen und wenn er flog, würde ich mit ihm fliegen. Niemals hätte ich ihn losgelassen.
Da hörte ich Mikey's angestrengten Laute hinter mir. Er, mit seiner dünnen Figur und den knöchernen Ärmchen, versuchte alles, um uns wieder nach hinten zu ziehen, aber wenn wir versagten, würde auch er mit in die Tiefe gerissen werden und das konnte ich nicht verantworten.
„ Mikey", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Ich stand genau in der Mitte zwischen Leben und Tod. „ Lass mich los."
„ Nein!", weinte er und umklammerte mich nur noch fester. „ Ich lasse dich nicht los!"
„ Es ist zu gefährlich für dich! Hör auf damit!"
„ Wenn ihr dort hinunterfallt, habe ich niemanden mehr! Ich ... ich kriege euch da wieder runter!" Er zog und zerrte mit aller Gewalt an uns, aber er war zu schwach. „ Oder ich falle mit euch. Ist mir egal! Hauptsache, ich bin nicht mehr alleine!"
„ Das bist du nicht! Mikey, so etwas will ich nie wieder von dir hören!" Er erwiderte nichts darauf. Wenn ich ihn doch nur hätte ansehen können, aber mein Gesicht war nach wie vor an Riley's Rücken gepresst. „ Du darfst deine Eltern nicht vergessen! Sie lieben dich über alles und wenn du ... wenn du sterben würdest ... du weißt ja gar nicht, was du ihnen damit antun würdest!"
„ Eltern", faselte Riley gedankenverloren vor sich hin, woraufhin mein Kopf sofort nach oben schoss. Es war das erste Mal nach langer Zeit, dass er wieder etwas gesagt hatte und es klang nicht gerade gut. Ich bekam Sorgen, dass meine Zusprache auf Mikey, kontraproduktiv auf Riley wirkte.
„ Aber ich habe keine Freunde! Hier war ich immer allein und ich bin es auch sonst überall!" Mikey schüttete mir sein Herz aus und schluchzte selber schon in meine Jacke hinein. Er war verzweifelt, am Ende mit seinen Nerven. Er würde eingehen, wenn er uns verlor, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
„ Ich liebe euch so sehr", flüsterte ich nun und presste meine Stirn wieder an Riley's Rücken. Auch ich konnte sie nicht verlieren. Wie hätte ich ohne sie weitermachen sollen nach alldem schrecklichen? Wir waren zusammengewachsen. Wie eine kleine Familie. Sie bedeuteten mir alles. Ohne sie wäre ich bloß wieder schutzlos. Genauso wie Mikey. Und auch Riley. Wir drei teilten alle dasselbe Schicksal und man hätte denken können, dass es auch Schicksal war, dass wir uns gefunden hatten. Aber wir hätten uns beinahe und immer wieder so oft verloren, dass ich nicht mehr an Schicksale und Wunder glauben wollte.
„ Madison", hauchte Riley plötzlich von vorn.
„ Ich bin hier. Ich bin bei dir. Nur bitte, komm von dieser Kante weg", flehte ich ihn wieder an.
„ Ich hätte dir so viel geben können, aber es macht alles keinen Sinn mehr."
„ Sag so was nicht! Du gibst mir alles, indem du existiert, okay? Ich brauche nichts, außer dir!"
„ Aber ich bin ein schlechter Mensch. Ich kann nicht lieben."
„ Natürlich kannst du das! Riley!"
„ Ich habe sie nie geliebt, mich ihr nie verbunden gefühlt, doch jetzt ..." Er sprach über Claire, seine Mutter, die nicht weit entfernt von uns am Boden lag. Ich kniff die Augen zusammen bei dem Gedanken. „ Ich habe ihr gesagt, dass ich sie hasse."
„ Das durftest du auch! Sie hat dich mit einer Waffe bedroht! Sie wollte deinen Tod!"
„ Es hätte alles anders sein können." Es schien als wäre er in einer Traumwelt gefangen, aus der er nicht mehr hinauskam. „ Jetzt fühle ich für sie."
Es brachte nichts ihm Erklärungen abzugeben, da er nicht aufnahmefähig war. Wichtiger war es, ihn und uns erst mal aus der Gefahrenzone hinauszubekommen.
„ Riley, du musst das alles erst mal verarbeiten! Komm bitte da weg! Wir müssen von hier weg! Du verblutest!" Jede Minute, die verging, strömte Blut aus seinem Bein, bis er nur noch eine schlaffe Hülle war, die in sich zusammenfallen würde. „ Ich bitte dich! Tu mir das nicht an!" Ich versuchte ihn zu verschieben, doch er machte sich steif wie ein Brett.
„ Verdammt", schluchzte ich und presste mein Gesicht gegen seinen Rücken. Wenn er nicht verblutete, würde er springen. So viel war klar. Ich wollte ihn nicht an den Abgrund verlieren und ich wusste, dass ich ihn nicht hätte losgelassen, wenn er sein Gleichgewicht verlor und fiel. Ich konnte nicht ohne ihn, doch wenn ich nicht losließ, würde auch Mikey in die Tiefen gerissen werden. Plötzlich war ich im Zwiespalt und wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war. Ich wollte das einfach alles nicht mehr. Es sollte bitte endlich vorbei sein!
„ Hey", hörte ich plötzlich eine leise Stimme sagen. Zuerst rechnete ich damit, sie mir nur eingebildet zu haben, doch sie hallte so klar und deutlich in meinem Innersten wider, dass ich meinen Kopf vorsichtig in die Richtung, aus der sie gekommen war, drehte. Ob es ein Engel war, der uns zu sich holen wollte, weil er der Meinung war, dass wir genug Schlechtes erlebt hatten? Ich wusste es nicht und ließ meine Augen weiter nach vorne wandern.
Und ich erstarrte.
„ Dad", flüsterte ich ohne, dass ein Wort meine Lippen verließ, Riley noch immer fest umklammert. Aus meinen Augen rannen unaufhörlich Tränen.
Dort stand mein Dad. Er war wahrlich kein Engel, nicht die Lichtgestalt mit der ich gerechnet hatte, und doch stach er aus diesem Schlachtfeld grell hervor. Wie lange war es her gewesen, dass ich ihn gesehen hatte? Er wirkte verändert, gealtert. Ich konnte die ersten grauen Haare in seinem Bart sehen. Er war schlank wie eh und je und trug ein braunes Hemd mit schwarzer Hose. Die Ärmel waren wie für einen Kampf hochgekrempelt und seine blauen Augen kühl, wachsam und konzentriert.
Ich hätte ihn ewig anschauen und studieren können, doch als sich sein Gesicht regte, erwachte auch ich wieder und kehrte zurück in die Realität.
Er sah in was für einer misslichen Situation wir schwebten und dass ich nicht der Meinung war, meinem Leben ein Ende zu setzen. Nicht jetzt, wo wir überlebt hatten, nicht jetzt, wo Mikey mich brauchte, nicht jetzt wo mein Dad mit unfassbar leidvollem Gesicht vor mir stand.
Er neigte seinen Kopf leicht nach vorne und runzelte die Stirn. Er wollte mir zeigen, dass er einen Plan hatte und wir uns nicht bewegen sollten, geschweige denn, dass ich einen Mucks machen sollte.
Vorsichtig streckte er eine Hand nach vorn und kam langsam, Schritt für Schritt, auf uns zu. Meine Augen schnellten hin und her. Riley schien ihn bisher nicht bemerkt zu haben.
Er musste auf dem selben Weg wie Riley und Mikey hier nach oben gekommen sein, doch woher wusste er, dass wir noch immer hier waren? Ob Jim ihn alarmiert hatte? Doch warum erst jetzt und nicht schon viel früher? Und wollte er nicht ein für alle Male mit diesem heiklen Thema abschließen und neu anfangen? Ich konnte Jim nirgendwo ausmachen, dabei hatte ich mich gar nicht nach ihm umgeschaut, spürte einfach, dass er nicht hier war. Da war nur der Blick meines Dad's der mich fesselte und mir ein merkwürdiges Gefühl einheimste.
Mein Dad.
In meiner Gegenwart.
Um mir zu helfen.
Es war zu unglaublich, um daran zu glauben.
Riley schwankte und riss mich aus meinen Gedanken. Sofort sah ich wieder nach vorne und hielt ihn so fest ich konnte.
Mikey schrie hinter uns, doch auch er ließ nicht ab von mir. Es war zwecklos ihn von seiner wahnsinnigen Idee zu springen abzubringen. Er wollte nichts anderes mehr als einen Schlussstrich hinter sein Leben zu ziehen, doch da war ich. Und Mikey. Er konnte uns nicht verlassen. Das konnte er einfach nicht.
„ Madison, lass mich ... ich muss da runter", sprach Riley mit tauben Lippen und wollte sich nach vorne fallen lassen.
„ Nein, Riley! Nein, ich lasse dich nicht los! Niemals!" Mit einem Mal benahm ich mich wie Mikey.
Riley hielt still, was einen Moment der Erleichterung in mir auslöste. Mein ganzer Körper schmerzte bereits von der enormen Anstrengung, während mir der Schweiß von der Stirn rann.
„ Auf Wiedersehen, Madison", sagte er plötzlich, riss meine Arme von sich und fiel nach vorne. Ich schrie wie am Spieß, als Dad uns erreichte und mit seinem Arm so eilig hervorschnellte, dass er Riley fest bei der Schulter packte und ihn herumriss.
Riley fiel beinahe hin, mein Dad war es, der ihn auffing. Ich wirbelte ebenfalls herum und schloss Mikey erneut fest in meine Arme. Ich keuchte an seiner Schulter, während ich seinen Hinterkopf fasste und ihn hin und her wiegte. Riley lag schreiend und weinend in den fremden Armen meines Dad's und strampelte mit Händen und Füßen. Nun erst machte sich das ganze Ausmaß seiner Beinverletzung bemerkbar. Sein ganzes Hosenbein war blutgetränkt und sein Gesicht kalkweiß. Sicher hatte er nicht mehr lange zu leben.
Mit einem Mal wurde mir schwarz vor den Augen, meine Hände verließen Mikey's Kopf, sackten einfach so weg.
„ Madison", wimmerte Mikey und fasste nach meinem Gesicht. In meinen Ohren piepste es unangenehm und ich hörte Mikey's Rufe nur noch ganz dumpf, als würde er hinter einer Wand stehen. Ich hatte das Gefühl zu schielen und bemerkte meinen Körper kaum noch. Ich hatte vollends meine Kontrolle über ihn verloren. Ich hatte keine Kraft mehr, bemerkte wie mir alle Sinne schwanden und ich nach vorne kippte. „ Madison!", kreischte Mikey nun.
„ Madison! Da hinten!", gesellte sich eine andere, so unverkennbare Stimme hinzu, die ich unter hunderten wiedererkannt hätte. Sogar noch in dieser Situation reagierte ich auf sie. Für den Moment verzog ich meine Lippen zu einem Lächeln, obwohl es sicher bloß einem winzigen Zucken gleichkam.
„ Madison, wir sind da! Wir sind ja da!", rief diese Stimme wieder. Das konnte ich noch hören, genauso wie die Polizei und die Feuerwehr, die das Gebäude stürmten uns sich einen Weg bis zu uns nach oben bahnten. Sicherheit kehrte in meinen Körper, als ich aus dieser Welt trat.
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