30. Kapitel

Am Ende des Flures standen Claire und Rosemarie, bereit dazu, uns endlich einzufangen. Ich musste schon zweimal hinschauen, um mich zu vergewissern, nun nicht auf einmal alles doppelt zu sehen. Sie waren komplett gleich angezogen. Und das zum ersten Mal. Sie trugen weiße Kostüme. Ihre Haare waren zu perfekten Dutts frisiert und ihre Gesichter makellos geschminkt. Nun waren sie überhaupt nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Und mir war sofort klar, dass sie das extra gemacht hatten. Sie wollten uns verwirren, damit wir nicht wussten, woran wir tatsächlich waren.

Es hatte sowieso viel zu lange gedauert, bis die beiden wieder aufgetaucht waren und mittlerweile glaubte ich nicht mehr an Zufälle. Es war alles ein abgekartetes Spiel.

„ Drei auf einen Streich!", sang Rosemarie uns zu und es hallte unheimlich im Flur wider. Ihre Stimme war unvergleichbar, etwas kratzig und beherrschend, aber ich hatte nicht gesehen, wer vor den beiden gesprochen hatte.

„ Wie ich sehe habt ihr euch wiedergefunden." Nun sah ich wer von ihnen Claire und Rosemarie war, als Claire zu uns sprach. Sie war die Rechte der beiden und schien bester Gesundheit zu sein, nichts mehr zu sehen, von meinem Schlag auf ihren Hinterkopf. Sie war widerspenstig wie eine Küchenschabe.

„ Wie schön die innige Familie wieder vereint zu sehen. Ein seltenes Bild, oder?" Sie neigte den Kopf zur Seite und schaute mitleidig in unsere Richtung. Doch ich kaufte ihr keine ihrer Mimiken mehr ab. Sie war eine verlogene, falsche Schlange, die es nur darauf abgesehen hatte, uns zu zerstören. Der Grund jedoch dafür lag immer noch im Verborgenen.

Keiner von uns antwortete auf ihre aufgezogenen Aussagen. Stattdessen warteten wir einfach, was passierte.

„ Es ist schön euch wiederzusehen. Eure Klassenkameraden vermissen euch schon. Wollt ihr nicht auch zu ihnen?", fragte sie plötzlich leiser und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.

„ Als würdet ihr uns auch nur in ihre Nähe bringen wollen", hauchte Riley, unfähig sich zu rühren.

„ Euch kann man auch nichts vormachen", erwiderte Rosemarie, als sie beide im selben Moment auf uns zukamen.

Mikey schrie wieder auf, klammerte sich an mich und auch ich taumelte bereits zurück.

„ Wir müssen weg von hier!", brüllte Riley, nahm mich bei der Hand und riss mich mit sich. Wir stolperten auf das Treppenhaus zu und rannten gehetzt die Treppen hinauf.

„ Warum gehen wir nicht runter?", schrie ich und war bereits außer Atem.

„ Wenn die Notfalltüren schon zu sind, ist die Eingangstür erst recht verschlossen!", schrie Riley zurück.

„ Aber oben wird es nicht anders sein! Wo sollen wir denn hin?"

„ Sie sind da!", kreischte Mikey mit schriller Stimme.

„ Riley", stöhnte ich. Es war eine unausgesprochene Bitte um Hilfe, wobei Riley selbst nicht wusste, wohin mit sich.

„ Warum rennt ihr denn fort?", schrie Claire, holte uns ein und packte nach meinem Bein. Ich schrie auf. Meine Hand verlor Riley's und ich flog der Länge nach hin. Ich rutschte die Treppenstufen hinunter, während Claire mich mit sich zog.

„ NEIN!", brüllte Riley und kam mir hinterher.

„ Madison!", rief Mikey meinen Namen und es schmerzte in meiner Brust. Er konnte sich wieder an mich erinnern, auch wenn sein Gehirn verdreht war, uns hatte er nicht vergessen und es hätte mich in einem anderen Moment zu Tränen gerührt. Nun strampelte ich um mein Leben.

„ Lass sie los!", brüllte er Claire an, woraufhin sie mit riesengroßen Augen aufschaute und den Kopf schräg legte.

Du willst mir Anweisungen erteilen? Das kann ich doch wohl kaum glauben, du kleines minderwertiges Würstchen. Madison ist meine Schülerin. Rosemarie wird sich um dich und Riley kümmern. Keine Sorge."

„ LOSLASSEN!", brüllte Riley's Stimme durch das komplette Treppenhaus, als er auf dem Weg zu uns war.

„ Riley, du armer nackter Junge. Ich habe dich lange nicht so gesehen! Aus dir ist ja wirklich was geworden! Rosemarie hat mir nie viel über dich berichtet!"

Ihre Worte machten mich stutzig, doch ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, sondern musste versuchen mich weiter zu wehren. Ich wand mich unter ihrem Griff und versuchte mit dem anderen Bein nach ihr zu treten.

„ Lass mein Bein los!"

„ Was denkt ihr? Dass wir euch einfach so laufen lassen, nach alledem was passiert ist? Es muss einiges geklärt werden und dafür brauchen wir euch!"

„ Nein! Nein! Ihr wollt uns etwas antun! Aber das lasse ich nicht zu!", kreischte ich und schlug so heftig um mich, dass ich sie an ihrem Hals traf. Sofort fasste sie mit einer Hand nach ihrer Gurgel und schnappte nach Luft. Doch bevor ich mich endlich von ihr losreißen konnte, schnellte sie wieder hervor und bleckte die Zähne.

„ Ihr werdet mit uns kommen!", brüllte sie aus Leibeskräften und riss noch einmal heftig an meinem Bein, sodass ich hart mit dem Kopf auf einer der vielen Kanten einer Stufe aufschlug. Geschockt über das plötzliche Volumen in ihrer Stimme, verharrte ich für einen Moment und starrte sie bloß an.

Da packte Riley nach meinen Händen und riss mich zu sich hoch, sodass Claire ihr Gleichgewicht verlor und selbst nach hinten flog. Sie schrie und überschlug sich ein paar Mal, knallte immer wieder mit ihrem Kopf gegen die Steinstufen, während ihre Gliedmaßen, wie die eines Dummys hin und hergeschleudert wurden. Es ging alles so schnell, dass ich nicht richtig hinterherkam, eigentlich nur noch fassungslos ihren reglosen Körper betrachtete, der auf dem Boden direkt vor Rosemarie aufschlug.

Rosemarie kreischte als Claire vor ihren Füßen landete und griff nach einzelnen Haarsträhnen von ihr, anstatt sie nach Lebenszeichen zu überprüfen. Das letzte dünne Haar streifte den Mittelteil zwischen ihren Fingern, als sie mordlustig nach oben schaute und uns mit ihrem Blick direkt fixierte.

„ Was hast du ihr angetan?", schrie sie schließlich fuchsteufelswild, rannte auf Riley zu und packte nach seinem Hals. „ Ist das der Dank für alles?" Er konnte gar nicht so schnell vor ihr entkommen und fiel nach hinten. Rosemarie hockte direkt auf ihm und drückte seine Kehle so fest zusammen, dass er sich kaum gegen ihren festen Griff wehren konnte und nur noch röchelte. Ich schaute auf und handelte sofort. Mit meinen Händen packte ich sie bei der Taille und zog so fest an ihr, wie ich nur konnte, doch sie wollte nicht von ihm lassen!

„ Lass ihn los, du dreckiges Miststück!", kreischte ich und wand alle Kraft auf, die ich in diesem Moment aufwenden konnte. Ich stieß ihr mit meinem Ellenbogen direkt in die Seite. Der Schlag hatte gesessen. Mit einem Mal wich sie schreiend vor Schmerz zurück und fasste in letzter Sekunde nach dem Treppengeländer. Ich ließ sofort ab von ihr, während sie sich den Magen hielt.

„ Kommt!", forderte uns Riley auf, der halb aufrecht und halb gebeugt seine Hand nach mir ausstreckte, die ich nahm, sobald ich bei ihm war. Er schob Mikey, der sich immer wieder zu uns umdrehte, weiter voran. Unsicher hielt er sich am Geländer fest, als würde er fallen, wenn er es losließ.

Doch Rosemarie erholte sich schnell wieder und packte nun nach meiner Gurgel. Sofort war meine Luftzufuhr abgeschnürt und ich rang nach wertvollem Sauerstoff. Ruckartig blieb ich stehen, woraufhin Riley zurückgeschleudert wurde und sich erschrocken zu mir umdrehte.

„ Verpiss dich!", brüllte er, als er Rosemarie entdeckte. Brutal packte er sie an den Armen, riss sie von mir los und schubste auch sie mit voller Wucht nach hinten. Für einen Augenblick hielt sie sich an ihm fest, bekam ihn bei seiner Shorts zu fassen, wobei sein Handy herausfiel und gemeinsam mit ihr die Treppen hinabstürzte. Anders als bei Claire flog sie viel länger, da wir uns schon so weit oben befanden, als sie plötzlich regungslos und merkwürdig verdreht auf dem Boden aufprallte und nicht mehr aufstand.

„ Das Handy!", schrie ich.

„ Scheiß drauf, wir müssen weg von hier!", brüllte Riley und riss mich an meinem Arm weiter nach oben.

„ Es ist unsere einzige Möglichkeit zur Außenwelt!"

Bevor Riley noch etwas erwidern konnte, mischte sich nun wieder Claire's Stimme ins Geschehen, die wohl wieder bei Bewusstsein war.

„ Nein, nein, nein, nein. Rose ..." Nun erst sah ich, wie sie sich auf ihren Armen abstützte, ihr Blick voller Panik und Angst. Schwer atmend robbte sie über den Boden zu ihrer leblosen Schwester. Erschüttert fiel sie neben sie und griff nach ihrem Kopf. „ Was hat er dir angetan? Riley, was hast du ihr angetan?", schrie sie. „ Rose, hey, steh auf. Rose, sag was! Sag doch was!"

Ihre Stimme hallte durch das ganze Treppengebäude, als wir immer weiter auf dem Weg nach ganz oben waren. Und obwohl ich es nicht sehen wollte und abgehetzt hinter Riley herrannte, konnte ich nicht anders, als durch den kleinen Spalt zwischen Geländer und Treppen zu ihr hinunterzuschauen. Ich erkannte wie sie ihre zitternden Hände vor ihr Gesicht hielt und das rote Blut von ihren Fingern heruntertropfte. Für einen Augenblick war alles ruhig, als sie mit einem Mal so laut schrie, dass es in meinen Ohren vibrierte. Es war ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien!

„ Sie ist tot", hauchte Riley. „ Sie ist tot."

Ich konnte nicht darauf antworten und fühlte mich trotz der Situation unfassbar böse. Ich empfand keinerlei Mitleid, sondern bloß grenzenlose Erleichterung. Wenn Rosemarie tot war, hatten wir nur noch Claire, die uns im Weg stand. Einer gegen drei konnte nicht gewinnen. Das konnte sie einfach nicht, so widerstandsfähig sie auch sein mochte. Vielleicht würde sie nun auch aufgeben.

Wir retteten uns in den letzten Stock und rannten in den Flur hinein, der dem anderen zum Verwechseln ähnlich sah.

Keuchend hielten wir mitten in dem langen Gang an und versuchten unsere Körper zu beruhigen.

„ Und schon wieder haben sie uns schwächer gemacht. Ohne dein Handy ...", hauchte ich und lehnte mich am Ende meiner Kräfte gegen die Wand.

„ Wir konnten doch sowieso niemanden erreichen", rang Riley nach Luft und lehnte sein verschwitztes Gesicht gegen eine der vielen Holztüren vor ihm. Mikey presste sich an mein Bein und sah immer wieder zwischen uns hin und her.

„ Man hätte denken können, dass Rosemarie ein vertrauteres Verhältnis zu dir hätte und nicht Claire."

Riley hörte einen Augenblick lang auf zu atmen. „ Alles hat seine Gründe."

Japsend sank ich auf den Boden und zog Mikey gleich mit mir hinab. Er schaute mich ängstlich an. Er zitterte am ganzen Leib und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er sein rosa Kleid noch immer wie einen Teddybären an sich drückte.

„ Alles wird gut. Wir haben sie abgehängt," versuchte ich ihm gut zuzureden.

„ Ja, vorerst," machte Riley wieder alles zu Nichte und drehte sich in unsere Richtung.

Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu, den er sah und verstand. Er schaute irgendwo anders hin und schien den nächsten Schritt zu planen.

Vorsichtig hob ich meine Hand. Ich wollte Mikey über die Wange streicheln und ihm das Gefühl der Geborgenheit geben, doch er wand sein Gesicht von mir ab, sodass ich es gar nicht berühren konnte. Mutlos ließ ich sie wieder sinken und musterte ihn. Das was wir erlebt hatten, war garantiert nicht für seine unschuldige Kinderseele bestimmt gewesen. Er hatte schon viel durchmachen müssen, doch das war sicher das allerschlimmste Erlebnis von allen.

„ Ist alles in Ordnung bei dir, Valerie?", fragte ich schließlich, da ich mir schreckliche Sorgen um sein Seelenleben machte.

„ Mir geht es gut", antwortete er mit zarter Stimme.

Ich nickte kurz und drehte mich dann zu Riley. Er hatte den Blick auf den Boden gerichtet und kaute auf seiner Lippe herum.

„ Von welchen Gründen hast du da gerade gesprochen?", wollte ich wissen. Anscheinend war sein Kopf nicht nur auf den weiteren Plan konzentriert, sondern dachte immer noch über mein Gesagtes nach. Riley war zu leicht zu durchschauen, um dies nicht zu bemerken.

Er schaute mich nicht an und es machte mich beinahe rasend. Jedoch versuchte ich alles, um ruhig zu bleiben. Es war eine denkbar schlechte Zeit, jetzt auszuflippen. „ Riley?"

„ Es ... ist nicht wichtig, okay? Vor allem nicht jetzt."

„ Hast du eine Idee?"

„ Wir sollten uns vorerst in einem der Räume verschanzen. Claire könnte jeden Augenblick hier sein." Er öffnete bereits die Tür, die gerade vor ihm lag und wartete bis wir eingetreten waren. Unbeholfen stand ich auf und zog Mikey an seinem Ärmel hinter mir her, da er mir seine Hand nicht hatte geben wollen.

Riley verheimlichte mir wirklich etwas. So wie er abblockte, konnte es nichts Gutes bedeuten. Irgendetwas war da zwischen ihm und den beiden Archer-Schwestern. Es war mir nie aufgefallen, doch wie sie gerade miteinander umgegangen waren, bevor er von ihnen tyrannisiert wurde, war wirklich merkwürdig gewesen.

„ Setz dich aufs Bett oder leg dich hin, falls du dich ausruhen möchtest", sagte ich zu Mikey, der zögernd auf das gemachte Bett zusteuerte.

„ Ich würde es gerne jetzt klären." Ich ging auf Riley zu und sah, wie er gerade dabei war, eine Kommode vor die Tür zu schieben.

„ Könntest du bitte das Zimmer nach etwas Essbarem durchsuchen?", fragte er und ignorierte meine Bitte somit.

„ Nein, vorher wirst du mir sagen, was das mit den beiden und dir gerade da unten auf sich hatte. Das war kein reines Schüler-Lehrer-Verhältnis. Es klang als würden sie dich besser kennen."

Er seufzte und verfrachtete mit letzter Kraft den Rest der Kommode, sodass ein Eindringen seitens Claire viel schwieriger geworden wäre. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass Rosemarie tot im Treppenhaus lag. Wahrscheinlich war Claire nun nicht mehr zu bremsen, oder vielleicht auch so in Trauer gefangen, dass sie uns dabei ganz vergaß. Ein Hoffnungsschimmer machte sich in mir breit, doch ich hatte Angst ihm zu vertrauen.

„ Es spielt keine Rolle mehr für mich, okay?"

„ Was genau meinst du damit?"

„ Ich meine damit, dass ich nicht länger darüber reden oder nachdenken möchte."

Genervt lief er an mir vorbei und öffnete den Kleiderschrank. „ Vielleicht hat Robyn ja irgendwelche Vorräte gesammelt."

„ Und sie so schlecht versteckt?", hinterfragte ich sofort.

Riley schaute auf und blickte mir ins Gesicht.

„ Wer ist Robyn?"

„ Bloß ein guter Freund aus meiner alten Klasse." Mit verbitterter Miene kramte er weiter in seinen Klamotten.

„ Du sagst das so, als wäre er nicht länger dein Freund."

„ So ist es ja auch. Na, wer sagt's denn? Auch er war ein Käufer von Jack's Waren." Erfreut über seinen Fang, hob er eine Plastiktüte mit allerlei Leckereien unter einem Regal hervor, welches dieser Robyn so präpariert hatte, dass selbst Rosemarie nicht darauf gekommen war, es einmal anzuheben. Anscheinend hatte hier jeder sein kleines Geheimnis gehabt.

„ Wir haben Dosenravioli. Unbrauchbar, wir haben keinen Öffner." Enttäuscht stellte er die Dose beiseite. „ Dann haben wir Popcorn, ein paar Weingummis, Chips, getrocknete Pflaumen, eine Flasche Cola und ... Schnaps?" Riley konnte seinen Augen nicht trauen, als er die Glasflasche gefüllt mit dem starken, alkoholischen Getränk heraushob.

„ Wenn das Rosemarie gewusst hätte ...", flüsterte ich und war beinahe hypnotisiert von der hin und her schwappenden Flüssigkeit. Es erinnerte mich an Jim, wie er damit immer herumgefuchtelt hatte, wenn er einen Cocktail mixte. Ich liebte das Geräusch des Getränks, wenn der Rest zurück in die Flasche floss. Und ich hätte zu gerne den Geschmack auf meiner Zunge gespürt.

„ Unsere Auswahl ist nicht groß."

„ Wir brauchen auch nicht viel. Sie werden uns bald hier rausholen. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten. Vicky hat gesagt, dass es dauern kann." In diesem Moment glaubte ich an meine Worte und war mich sicher, dass sie wahr waren. Sie konnten uns nicht hierlassen, sie wussten darüber Bescheid. Bald würden ihre Stimmen durch die Flure dringen, bis wir schließlich um Hilfe riefen und sie uns aus diesem Albtraum befreiten.

„ Ich weiß", erwiderte Riley bloß mit zarter Stimme, ehe er die Beutel mit dem Weingummi und den Chips aufriss. Ich hatte zwar keinen Appetit, kostete jedoch ein wenig davon, um meinen Körper bei Kräften zu halten. Mikey lehnte vehement ab, obwohl Riley ihn beinahe zwang es zu essen und ich mit Engelszungen auf ihn einsprach, doch er meinte bloß, dass er auf seine Ernährung und Figur achten musste. Das war nicht mehr mein Mikey, der am liebsten in Essen gebadet hätte und niemals so richtig satt wurde. Es war niederschmetternd seinen Worten zu lauschen und zu wissen, dass er vollkommen verdreht war. Er war doch mein kleiner Bruder, beinahe auch irgendwie mein eigenes Kind. Diese Gefühle konnten nur die einer Mutter sein und es konnte eine Mutter zerstören, wenn sie sah, wie ihr eigenes Kind begann sich selbst aufzugeben.

Auf dem Nachttisch lag ein Stapel von Fotos, den ich an mich nahm und kurz durchsah. Es waren die Fotos vom Ball. Ich setzte mich zu Mikey und zeigte ihm die fröhlichen Bilder von Mädchen in wunderschönen Ballkleidern und Jungs in schicken Anzügen. Ich seufzte, fühlte jedoch keine Traurigkeit. Vicky und Riley hatten mir einen unvergesslichen zweiten Ball beschert, sodass ich glücklich war. Und doch schürte es meinen riesengroßen Zorn auf Claire. Damit hatte alles begonnen und seitdem hatte sie jegliche Grenzen überschritten.„ Und jetzt?", fragte Mikey und durchbrach die Stille, die in diesen Raum gekehrt war. Ich hatte mich gegen die Wand neben der verbarrikadierten Tür gesetzt und auf meine Hände gestarrt, während Riley am Fenster stand und hinausschaute. Mittlerweile war er wieder halbwegs normal angezogen. Sein T-Shirt war zu groß, weil er sehr dünn war und Robyn drei Kleidergrößen mehr trug. Eine Hose hatte er komplett weggelassen, da sie ihm immer nur von der Hüfte gerutscht war und ihn so behinderte, falls es wieder brenzlig wurde.

„ Redet ihr nicht mehr?" Mikey's Stimme wirkte so verzweifelt und hilflos, dass ich sofort aufschaute. Er saß einfach nur da auf diesem Bett, welches nicht seines war, und sah mich aus großen, fragenden und traurigen Augen an. Er war zu jung, um so einen Psychoterror und so eine furchtbare Angst zu erleben. Ich hasste Claire und selbst Rosemarie, obwohl sie wahrscheinlich nicht mehr unter uns weilte, aus der Tiefe meines Herzens, dass sie uns so etwas, und vor allem ihm, antaten.

„ Ich bin mit meinem Latein bald auch am Ende. Wir könnten versuchen wieder nach unten zu gelangen, aber die Fahrstühle fahren nicht und Claire könnte sich noch immer im Treppenhaus aufhalten." erwiderte Riley, ohne sich auch nur umzudrehen. „ Und die Haupttüren werden auch verschlossen sein. Da bin ich mir sicher."

„ Also sind wir hier drinnen gefangen," sagte ich.

„ Das sind wir doch schon die ganze Zeit!", rief Mikey. „ Vielleicht gibt es einen anderen Ausweg!"

„ Oder wir bleiben einfach hier in diesem Zimmer und warten auf Hilfe," erwiderte Riley, als wäre er von seiner Idee überzeugter.

„ Wir sitzen sicher schon seit zwei Stunden hier und keiner ist gekommen! Wo bleiben die verdammt nochmal?"

„ Du warst doch diejenige, die vorhin noch daran geglaubt hat, dass sie kommen werden. Also tu es auch weiterhin", giftete Riley mich von vorne an und versenkte seine Fingernägel in dem dicken, dunkelblauen Vorhang.

„ Sonst bist du doch immer der Optimist von uns beiden. Wieso übernimmst du das Hoffen nicht für mich?"

„ Weil ich nicht mehr darauf hoffe", flüsterte er und verpasste mir damit einen Schlag in die Magengrube.

„ Das kann ich nicht verstehen ... das bist nicht mehr du. Genauso wie Claire gerade im Treppenhaus ... Als sie uns attackiert hat. Das war auch nicht mehr sie."

„ Diese Schule verändert Menschen. Sie verändert uns alle." Nun endlich drehte er seinen Kopf und schaute zu Mikey, der es zum Glück nicht mitbekam. „ Aber um ehrlich zu sein, habe ich sie so auch noch nie erlebt", räumte Riley ein und schien bestürzt darüber.

„ Und wie wäre es, wenn wir uns durch ein Fenster hangeln?", warf Mikey plötzlich ein, sodass wir aufschauten und ihn musterten.

„ Willst du dich in den Selbstmord stürzen?", fragte Riley etwas zu streng, doch er stand schrecklich unter Strom. Das konnte ich ihm ansehen. Sein Gesicht war angespannt, seine Wangen gerötet und seine Stirn und der Hals schweißnass. Er brauchte jetzt Ideen, die sofort einen Sinn ergaben, umdenken war nicht die Devise.

„ Wie meinst du das, Valerie?", fragte ich und zog die Brauen zusammen.

„ Wenn wir ein Fenster einschlagen würden, dann ..."

„ Das macht zu viel Lärm. Dann könnten wir gleich nach Claire rufen und ihr sagen, wo wir uns befinden! Und außerdem, wie sollen wir von da aus, nach unten gelangen? Etwa an der Hauswand entlang laufen? Tut mir Leid, Kind, aber so etwas kann nur Spiderman und der ist nicht mal real."

„ Oh, danke, dass du mich darüber aufgeklärt hast. Sicher hätte ich mit dreißig noch immer nicht an Trickaufnahmen geglaubt!"

Riley sah Mikey erstaunt an. Mit so einer Aussage hätte er nicht gerechnet, aber da kannte er Mikey schlecht. Er war so unfassbar klug und gerissen. Was mich jedoch verwunderte war, dass er überhaupt so sprach nach alledem was passiert war. Ob er allmählich wieder zu sich selbst fand?

„ Für so einen Unsinn haben wir wirklich keinen Kopf. Wir werden hier bleiben. Punkt."

„ Das Fenster in Rosemarie's Büro ist nah genug an der Feuerleiter dran," ließ Mikey nicht locker. „ Wenn die Notfalltüren geschlossen sind, wäre es unsere einzige Möglichkeit über das Fenster zur Treppe zu gelangen und somit auch nach draußen."

„ Woher weißt du überhaupt, wie es in Rosemarie's Büro aussieht?", fragte Riley abschätzig.

Mikey sah ihn an, als er sich auch schon wegdrehte und: „ Ich weiß es eben", sagte.

Ich legte den Kopf schräg und versuchte aus seinen Worten und Blicken schlau zu werden. Einen Moment hielt ich inne und überlegte. „ Das klingt gefährlich", wand ich nun ein. „ Aber vielleicht ist es unsere einzige Chance."

Ich sah zu Riley, der fassungslos dastand.

„ Wir müssen es versuchen so lange wir nicht gefunden wurden!"

„ Madison, ich will uns heil hier hinausbringen, okay? Wenn wir gleich alle als Brei auf dem Schulhof liegen, hätten wir uns das Kämpfen auch sparen können!"

„ Jetzt haben wir aber aufgegeben", flüsterte Mikey in die plötzliche Stille hinein, woraufhin Riley sich wutentbrannt und endgültig in unsere Richtung wand.

„ Du hältst jetzt mal den Ball flach, Kleiner! Du kennst nicht das echte Leben, sondern lebst nur in deinen Vorstellungen und deiner puckerzuckerroserfarbenen Welt! Dein Horizont ist also beschränkt und mit sinnlosen Dingen gefüllt, die uns in dieser Situation nicht im geringsten weiterhelfen könnten! Mikey das Mädchen. Der Name passt wirklich zu dir! Soll ich einem Jungen über den Weg trauen, der mit einem Stoffkleid schmust?"

Mit offenem Mund starrte ich zu Riley und konnte nicht fassen, was er da gerade eben gesagt hatte. Alles was aus Mikey bis jetzt geworden war, Rosemarie's Versuche seinen Kopf zu verdrehen mal ausgenommen, hatten seine Eltern und ich aus ihm gemacht. Wir hatten ihn unterstützt. Ihm immer gut zugeredet, dass er ja so bleiben sollte wie er war und sich von nichts und niemanden einschränken lassen sollte, um der Mensch zu sein, der er gerne sein wollte!

Mikey war von Riley's Worten geschockt und sah mit wässrigen, roten Augen ab von ihm.

Sofort stand ich auf und lief auf ihn zu. Ich zog ihn an mich und drückte seinen Kopf gegen meinen Bauch.

„ Wie kannst du nur?", fragte ich Riley und sah ihn verabscheuend an. Er wirkte beinahe selbst geschockt über seine Worte, ehe er zu mir sah und mitleidig wirkte.

„ Das wollte nicht."

„ Anscheinend hast du mit deiner Aussage doch recht gehabt. Diese Schule verändert jeden. Und sie hat auch dich verändert, wobei du einst immer dagegenhalten konntest. Du bist nicht mehr der Junge, den ich damals in der Cafeteria kennengelernt habe und mit dem ich auf Steven's Party auf dem Balkon gelacht habe."

Er wollte es nicht hören und neigte seinen Kopf zur Seite. „ Zeiten ändern sich. So ist der Lauf der Dinge."

„ Und du nimmst es einfach so hin", hauchte ich bestürzt und wurde mit einem Mal wütend. „ Weißt du was? Wenn du dein Schicksal doch mittlerweile einfach so hinnimmst, dann mach es halt, aber lass ihn dabei aus dem Spiel! Du hast keine Ahnung!"

„ Es tut mir Leid, okay? Aber seine Idee war wirklich nicht die Beste. Und ich kann keine lächerlichen Ideen gebrauchen, die uns als Gruppe nicht weiterhelfen!"

Er nahm kein Blatt vor den Mund und schockte mich zutiefst damit. Doch in diesem Punkt musste ich ihm leider recht geben. Wenn es schief ging, konnte es für jeden von uns zu Ende sein. Was würden die Übriggebliebenen dann tun, wenn wir nicht zusammen starben? Doch auf der anderen Seite, war Claire besessen davon uns zu kriegen und anscheinend schreckte sie vor nichts zurück. Ich wäre lieber ein Haus hinuntergestürzt, als mich von ihr umbringen zu lassen.

„ Ich weiß was du meinst, Riley." Ich ließ ab von Mikey, der sich keinen Zentimeter geregt oder meine Umarmung erwidert hatte, und ging auf ihn zu. „ Und ja, es ist gefährlich, aber hierzubleiben bringt uns nichts. Und wenn Claire hier mit einer Axt oder Kettensäge aufkreuzt waren wir auch die längste Zeit sicher und enden ebenfalls als Brei. Uns bleibt keine andere Wahl! Wenn wir hierbleiben und sie uns hier in ihre Finger bekommt, dann werden wir uns wünschen, Mikey's Idee wenigstens in Betracht gezogen zu haben."

Riley musterte mich einige Augenblicke lang, ehe er den Kopf senkte. „ Ich habe so eine Angst. Vor einfach allem." Ergebend lehnte er seine Stirn gegen den Fensterrahmen vor sich.

„ Ich auch", flüsterte ich ihm zu. „ Aber du bist nicht allein. Wir sind zu dritt. Wir sind in der Mehrzahl und können alles schaffen."

„ Ich will euch nicht verlieren. Verstehst du das? Ohne euch bin ich völlig aufgeschmissen."

Erschrocken wich ich zurück. Was versuchte er mir da gerade zu offenbaren? Wir würden gar nichts mehr sein, wenn wir es hier herausgeschafft hatten. Wieso also bedeutete ihm das alles noch so viel? Ich erkannte Tränen in seinen roten Augen. Er war am Ende seiner Kräfte.

„ Wir schaffen das", wiederholte ich nochmal eindringlich ohne auf seine Liebesbekundungen einzugehen.

„ Ich wünschte, du hättest recht", weinte er nun hemmungslos und vergrub seine Hände in seinem Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Ihn in den Arm nehmen, seinen Arm tätscheln oder ihm einfach nur gut zusprechen?

„ Ich bin bei dir", sagte plötzlich Mikey, der an seiner Seite auftauchte und ihm eine Hand um die Taille schlang. Riley verharrte in seiner Position, als er langsam die Hände sinken ließ und verstört zu Mikey blickte. Er konnte kaum fassen, dass er für ihn da sein wollte, nachdem er ihn dermaßen beleidigt hatte.

Erst als er Mikey lange genug betrachtet hatte, bückte er sich zu ihm und schaute ihn lange Zeit an. Dann presste er ihn fest an sich. Auch Mikey schlang seine Arme nach einer gefühlten Ewigkeit um ihn und machte den Anschein, als würde er ihn nie mehr loslassen wollen und ihm alles verzeihen, was er ihm in den letzten Sekunden an den Kopf geworfen hatte.

„ Wir sind füreinander da. Und wir werden es schaffen", sagte ich und fasste bloß mit meinen Fingerspitzen nach seiner Schulter. Riley bemerkte es sofort und schaute mit Tränen in den Augen auf meine Hand, die ihn sanft berührte.

Es schien ihm alles deutlich zuzusetzen, doch er fing sich wieder, räusperte sich und sah mir entschlossen ins Gesicht. „ Gemeinsam."

„ Die Richtung aus der wir gekommen sind, scheint mir zu heikel. Was, wenn sie uns direkt entgegenkommt?" Riley war dabei die schwere Kommode wieder von der Tür wegzuschieben. In der Zeit packte ich unsere wenigen Vorräte in meinen Rucksack hinein, den ich mir schon aufsetzen wollte, als er auf mich zutrat und eine Hand nach mir ausstreckte.

„ Ich trage ihn. Das musst du nicht machen."

„ Ich bin nicht so schwach, wie du vielleicht denkst", antwortete ich und zog eine Braue hoch.

„ Das weiß ich und ich habe es dir auch schon einmal gesagt, aber Hilfe hat noch niemandem geschadet." Er sprach aus Erfahrung.

Ich wand mich von ihm ab. „ Tut mir Leid. Ich möchte ihn gerne selbst tragen. Wir sollten immer noch versuchen zu trennen. Wir sind zusammen hier und ich will es mit euch beiden schaffen, aber ich will nicht, dass du wieder beginnst mir die Tasche zu tragen oder wir uns in den Armen liegen, verstehst du? Das kannst du gerne später mit Vicky machen. Sie wird sich sorgen um dich und allen Grund dazu haben, dich in ihre Arme zu schließen."

Es fiel mir schwer es bloß auszusprechen, aber es musste sein, damit mein Kopf begann endlich zu akzeptieren.

„ Das werde ich."

Seine drei Worte stachen wie ein Pfeil durch meine Brust, direkt in mein Herz hinein. Ich verzog die Miene und presste die Lippen aufeinander.

Mikey wartete bereits auf mich. Bei ihm angekommen stellte ich mich neben ihn und sah Riley einen Moment lang an, ehe er sich wieder fasste und langsam die Tür öffnete. Er schaute nach, ob die Luft rein war und winkte uns ziemlich schnell zu sich.

„ Wir können dort entlang." Er zeigte mit seinem Finger nach rechts. „ Am Ende des Flures gibt es immer eine Art Abstellraum. Von dort aus führen alle Wege in Rosemarie's Büro. Wir könnten durch den Notausgang und dann über die Feuerleiter. Wenn wir dann unten ankommen und über den Zaun klettern würden, wären wir sofort hier raus." Seine Stimme war viel kleinlauter als noch zuvor, während er erklärte, jedoch plagte ihn sein Gewissen und ich gönnte ihm jeden einzelnen Schmerz, dem sein Körper sich selbst zufügte. Auch wenn er mir dabei leidtat, genoss ich es trotzdem.

Ich straffte meine Schultern und atmete tief ein und aus.

„ Was haltet ihr davon?"

„ Es klingt logisch", stimmte Mikey zu.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „ Ich vertraue auf Mikey's Idee und deine Umsetzung. Also, ich folge euch überallhin."

Zu dritt wagten wir uns nacheinander wieder auf den Flur, auf dem ich sofort ein unbehagliches Gefühl in mir verspürte, anders noch, als auf dem Zimmer. Dort hatte ich mich sicher gefühlt, aber wir konnten dort nicht auf ewig bleiben und auf vergebliche Hilfe warten, sondern selbst tätig werden.

Die ganze Zeit waren wir auf der Hut, zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen und trennten uns kein einziges Mal. Bis auf das seltene Knacken des Bodens oder dem Wind, der durch ein paar Türspalten zog, war es unangenehm still um uns herum. Man hätte denken können, dass diese Schule seit Jahren verlassen war. Niemals mehr hätte man sich vorstellen können, wie es noch vor wenigen Stunden hier von Schülern nur so gewimmelt hatte. Claire und Rosemarie hatte eine Geisterstadt aus ihrer einst belebten Schule gemacht. Stellte man sich nun auch ihre Opfer vor ...

Wir ließen den Abstellraum hinter uns und kamen, wie Riley es beschrieben hatte, über einen weiteren Flur zu Rosemarie's Büro. Zu unserem Glück war es nicht abgeschlossen. Für solche Kleinigkeiten hatte sie wohl keine Zeit mehr gehabt und nun überrannten wir es. Riley's Augen waren überall. Er war wie eine Antilope, die sich vor dem wachenden Tiger in Acht nehmen musste. Hastig schloss er die Tür hinter uns und nahm direkten Kurs auf ein Bücherregal.

„ Madison? Würdest du mir bitte helfen?"

„ Klar." Ich eilte ihm zur Hilfe und gemeinsam schoben wir das Regal vor die Tür.

Es war anstrengend, aber ich fühlte mich sofort wieder viel sicherer. Ich putzte den Staub an meinem Hemd ab und überblickte den Raum. Mir fiel sofort das große Fenster direkt über dem Schreibtisch auf. Wenn man von der Seite nach draußen lugte, konnte man bereits das Gitter der Feuerleiter erkennen.

„ Das könnte wirklich klappen!", meinte ich schon beinahe euphorisch. Riley schien, nach seinem Ausdruck zu urteilen, noch immer nicht wirklich überzeugt von der ganzen Sache zu sein, wollte es jedoch trotzdem probieren und lief schon auf das Fenster zu.

Währenddessen schaute ich mich ein wenig in ihrem Büro um.

Es war sehr ordentlich gehalten und in modernen hellen Tönen eingerichtet worden, sah Claire's beinahe zum Verwechseln ähnlich. Links von mir erhaschte ich eine weitere Tür, die einen Spalt aufstand und man ein paar weitere Bücherregale stehen sehen konnte.

Mein Blick fiel wieder nach vorne auf den Schreibtisch mit einem Bürostuhl davor. Hier würde sie nie wieder sitzen, dachte ich und versuchte diesen Gedanken beiseite zu schieben.

Riley half mir dabei, indem er einen Fuß auf den Schreibtisch setzte.

„ Zum Glück sind wir alle schlank", warf er ein. „ Madison? Du versuchst es als Erstes. Ich kann dich halten. Dann kommt Mikey, sodass er von beiden Seiten gesichert ist, und zum Schluss ich."

„ Und wer sichert dich?", erhob ich Einwand.

„ Ich kriege das schon hin. Komm schon."

Ich fasste nach seinen ausgestreckten Händen und kam zu ihm auf den Schreibtisch geklettert. Mit einem Mal waren wir uns ganz nah und ein Schauer erreichte mich. Keiner von uns beiden konnte sich mehr vom Blick des anderen lösen und es wurde immer intimer zwischen uns.

„ Egal, wie das hier heute ausgeht, ich wünschte, ich hätte dir das nicht antun müssen, okay?"

„ Hör auf so komisch zu reden. Wir kommen hier gemeinsam raus, ja? Und dieser ganze Spuk wird heute für alle Male beendet werden!"

„ Ja", sagte er dann und nickte mit einem Mal überzeugt von meinen Worten. „ Ja, das wird es. Das wird es." Es dauerte ein paar elektrisierende Sekunden zu lang, bis er endlich das Fenster öffnete. Das hieß, er versuchte es zu öffnen, denn es bewegte sich keinen Zentimeter.

„ Das ... das kann doch nicht wahr sein." Fast schon panisch rüttelte Riley so kräftig an dem Griff, dass ich dachte, er würde ihn gleich in der Hand haben. „ Nein, sag nicht, dass das wahr ist!", schrie er und ließ ernüchternd von ihm ab. „ Verdammt!" brüllte er und trat gegen die Wand vor sich. Dann sprang er fuchsteufelswild herunter und riss die Schubladen des Schreibtisches auf. „ Hier muss es doch irgendwo einen Schlüssel dafür geben! Wo hat sie ihn versteckt?"

„ Warte ...", rief ich, als ich einen kleinen, gelben Aufkleber unter dem Rahmen des Fensters erkannte. Ich verschärfte meinen Blick und beugte mich noch etwas weiter nach vorne, als ich auch schon laut vorlas.

„ Dieses Fenster ist Diebstahl gesichert und öffnet automatisch zwischen 07:00 und 16:00 Uhr."

Riley ließ ab von den Schubladen und schaute mich nicht an. „ Und wie viel Uhr haben wir jetzt?", fragte er.

„ Halbacht", sagte Mikey und sah von der Wanduhr ab.

„ Wie viele Steine wollen sie uns noch in den Weg legen?"

„ Hier sind wir vorerst sicher, denke ich. Dann warten wir eben."

„ Und was war mit deiner These, Claire könnte mit einer Axt oder Kettensäge auftauchen? Zumal die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie hier erscheinen könnte, als in einem beliebigen Flur in einem beliebigen Zimmer! Es ist das Büro ihrer verstorbenen Schwester, verdammt!"

Ich sprang vom Schreibtisch und sah gleich darauf vorwurfsvoll zu ihm hinauf.

„ Vielleicht ist sie ja auch gar nicht tot, sondern war bloß bewusstlos."

Riley ging erst gar nicht darauf ein, sondern fuhr sich gestresst durch seine zerzausten Haare. „ Ich habe gleich gesagt, dass es eine schwachsinnige Idee ist hierher zu kommen! Sie kam schließlich von einem elfjährigen!"

Sofort senkte Mikey niedergeschlagen den Blick und es brach mir das Herz.

„ Das ist nicht wahr!", schrie ich und zog Mikey an mich, ob er es wollte oder nicht.

„ Du hast nicht gesagt, dass es schwachsinnig ist! Wollen wir jetzt wieder von vorne anfangen? In diesem Fall ist nichts richtig oder falsch, nur damit du es weißt! Ja, wir stehen alle unter Druck und wissen nicht, was als nächstes passiert, aber lass es verdammt nochmal nicht an Mikey aus!"

Er verstummte und presste eine Faust gegen seine Lippen.

„ Es reicht, wenn du mir wehtust, aber nicht Mikey. Das lasse ich nicht zu."

„ Ich habe dir gesagt, dass ich das alles nicht wollte."

„ Aber du hast es getan, ohne Rücksicht auf Verluste, während ich da draußen war! Und du hast noch immer Geheimnisse vor mir als wären wir irgendwelche Fremden!"

Verwirrt schaute er mich an.

„ Allem Anschein nach kennen Claire und du euch besser und du hast meine Bitten mir mehr darüber zu erzählen nicht verneint. Warum ist Claire dir vertrauter als Rosemarie? Sie war nicht deine Betreuerin!"

„ Dazu habe ich dir etwas gesagt."

„ Du willst nicht länger darüber reden oder nachdenken", zitierte ich ihn.

„ Genau. Es ist Vergangenheit!"

Ich ließ den Satz auf mich wirken, bis mich schließlich eine furchtbare Vermutung ereilte. „ Du hattest etwas mit Claire."

Riley sah aus riesigen Augen auf und starrte mich an. „ Madison."

Wie er meinen Namen aussprach, bestätigte mir, dass ich auf der richtigen Fährte war. Mir liefen währenddessen schon Tränen über die Wangen. Ich konnte diesen Schmerz nicht ertragen.

„ Und ich habe gedacht, dass du wenigstens in diesem Punkt ehrlich zu mir warst." Ich wollte es nicht so vor Mikey ausdrücken, aber Riley wusste genau was ich meinte.

„ Wen hast du noch alles an dieser Schule durch? Und? Sag schon! Sogar mit der Leiterin, ich ... du bist so was von widerlich!"

„ Madison, bitte lass mich das erklären!" Schnurstracks kam er auf mich zu und griff nach meinem Handgelenk.

„ Da gibt es nichts zu erklären! Ich ertrage es einfach nicht! Ich hätte dir nie, nie vertrauen dürfen!"

„ Doch, denn ohne mich, wäre es schlimmer geworden!"

„ Du musst dich ja ganz schön toll finden, wenn du dich selber als solchen Helfer und Beschützer siehst! Dabei bin ich ganz anderer Meinung! Ohne dich, wäre ich viel besser zurecht gekommen! Ich bin schon immer alleine gewesen und das aus gutem Grund! Glaub also ja nicht, dass du so entscheidend für mein Leben warst!"

„ Das war ich", antwortete er sicher und auch seine Stimme wurde nun lauter.

Ich lachte auf. „ Ich glaube, deine Verrücktheit ist dir zu Kopf gestiegen!"

„ Ich bin nicht verrückt!"

„ Ach nein? Merkwürdigerweise sagen dies immer die Menschen, die tatsächlich verrückt sind!" Fassungslos stand er vor mir. „ Was ist Claire heute für dich? Eine Verflossene? Eine Frau, die du mal haben konntest, um dich wie ein Mann zu fühlen?"

„ Sie ist meine Mutter, verdammt!"

Nun fiel mir alles aus dem Gesicht. Ich konnte nicht fassen, was er da gerade eben behauptet hatte.

„ Ich sagte doch: Vollkommen verrückt!"

„ Es ist wahr", hauchte er und schüttelte selbst bestürzt über die Wahrheit den Kopf. Seine Reaktion machte mir Angst. Warum kam es so echt herüber, wie er sich benahm?

„ Warum sagst du so etwas? Das ist ein schlechter Scherz!"

„ Es ist kein Scherz, okay? Meinst du, ich würde in unserer Situation jetzt anfangen zu scherzen?" So böse hatten wir uns noch nie zuvor angeschrien, doch unsere Nerven lagen komplett blank.

„ Ich kann das nicht glauben."

„ Wir haben es so gut verstecken können, dass niemand auch nur einen Verdacht hätte schöpfen können. Keiner wusste davon und du und Mikey seid die Ersten, die es erfahren."

Mein Kopf war randvoll mit Informationen, kurz davor zu platzen, als mir plötzlich alles wie Schuppen von den Augen fiel.

„ Deswegen wusstest du immer über alles so tadellos Bescheid. Du warst nicht einfach nur aufmerksam, du stecktest direkt mitten drin!"

„ Unfreiwillig. Ich habe mich nicht darum gerissen ein Teil des Ganzen zu sein."

„ Das bedeutet, Rosemarie ist deine Tante."

„ War. Ich habe sie gerade eben umgebracht." Sein Gesicht war das eines Wahnsinnigen.

„ Ich kann das alles nicht glauben."

Verzweifelt fuhr ich mir durch mein Haar. Wir wurden von zwei irren Schwestern gejagt, die eine davon befand sich mittlerweile nicht mehr unter den Lebenden, waren eingesperrt in ihr ehemaliges Büro, und die andere war Riley's Mum, die sicher nach Rache lechzte.

„ Warum hast du es mir nicht schon vorher gesagt?", kreischte ich. „ Es hätte so vieles einfacher gemacht! Du hast es die ganze Zeit über verschwiegen! Und was war das Gerede von wegen, du warst bei deinem Freund in den Ferien anstatt bei deinen Eltern! Warum das Ganze? Etwa, weil es dir peinlich war?"

„ Ich hätte es dir erzählt, aber sie wollte es nicht!", keifte er zurück, jedoch nicht mehr mit so einer Intensität, wie zuvor. „ Sie wollte mich nie, sie wollte immer lieber ein Mädchen, welches sie so erziehen kann, wie sie es sich immer vorgestellt hat! Alles perfekt machen, um sich selbst nochmal in klein zu sehen ja ... und dann kam ich."

Mit einem Mal hätte ich mich ohrfeigen können, ihm etwas unterstellt zu haben. Ich hatte keine Ahnung von seinen Umständen gehabt und brachte gleich Vorurteile hervor, die nur in meinem Kopf existierten.

Tränen stauten sich in seinen Augen, während er wie eine bemitleidenswerte Statue einfach nur dastand.

Ich wand meinen Blick kurz von ihm ab, ehe ich sah, wie Mikey uns mit riesengroßen Augen anschaute. In diesem Moment kam er mir noch kleiner vor als er überhaupt schon war. Und wir benahmen uns wie ein streitendes Ehepaar, welches sein Kind dabei ganz vergaß. Mikey hatte genug durchgemacht. Ich schämte mich zutiefst und wollte alles wiedergutmachen. Ich lächelte und hielt eine Hand in seine Richtung. Er beäugte sie misstrauisch und verkroch sich in eine Ecke, wollte für sich sein, weil wir uns so sehr vor ihm gestritten hatten.

Wütend starrte ich in Riley's Richtung, ehe ich kehrt machte und mich mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnte. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen. Mit welchen Dingen würde er noch herausrücken? Ich wollte es gar nicht wissen, am liebsten nie wieder mit ihm sprechen. Bald schon konnten meine Beine mein Gewicht nicht länger tragen und ich rutschte auf den Boden hinab.

„ Du bist jetzt sprachlos, oder?"

Fassungslos drückte ich mein Gesicht gegen meinen Arm, wollte ihn einfach nicht länger sehen.

„ Du und deine Mutter seid erbärmlich", sagte ich dann und bereute es danach schon fast wieder. Er erwiderte nichts mehr darauf, sondern flüsterte etwas, was mich sofort aufschauen ließ.

„ Mikey ... nicht ..."

Als mein Blick auf Mikey fiel, sah ich, wie er sich verängstigt gegen die Wand presste und Tränen über seine Wangen liefen.

„ Nein", keuchte ich, stand ruckartig auf und eilte zu ihm. Er bewegte sich nicht und ließ sich ohne Gegenwehr in meine Arme ziehen. Meine Hand fuhr über sein Haar und meine Finger strichen sanft über seinen Rücken.

„ Das wollte ich nicht. Ich wollte mich nicht mit Riley streiten."

„ Und ich mich nicht mit Madison", warf er kleinlaut hinter mir ein.

Vorwurfsvoll schaute ich zu ihm hinüber. „ Besser wenn du jetzt den Mund hältst."

„ Es gehören immer zwei dazu", entgegnete er mir und sah wieder zum Fenster hinauf. Ich hielt mich nun bedeckt, damit es nicht wieder ausartete. Sicher kannte Mikey so etwas von Zuhause nicht und wir lebten ihm etwas vor, was jedem Kind große Angst bereitete. Wenn die Eltern sich nicht mehr verstanden und nur noch herumschrien. So wie ich es oft erlebt hatte, und nun war ich kein Stück besser als sie. Ich schämte mich so unfassbar vor ihm.

„ Das wird nicht mehr vorkommen, okay? Bitte sei uns nicht böse. Die Situation im Moment ist ... etwas angespannt. Es hat nichts mit dir zu tun."

Mikey wand sich aus meinen Armen und schaute mit seinen schlauen, verweinten Augen zu mir hinauf.

„ Ich weiß und ich habe große Angst."

„ Ich würde dir so gerne sagen, dass du sie nicht zu haben brauchst, aber ... mir geht es nicht anders. Wir versuchen alles, um es gemeinsam zu schaffen, ja? Du musst nur fest daran glauben." Er nickte eilig. „ Aber eines verspreche ich dir." Langsam hockte ich mich vor ihn und griff ihn bei seinen Armen. „ Niemand wird dir wehtun. Ich möchte, dass dir das klar ist. Du wirst in Sicherheit sein. Immer."

„ Darüber mache ich mir gar keine Sorgen. Ich habe merkwürdige Gedanken, aber sie fangen an sich zu verändern. Das bereitet mir Kopfschmerzen."

„ Dann leg dich etwas hin. Es ist schon Abend. Riley und ich ... können dir etwas herrichten."

Zuerst blickte er uns von oben bis unten an, als er schon wieder zu mir sah. „ Ich mache mir auch darüber keine Sorgen. Ich habe Angst, dass dir und Riley etwas zustößt."

Erneut war ich sprachlos. Wie hätte ich beteuern sollen, dass er sich darum keine Gedanken machen sollte? Keiner von uns wusste, was noch passieren würde. Es konnte alles gut für uns ausgehen, aber genauso schlecht konnte es auch enden. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mikey schien auf einem guten Weg zu sein, was seinen Kopf betraf, zumindest ließen seine Erzählungen alles danach aussehen. Sicher war es unser normaler Umgang mit ihm, der ihn wieder auf den richtigen Weg führte. War es da also ratsam, ihm die Angst nicht zu nehmen, oder wäre es genau das Falsche gewesen, es nicht zu tun? Etwas überfordert haderte ich mit mir und wusste nicht, welche Antwort ich ihm geben sollte, als Riley plötzlich dazustieß und auch er sich in unseren kleinen Kreis hockte.

„ Wir werden alles dafür tun, dass uns allen nichts geschehen wird. Mehr kann ich dir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, mein Kleiner. Ich weiß nur, dass du ein unfassbar mutiges und schlaues Kind bist, mit mehr Lebenserfahrung als die meisten Erwachsenen. Du bist durch Höllen gegangen und sogar Rosemarie hat es nicht geschafft, deinen Willen komplett zu brechen." Während Riley erzählte, legte Mikey den Kopf schräg. Man hätte denken können, dass er ihm nicht ganz folgen konnte, doch es signalisierte alle Aufmerksamkeit, die er für einen Menschen erbringen konnte, der ihm nützliches und wertvolles erzählte. Und das mitanzusehen war unglaublich.

Riley war mit so einem Einfühlungsvermögen dabei, welches ich niemals hätte aufbringen hätte können und ich war ihm insgeheim ganz schön dankbar für sein Einmischen, denn es rettete die Situation.

Mikey gab sich mit dem Gesagten zufrieden und ließ sich aus meiner Jacke und Riley's übergroßem T-Shirt sogar ein kleines Bett schaffen, damit er ein paar Stunden Schlaf bekam, um von diesem Ort, zumindest gedanklich, zu entfliehen.

Doch bevor er einschlief, bat er nach mir und nahm meine Hand, als ich mich neben ihn setzte. Überrascht schaute ich auf unsere Hände und versuchte zu analysieren, was dies plötzlich auf sich hatte.

„ Es tut mir alles so Leid," flüsterte ich.

„ Du kannst nichts dafür, dass Claire und Rosemarie so sind wie sie sind." Es wunderte mich sehr, dass er nicht die Wörter verrückt oder durchgeknallt in den Mund nahm, doch dies ließ seine Erziehung wahrscheinlich nicht zu. Oder es war die Gehirnwäsche, aber das wollte ich nicht wahrhaben.

„ Ich meine nicht nur das, sondern auch ... das was zwischen uns war."

„ Es ist schon in Ordnung. Ich kann auch verzeihen. Vielleicht habe ich mich getäuscht, aber ich möchte dich trotzdem lieb haben."

„ Du hast dich nicht in mir getäuscht." Ich fasste nach seinen Wangen. „ Ich musste zu einem Freund der in Not war. Ich konnte nicht länger bei euch bleiben. Und das Handy deiner Mum sollte sie zurückbekommen, sobald ich es nicht mehr brauchte, aber Claire hat es dir extra nicht zurückgegeben, damit unser Kontakt weiterhin unterbunden blieb. Sie wollte diesen Kontakt nicht zwischen uns."

„ Weil ich ein schlechter Umgang für dich bin", stellte er fest und sah mir mit einem Mal mit Tränen gefüllten Augen ins Gesicht.

„ Nein! Nein, das ist nicht wahr! Du redest es dir immer und immer wieder ein, weil andere es in deinen Kopf einpflanzten! Hör auf damit! Claire wollte genau das erreichen! Sie hat so viel zerstört! Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass sie einen Keil zwischen uns treibt und noch mehr mit ihrem Wahnsinn anrichtet. Du bist du und genauso habe ich dich kennen und lieben gelernt. Ich habe dich unendlich lieb, Valerie." Ich zog ihn in meine Arme hinein und drückte ihn fest an mich. „ Ich habe mich nie so willkommen gefühlt, wie bei euch Zuhause. Und ich vermisse diese Zeit, aber am meisten vermisse ich dich."

„ Ich vermisse dich auch", weinte er mit einem Mal und die Tränen rannen über meine Schulter. „ Sie hat so viel zu mir gesagt, was mich annehmen lassen hat, dass du mir nur etwas vorgespielt hast, damit du bei uns leben konntest."

„ Nein! Niemals!", bestritt ich und lehnte mich wieder zurück, um ihm direkt ins Gesicht schauen zu können. „ Ich brauche das alles nicht. Ich brauche doch bloß Menschen, die es ehrlich mit mir meinen und mich lieben. Mehr will ich gar nicht."

„ Das brauche ich auch. Und ich habe erst dich verloren und dann ... meine Eltern."

Ich zog die Brauen zusammen. „ Deine Eltern?"

„ Sie haben sich getrennt, kurz nachdem du gegangen bist. Es war schon lange nicht mehr so zwischen ihnen, wie sie getan haben. Sie haben uns nur etwas vorgespielt."

Natürlich hatten sie das. Genauso handelten Menschen in meiner Gegenwart. Sie spielten immer nur, hüllten mich in eine wunderschöne Welt, ehe sie mich mit voller Wucht aus ihr hinausschmissen und ich auf dem kalten Boden der Tatsachen landete.

„ Plötzlich hatte ich niemandem mehr, ich wusste nicht mehr wohin mit mir. Ich wollte wieder zu dir kommen, aber ich habe damit gerechnet, dass du mich wieder zurückstoßen wirst, weil ich so gemein zu dir war. Also habe ich es gelassen, weil ich es nicht ertragen hätte, wenn ..."

Oh, Mikey.

„ Dad ist bereits ausgezogen und hat sich seitdem nicht mehr bei mir gemeldet. Mum hat oft geweint und es immer verneint, wenn wir miteinander telefoniert haben. Ich wollte zu ihr, aber sie meinte, dass sie einige Dinge klären müsste und ich weiter die Schule besuchen sollte. Obwohl ich hier doch auch niemanden hatte, der mich liebte. Niemanden. Und ich war und bin nun völlig allein."

„ Nein, du bist nicht allein. Wir sind bei dir! Wir lieben dich! Und deine Eltern lieben dich auch, selbst wenn sie sich getrennt haben. Manchmal kannst du es nicht voraussehen und es passiert einfach, ohne, dass du auch nur etwas dagegen ausrichten könntest, aber so bleibt es doch nicht. Alles wird wieder in Ordnung kommen, okay?"

Er schniefte und wand sich mit einem Mal von mir ab. Verstört musterte ich ihn. Er legte sich hin, drehte den Kopf weg und deckte sich zu.

„ Daran glaube ich nicht mehr."

Ich fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Kurz nachdem Mikey eingeschlafen war, lief ich wieder zurück zu der Wand, an der ich gesessen hatte, als Riley mir von seiner Mutter, namens Claire, erzählt hatte. Ich setzte mich dorthin zurück und schaute mich in der Dunkelheit fest. Es war bloß der Lichtkegel der Schreibtischlampe, der bis kurz vor meine Füße viel, der etwas Helligkeit bot. Riley hatte sie angeknipst, weil Mikey darum gebeten hatte. Er dagegen saß auf dem Schreibtisch und schien dem Fenster Beschwörungen zuzuflüstern, damit es sich am besten von selbst öffnete. Es war nicht schön ihn dort zu sehen, Mikey, der hilflos in Kleidung gehüllt und mit einem Mädchenkleid an sich gepresst auf dem Boden schlief und die Wände eines Raumes, der nun einer toten Frau gehörte. Deswegen machte auch ich bald meine Augen zu und legte meine Stirn auf meine aufgerichteten Knien ab, um alles um mich herum auszublenden, fast so, als würde auch ich im Land der Träume entschwinden können.

Erst das raschelnde Geräusch neben mir, ließ mich aufhorchen, ehe ich den Blick hob und Riley erkannte, der sich neben mich gesetzt hatte.

„ Hast du etwas dagegen?", fragte er, als wäre es ihm völlig gleichgültig.

„ Es gibt genug Wände in diesem Raum, an die du dich lehnen könntest."

„ Mir gefiel diese aber am besten."

Abschätzig zog ich die Brauen empor und sah weg von ihm. Ich wollte ihn nicht betrachten. Nie wieder.

Mit einem guten Meter Abstand nahm er neben mir Platz und legte seine Hände über die Knie. Er trug wieder nur seine Boxershorts und saß mit nacktem Oberkörper neben mir, da er sein letztes Hemd für Mikey gegeben hatte. Eine schöne Sache, wie ich fand, aber ich ertrug es nicht, ihn so zu sehen.

Wir schwiegen uns lange Zeit an. Sicher wollte er gerne das Wort ergreifen, aber er wusste nicht, wie ich darauf reagieren würde. Ich wusste es ja noch nicht einmal selbst, doch wartete jede Sekunde darauf, dass er plötzlich seine Stimme erhob. Doch es passierte nicht. Stattdessen lenkte er mit etwas ganz anderem meine Aufmerksamkeit auf sich.

Er zitterte am ganzen Leib. Erst erhaschte ich es nur aus dem Augenwinkel, doch als es immer schlimmer wurde, drehte ich meinen Kopf zu ihm. Er saß dort wie ein Häufchen Elend. Seine nackten Beine waren ganz nah an seine Brust gezogen, die Schnürsenkel seiner Schuhe waren auf und sein Kopf lehnte an der Wand, als wäre sie von Wärme durchzogen. Es war ein grauenvolles Bild. Ein Bild, welches erneut fertig machte. Trotz alledem zögerte ich noch einen Moment, weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte. Als er dann noch versuchte Laute zu unterdrücken und seine Zähne schon wild aufeinanderklapperten, gab ich mir einen Ruck. Ich zog meine Strickjacke von den Armen und reichte sie ihm.

Sein Blick glitt sofort zu meiner Hand mit dem Stoffberg und beäugte ihn skeptisch.

„ Nimm schon", forderte ich.

„ Wieso tust du das?", fragte er. „ Nach alledem, was passiert ist."

Ich ließ den Arm sinken und schaute ab von ihm. „ Deine Worte mit der Geschichte sind mir in den Kopf gekommen. Es ist wahr. Das was wir einst waren ist Vergangenheit, aber unsere Gedanken sind die Gegenwart und durch sie können wir nicht verleugnen, was mal war." Ich stoppte, ehe ich zu viel sagte und schob die Jacke in seine Richtung.

Er betrachtete sie noch ein wenig, während ich darauf wartete, dass er sie endlich an sich nahm. Irgendwann klaubte er sie schließlich vom Boden auf und zog sie über. Sie passte nicht wirklich, obwohl er sehr dünn war, aber die Ärmel waren zu kurz und sie ging vorne auch nur ganz knapp zu, aber zumindest hatte er zu beben aufgehört.

„ Die Polizei wird nicht kommen, stimmt's?", hinterfragte ich, als würde ich keine Antwort erwarten. „ Ich habe mich in fast allen Menschen, die mir im Laufe meines Lebens begegnet sind, getäuscht. Deswegen würde mich es nicht wundern, wenn Vicky es aus Rache tut, weil wir ... naja, weil wir mal was miteinander hatten."

„ So etwas würde sie niemals tun."

„ Vertraue ja nicht darauf, nur, weil du denkst, sie würde dich lieben. Vielleicht war das Ganze auch nur ein Spiel und sie steckt mit Claire unter einer Decke."

„ Das traust du ihr zu?"

Ich zuckte mit den Achseln. „ Ich traue niemandem mehr. Außer Mikey."

„ Mir kannst du auch vertrauen."

„ Natürlich", erwiderte ich abfällig. „ Das kann ich schon lange nicht mehr." Meine Stimme brach.

Riley schien entrüstet. „ Was willst du damit sagen?"

Ich seufzte und strich über meine Knie. „ Ich war nur zwei Tage fort und du hast mich vergessen und hintergangen. Ich saß allein in einer Zelle, während du draußen erzähltest, ich sei suizidgefährdet, du hast mir nicht erzählt, dass Claire deine Mutter ist." Er schwieg, sodass es mich dazu veranlasste in seine Richtung zu schauen. „ Wieso hast du ihnen gesagt, dass ich suizidgefährdet bin?"

„ Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du kannst nicht bestreiten, dass du die eine Nacht nicht direkt an der Kante standest und hinuntergeschaut hast. Auf der Leiter beschlich mich so ein seltsames Gefühl. Es hat mich nicht mehr losgelassen. Deswegen bin ich nochmal nach oben gekommen."

„ Das hast du mir damals nicht erzählt", bemerkte ich vorwurfsvoll.

„ Nein, weil ich selbst noch nicht wusste, wohin ich das Gesehene einordnen sollte. Als Dr. Halliston mich aber zu dir befragt hat und erzählte, dass sie dich ruhig stellen mussten, weil du vorhattest, dir die Pulsadern aufzuschlitzen ..."

„ Was?" Ich schrie beinahe. Bestürzt schaute ich zu ihm und konnte nicht fassen, was er da gerade eben gesagt hatte. „ Pulsadern aufgeschlitzt?"

„ Es stimmt nicht?"

„ Nein!" Ich fuhr fast aus meiner Haut. „ Sie haben mich draußen geschnappt und mich dann in die Gummizelle gesperrt! Dann haben sie mir etwas zur Beruhigung verabreicht, was mich einen halben Tag ausgeknockt hat!" Riley blickte beschürzt zu mir. „ Und deine Aussage hätte mich sonst wo hinbringen können, wenn Dr. Halliston nicht auf unsere Seite gewesen wäre."

Mit einem Mal wurde er kalkweiß. Er hätte mich auf dem Gewissen haben können. Genau das wurde ihm gerade so richtig bewusst.

„ Also haben sie uns beide falsche Informationen gegeben."

„ Anscheinend schon, wobei du derjenige warst, der gesprochen hat."

„ Das habe ich doch nicht mutwillig getan!"

„ Es ändert sowieso nichts mehr. Du hast mir nie so vertraut, wie ich dir. Sonst hättest du mir das von Claire erzählt. Selbst wenn sie es nicht gewollt hätte, meinst du, ich hätte es ausgeplaudert?"

Es herrschte einen Moment lang Stille.

„ Darum geht es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Es hätte nicht gut für dich geendet, wenn Claire davon Wind bekommen hätte. Nicht durch dich, sondern durch einen dummen Zufall oder so. Das konnte ich nicht riskieren."

Fragend huschte mein Blick wieder zu ihm.

„ Sie hatte überall ihre Joylights."

Wieder wurde ich aus seinen Worten nicht schlau. „ Ihre was?"

Riley lächelte bitter. „ Aus früheren Videoaufnahmen weiß ich, dass sie mich oft als ihr Joylight bezeichnet hat, und das nicht, weil sie mich so sehr geliebt hat, nein. Sondern, weil sie mich als Mittel zum Zweck benutzen konnte. Mit ihrer Methode Die arme, alleinerziehende Mutter mit ihrem Baby, hat sie alles bekommen, was sie wollte. Sie hätte mich abgegeben, dass hat sie mir schon oft genug gesagt, aber ich war ihr Joylight. Menschen, mit denen sie alle Dinge erreichen konnte, von welchen sie auch immer geträumt hatte."

Riley war nie das Licht ihrer Freude gewesen, sondern die Freude ihres Lichts. Ihres eigenen, ganz persönlichen Lichts.

„ Was ist mit deinem Dad? Konnte er es nicht aufhalten?"

„ Nein, keiner konnte das bisher. Sie wusste genau, womit sie durchkommt. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Und mein Dad konnte das nicht länger. Sie war nicht die Frau, für die er sie immer gehalten hatte. Ob er bemerkt hat, dass sie auch mich eigentlich nie geliebt hatte, weiß ich nicht, aber ich habe einen Abschiedsbrief von ihm gefunden, eines Tages, als ich anfing nach Antworten zu suchen."

„ Du hast ihn also nie kennengelernt?"

„ Nein. Noch nicht einmal ein Foto gesehen."

Betroffen schaute ich ihm dabei zu, wie die Dunkelheit ihn dabei war zu übermannen. Es waren die Schatten der Vergangenheit, die sich schwer und klebrig auf seinen Gliedmaßen und seinem Herz absetzten und ihn trübsinnig machten. Ich hätte ihn so gerne bewahrt davor, aber es war nicht mehr meine Aufgabe. Dafür hatte er nun jemanden anderes.

„ Seine Name ... war auch Winters?"

„ Richtig. Sie haben nie geheiratet und Claire wollte nicht, dass ich mich Archer nannte, weshalb sie mich immer dazu zwang mich überall dort vorzustellen, wo mein richtiger Name nicht benötigt wurde. In meinem Pass steht natürlich Archer."

„ Sie ist ein Scheusal", rutschte es mir heraus, woraufhin er jedoch nickte, anstatt mich merkwürdig anzuschauen. „ Gab es diese Schule zu diesem Zeitpunkt schon?"

„ Nein, aber ihr Traum war es immer eines Tages hoch aufzusteigen. Und dafür wäre sie über Leichen gegangen, nein ..." Plötzlich musste er anfangen zu lachen und strich sich kopfschüttelnd mit der Hand über sein Gesicht. „ Mittlerweile bin ich mich sicher, dass sie über Leichen gegangen ist."

Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner kompletten Haut aus und ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper.

„ Durch mich hat sie alles viel später erreicht, als sie eigentlich wollte und ich glaube, sie hat meinem Dad viel die Schuld daran gegeben."

„ Daran sind immer noch zwei Menschen beteiligt", warf ich mit ein.

Riley zuckte machtlos mit den Schultern. „ Hätte ich wählen dürfen, hätte ich niemals einen Fuß in diese Welt gesetzt." Er drehte meinen Kopf zu mir und kniff kurz die Augen zusammen. „ Aber man hat mich nicht gefragt." Seine Erzählungen machten mich wirklich sprachlos, wobei ich gerne etwas erwidert hätte, was ihm Kraft gegeben hätte. Doch immer noch hielt mich meine innere Blockade davon ab, mich wieder in sein Leben einzumischen, aus welchem er mich eigenhändig verbannt hatte.

„ Stattdessen hat sich mich oft an fremde Leute abgegeben. Nachbarn, Freunde, Rosemarie. Sie waren alle so fremd für mich. Mir fehlte die Mutter. Und der Vater. Aber am meisten die Mutter. Sie machte weiter, bildete sich fort, nahm einen Kredit auf und holte ihre Schwester mit ins Boot, während ich nicht mehr für sie zählte. Sie saßen oft abends über Plänen und Akten in der Küche. Es interessierte sich nicht, wenn ich am Treppengeländer hockte und ihnen dabei zusah, anstatt zu schlafen. Sie sah immer einmal hoch zu mir, danach würdigte sie mich keines Blickes mehr. Und das jeden Abend."

Auch wenn ich versuchte, dagegen anzukämpfen, empfand ich Mitleid für ihn und merkte bereits, wie mir still und leise Tränen über die Wangen rollten.

„ Und diese Abende und Nächte haben sich gelohnt für sie. Sie hat alles erreicht, was sie wollte, doch es wird nie genug für sie sein. Ihre Methode hat immer Früchte getragen und sie wird nicht aufhören, nach Neuem zu lechzen. Und deswegen hat sie diese Joylights noch immer. Überall."

„ Warum erzählst du mir das alles?"

Riley starrte für ein paar Sekunden geradeaus, als er bemerkte, dass ich ihn ängstlich anschaute. Als unsere Blicke sich trafen, nährte sein Ausdruck meine Panik noch etwas mehr.

„ Ich wollte dir nur erklären, weshalb ich es vor dir verheimlicht habe."

„ Und du verheimlichst es mir noch immer."

„ Madison, es geht um viel mehr."

„ Um was denn?"

„ Um dich."

„ Um mich?" Es war schwer die Stimme gedämpft zu halten, um Mikey nicht aufzuwecken.

„ Hast du das denn noch nicht bemerkt? Warum denkst du, bist du hier?"

Ich senkte die Lider und nickte. „ Ich habe auch mitbekommen, dass Claire so darauf erpicht war, mich zu zügeln, aber dass sie mich nur benutzt ..."

„ Nein, nein, nein. Sie benutzt dich nicht. Sie benutzt andere, wegen dir."

So langsam verstand ich wirklich gar nichts mehr. „ Was hätte sie denn davon?"

„ Was genau sie damit bezwecken will, weiß ich auch nicht, aber was ich mitbekommen habe, hat mich sehr verängstigt."

„ Also hast du mich die ganze Zeit über beschützt, indem du es mir verschwiegen hast?"

„ Genau. Ich habe dabei immer nur an dein Wohl gedacht, nicht an meines, auch wenn ich mal mit jemandem hätte reden müssen."

Ich kramte ein bisschen in der Vergangenheit, als mir plötzlich ein Ereignis in den Sinn kam. „ Deswegen also", flüsterte ich starr vor mich hin.

„ Was meinst du?"

„ In der Cafeteria ... kurz nach dem Vorfall mit Mrs Edingburgh. Du hast mich total fertiggemacht, weil ich Claire davon erzählt habe. Du wusstest, dass sie die Füße nicht still halten und mich bestrafen würde." Er schwieg. „ Ist es nicht so?", fragte ich mit Nachdruck. „ Ja, ich ... wusste, dass es Konsequenzen nach sich ziehen würde. Für dich und auch für mich. Deswegen wollte ich, dass du mir das Reden überlässt. Ich habe schnell bemerkt, dass ihr Verhältnis zu dir anders war und, dass sie dich anders behandeln würde."

„ Aber was hättest du schon an der Situation ändern wollen?"

„ Ich wollte alle Schüler, die dabei gewesen waren darum bitten, Claire anzulügen. Und sie hätte den Schülern, der Gemeinschaft, eher geglaubt als einer einzelnen, sowieso schon verhassten, Lehrerin."

Ich traute meinen Ohren kaum. „ So etwas hattest du vor?"

„ Ja. Und sicher wäre es mir auch gelungen, wenn du geschwiegen hättest. Obwohl ich es ja verstehen konnte. Du wolltest mit Ehrlichkeit punkten, die bringt einen hier aber nicht weiter. Sie bringt nur Verderben."

„ Damit fing alles an. Damit habe ich es ins Rollen gebracht. Was auch immer es sein mag. Sie hat also irgendetwas mit mir vor und ihr seid nur dabei, weil ihr zu mir Kontakt habt. Ich meine, mit Vicky hatte ich auch Kontakt, oder mit Tira! Und was ist mit Brian? Vicky meinte, dass sie ihn auch nicht mehr gesehen hat! Vielleicht ist er auch fort wegen mir. Und Tira hat sie auch angedroht, dass sie ihrem Kind einen Besuch abstatten würde, wenn sie mich nicht aufhalten würde, diese Schule zu verlassen. Kurz vor dem Feueralarm."

Ihm fiel alles aus dem Gesicht. „ Sie hat dich aufgehalten?"

„ Ja, zu Anfang. Dann wollte sie mir aber angeblich helfen. Darauf bin ich jedoch nicht mehr eingegangen und hab es alleine versucht."

„ Ich kennen ihren Plan nicht, aber ich wünschte, ich würde ihn kennen."

Verzweifelt und völlig überfordert sah ich ab von ihm. Ich wollte einfach nur noch von hier entkommen, aber noch mehr wollte ich ihn und Mikey in Sicherheit wissen. Wenn ich sie verlieren würde, was würde ich dann noch mit meinem Leben anfangen? Ich hatte doch niemanden mehr.

„ Meine Eltern waren auch schlimm, aber das haben noch nicht einmal sie geschafft." Mit meinem Fingernagel kratzte ich über den Teppich. „ Aber ich weiß, wie es ist im Schatten seiner Eltern zu leben." Riley sah mich unglaublich traurig, dennoch gefasst an. „ Sie haben mich nicht als ihre Tochter angesehen. Also so richtig. Sie haben mich vor jedem verleugnet. Irgendwann wusste ich nicht mehr wer ich war, denn ich gehörte zu niemandem und stammte auch von keinem mehr, so hat es sich zumindest angefühlt. Ich war wie ein Schatten, nein noch nicht einmal das, denn ich fühlte mich immer so, als existierte ich gar nicht." Ich lächelte bitter. „ Jim war der erste Mensch, der mich sah. Und wenn ich daran denke, dass ich damit rechnen musste, dass er nicht mehr lebte ... wer würde mich denn dann sehen? Ich dachte immer, er wäre der Einzige."

„ Wir haben dich alle gesehen."

Aus dem Augenwinkel merkte ich, wie er mich beobachtete. Es wurde mir schnell unangenehm und ich versuchte mich etwas von ihm wegzudrehen.

„ Einige nicht ..."

„ Hast du keine merkwürdigen Begegnungen auf deinem Weg gemacht?"

Zuerst wusste ich nicht, wovon er da sprach. Merkwürdige Begegnungen? Mein Kopf kam nicht so schnell hinterher, da er randvoll mit anderen, verwobenen Geschehnissen war, die noch längst nicht gelöst oder gar verarbeitet worden waren. Doch mit einem Mal griff mein Gedächtnis nach vielen Bildern, die merkwürdige Momente erschaffen hatten. Bis heute hatte ich es nicht begriffen, mich auch nicht weiter mit ihnen beschäftigt, weil mir das sowieso keine Antworten gegeben hätte.

„ Ich habe Emma gesehen."

Es schockte mich zutiefst, obwohl sie gar nicht hier war und unsere Begegnung auch nicht wirklich schlimm gewesen war. Es war die Tatsache, dass sie wirklich da gewesen war. Hatte Riley das mit merkwürdige Begegnungen gemeint?

Mit tellergroßen Augen drehte ich mich zu ihm.

„ Woher weißt du davon?"

„ Ich habe sie gebeten, auf dich aufzupassen."

„ Du hast was?"

Er wusste, dass jedes weitere Wort zu einem Eklat hätte führen können, weshalb er versuchte, sie mit Bedacht zu wählen. „ Das war alles so gar nicht geplant gewesen. Ich habe eher durch Zufall wieder Kontakt zu ihr gefunden. An dem Tag als sie in Claire's Büro angerufen hat."

„ Ich verstehe grad gar nichts mehr", wisperte ich und fühlte mich so unendlich machtlos. Nie war ich in irgendeine Sache involviert gewesen, zumindest was meine Antworten auf so viele seltsame Dinge betrafen. Wenn es kompliziert wurde, war ich mittendrin, aber wenn ich Fragen aus der Welt schaffen wollte, blieb ich immer auf einer Stelle stehen.

„ Die Tür stand einen Spalt auf und Claire war nicht dort. Deswegen bin ich rangegangen. Emma wollte Claire drohen, ihr sagen, dass sie alles daran setzen würde, ein schlechtes Licht auf diese Schule fallen zu lassen."

Hektisch strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. „ Warum denn?"

„ Das hat sie mir nicht gesagt. Ich traute ihr zuerst auch nicht über den Weg, schrieb mir jedoch trotzdem ihre Nummer auf, um mehr Antworten zu bekommen. Aber die Anzahl an Antworten war sehr beschränkt." Das glaubte ich ihm gerne. Mir war es mit ihr nicht anders ergangen.

„ Je mehr ich mit ihr sprach, desto mehr begann ich ihr zu vertrauen. Sie sagte mir, dass sie dich nicht länger verdächtigte, an Steven's Tod schuld zu sein. Glaub mir, ich hätte sie nicht auf dich losgelassen, wenn ich nicht zu hundertprozent gewusst hätte, dass sie wirklich klar im Kopf ist und sich geändert hat."

Ich glaubte ihm. Seine Worte rührten mich auf irgendeine Art und Weise. Ich war nicht imstande dagegen zu kontern, weshalb ich einfach nur an meiner Lippe zog und seine Worte auf mich wirken ließ. „ Ich habe lange schon darüber nachgedacht, dich von hier wegzuschaffen, um dich nicht weiter der Gefahr, die von Claire und Rosemarie ausging, auszusetzen. Emma bot sich immer als Hilfe an, setzte mir allerdings eine Frist. Sie wollte verschwinden, untertauchen."

„ Ich dachte, sie wollte Claire stürzen."

„ Sie wusste, dass wir das auch wollten. Das genügte ihr."

„ Sie meinte, sie würde am nächsten Tag in England sein."

„ Wenn man Claire kannte, ist das wohl auch das Beste." Es klang krass aus seinem Mund. Noch immer wollte es nicht in meinen Kopf, dass sie wirklich seine Mutter sein sollte.

„ War es denn immer so ... zwischen euch?" Ließen wir Emma erst mal außen vor. In diesem Moment empfand ich es wichtiger, mehr über seine Gefühlswelt zu erfahren.

„ Das ist ja das Schlimme. Ich kann mich an keine glücklichen Zeiten mehr erinnern. Wie oft habe ich versucht danach zu kramen, um mich an irgendetwas festzuhalten, was mal war, oder den Grund ihrer plötzlichen Ignoranz für mich herauszufinden, aber da ist gar nichts in meinem Kopf. Ich habe mich gefragt, weshalb sie mich nicht einfach abgaben, wenn sie mich doch so sehr hassten. Gegenüber Claire hatten sie keine Vorteile durch mich. Wieso also haben sie mich so lange gequält?"

„ Ich wünschte, ich könnte dir all deine Fragen beantworten, um dich von diesen Gedanken zu befreien", flüsterte Riley in die Stille und mein Kopfzerbrechen hinein.

„ Niemand kann mir dabei helfen, weil es keine Antworten darauf gibt. Ich habe so oft versucht, es herauszufinden und beginne immer wieder am Anfang. Und währenddessen verliere ich alle Menschen um mich herum, in dem sie mein Vertrauen missbrauchen und mich weiterziehen lassen. Vielleicht liegt es auch einfach an mir. Vielleicht sollte ich mir endlich anfangen selbst die Schuld daran zu geben. Nur ich traue es mich nicht, weil ich weiß, dass es mich zerstören wird. Vielleicht wäre das aber auch ein Anfang für meine Erlösung." Je länger ich sprach und mir meiner Worte bewusst wurde, desto hemmungsloser weinte ich neben ihm. Niemals zuvor hatte ich jemandem so viel über mein Seelenleben und dem Gefühl immer nur im Kreis zu laufen, ohne Hoffnung auf das Gute, verraten. Und vor Riley war es ein denkbar ungünstiger Moment mit all dem herauszurücken, aber ich hätte meine Zunge nicht zügeln können. Er war da, musste mir zuhören, ob er wollte oder nicht. Wer wusste, ob ich jemals wieder dazu gekommen wäre, endlich auszusprechen, was ich tatsächlich empfand.

„ Manchmal habe ich Angst, irgendwann gar nicht mehr lieben zu können. Dass es verloren geht und ich da stehe und nichts mehr für einen anderen fühlen kann."

„ Du wirst es niemals verlernen." Ich schluchzte nebenan. „ Du liebst noch immer. Und so wird es bleiben. Du hast dich für Mikey aufgeopfert und auch mich hast du dabei nicht vergessen." Mein Herz kam zum Stehen. „ Mrs Mars kam zu mir, um mir auszurichten, dass du mich sehr liebst."

Er musterte mich einen Augenblick, als er plötzlich seine Hand hob und damit langsam über meine Wange fuhr. Ich konnte mich nicht mehr vor ihm erwehren und genoss seine Berührung einfach nur. Ich wollte mehr, auch wenn die Situation es gerade nicht zuließ, aber dieses Gefühl war das Einzige, was mir in diesem Moment noch Kraft verlieh.

Es ging eine ganze Weile so, in der ich ihm ohne auch nur etwas zu sagen, mein Herz ausschüttete und ihm zeigte, wie sehr ich litt, weil ich ihn so sehr liebte. Ich erniedrigte mich vor diesem Jungen zutiefst, aber ich wollte es so. Er sollte sehen, was er mit mir angestellt hatte und wie zerbrechlich er uns dadurch gemacht hatte.

„ Manchmal wünschte ich nie geboren worden zu sein, das hat aber irgendwann aufgehört und ich genoss das Leben mit allen positiven und auch negativen Erlebnissen. Aber wenn ich das jetzt alles so höre und ... euch sehe, dann fange ich an, wieder an zu wünschen."

„ Nein, das darfst du nicht, Madison!" Riley packte mich bei meinen Armen und rüttelte an mir, so wie ich es bei Mikey vorhin getan hatte. „ So etwas darfst du nie wieder denken! Du trägst keinerlei Schuld. Rede dir so etwas nicht ein! Wenn es dich nicht geben würde, dann könnte auch ich wieder anfangen zu wünschen, niemals geboren worden zu sein. Aber du bist hier! Und ohne dich, wäre ich so unglaublich allein. Das kannst du dir gar nicht vorstellen."

„ Was redest du da? Du hast dort draußen jemanden", erinnerte ich ihn gekränkt und stand auf. Riley blieb sitzen und sah mir nach. Ich spürte förmlich seine Augen in meinem Rücken. „ Da wartet jemand auf dich, der dich unsagbar liebt. Du bist nicht allein, aber ich bin es. Und das werde ich auch immer sein. Daran kann ich wohl auch nichts machen. Es scheint vom Universum so bestimmt worden zu sein. Alles was ich anfasse, zerfällt zu Staub und dabei habe ich mich so nach einer Zukunft mit dir gesehnt."

„ Madison" flüsterte er und beugte sich etwas weiter nach vorn. „ Ich bin doch gar nicht mit Vicky zusammen."

Alles in mir kam zum Stehen.

Es war nicht real, was er da gerade gesagt hatte, einfach nicht zu glauben, als würde sich jemand einen schlechten Scherz mit mir erlauben. Diese Worte waren nicht greifbar, genauso wenig greifbar waren sie auch, als er mir gestanden hatte, in mich verliebt zu sein. Mein Kopf wollte, dass er so mit mir sprach, dass alles was zwischen uns geschehen war nur ein Albtraum gewesen war und es uns doch noch gab, aber das ging nicht so einfach. Ich machte einfach mit dem weiter, wo ich aufgehört hatte, mich ihm leidvoll hinzugeben und die letzten Momente zu genießen, ehe sich unsere Wege für immer trennten.

Mit tränenverschmiertem Gesicht drehte ich mich zu ihm und schluchzte bitterlich. „ Warum kannst du einfach nicht aufhören damit? Reicht es dir nicht, mich so zu sehen? Ich liebe dich, Riley, und ich kann einfach nicht damit aufhören. Ich will mit dir reden und lachen, ich will, dass du mich berührst, dass du mich küsst, dass wir miteinander schlafen! Ich wünsche es mir so sehr, dass alles in mir einfach nur noch schmerzt, aber ich weiß, dass ich es nicht mehr haben kann. Ich will es akzeptieren und das werde ich auch eines Tages, aber wenn du nicht endlich damit aufhörst mir aus Mitleid das Gefühl zu geben, doch noch etwas für mich zu empfinden, werde ich nie wieder zur Ruhe kommen!"

„ Hörst du, was ich sage?", fragte er und stand ruckartig auf. „ Es ist wahr!" Er packte meine Handgelenke. „ Ich bin nicht mit Vicky zusammen! Es ist wahr! Sieh mir in die Augen und sage mir, dass ich lüge!" Ich wollte ihm nicht in die Augen schauen, neigte mein Gesicht weg von ihm, doch er griff nach meinem Kinn und musste etwas Kraft aufwenden, um es in seine Richtung zu drehen. Er schaffte es schließlich, sodass wir uns in die Augen sahen, als gäbe es nichts mehr um uns herum. Und er hatte recht, ich konnte ihm nichts unterstellen.

„ Ich war nie mit ihr zusammen gewesen in der Zeit wo du fort warst, verstehst du mich? Vicky war mit eingeweiht, sie hat es auch nur gespielt!"

Meine Lippen bebten. Was trieb er hier mit mir?

„ Gespielt?"

„ Ich ... wir mussten es tun. Claire hat mir gedroht, dir noch härtere Strafe anzutun und wenn es sich nur um den kleinsten Regelverstoß handeln würde, wenn ich mich nicht von dir fernhalten würde, sobald du wieder hier wärst! Genauso wie bei Tira."

„ Nein", stieß ich hervor und schüttelte schon kräftig mit dem Kopf. „ Das ist nicht wahr, das sagst du nur, damit ich nicht völlig die Nerven verliere. Du bezweckst irgendetwas damit!"

„ Das tue ich nicht!", schluchzte er leidvoll.

„ Und warum hast du es mir dann nicht schon viel eher gesagt? Du hättest diese Lüge nicht bis hierhin aufrecht erhalten müssen!"

„ Ich war mir bewusst, dass ich dir nicht gut tue mit so einem Hintergrund! Ich habe versucht, wie es ist, wenn ich einfach weiterhin so tue, als wäre ich noch mit Victoria zusammen, aber ich schaffe das nicht! Ich brauche dich, Madison! Ich liebe dich! Okay? Das alles was du gerade aufgezählt hast, gilt auch für mich! Ich will dich, ich brauche dich zum Überleben, jede einzelne meiner Faser sehnt sich nach dir. Ich liebe dich, verdammt! Ich kann nicht mehr ohne dich sein! Ich würde dir alles geben, was ich nur kann!"

„ Sag so was nicht ...", hauchte ich und spürte wieder seine Hand an meiner Wange.

„ Aber es ist wahr ...", erwiderte er mit ebenso leiser Stimme. „ In der kurzen Zeit, in der du nicht bei mir warst, bin ich nicht nur einmal gestorben! Ich wusste in keinster Weise wo du warst! Ich konnte dich nicht erreichen und rechnete mit dem Schlimmsten! Als ich dich endlich wiederhatte, ist mir das Herz in der Brust in tausende Teile zersprungen. Ich hätte dich so gerne umarmt und geküsst, dir gesagt, wie schrecklich es für mich war! Dabei musste ich so tun, als hätte ich dich so schnell wieder vergessen und in Vicky meine erneute Liebe wiedergefunden. Weißt du, wie furchtbar das war? Und die Erkenntnis in deinem Gesicht zu lesen, hat mich zerstört." Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, da es mir schwerfiel überhaupt noch irgendetwas zu glauben, was mir ein anderer erzählte. „ Madison? Madison, geht es dir nicht gut? Hey ... nicht ohnmächtig werden, hörst du?"

Meine Beine waren weich wie Pudding und mein Herz wie ein riesiger Klumpen, der keinen Platz mehr in meiner Brust besaß, um in einem vernünftigen Rhythmus zu schlagen. Ich schwankte hin und her, doch da war Riley, der mich so festhielt, dass es zu keinem Sturz kam.

„ Warum ... hättest du das alles tun sollen? Es gibt keinen Grund ..."

„ Und ob es ihn gibt! Madison, sie wollte dich brechen! Deinen Willen wollte sie brechen! Und? Sie hat es geschafft! Du hast dich ergeben und alles mit dir machen lassen. Dass du am Ende doch deine eigene Entscheidung fällen wirst, war ihr nicht bewusst. Deswegen das alles hier!" Er sah sich hastig um.

Mittlerweile rannen mir ungehindert Tränen über die Wangen. Tränen, die ich zu lange versucht hatte, wegzudrücken. Er ließ wieder alle Dämme in mir brechen und machte mich frei von dem, was mich quälte.

Ich zögerte einen Moment, in dem ich versuchte alle Gedanken zu ordnen, die durch meinen Kopf jagten, doch ich kam auf keinen grünen Zweig. Als ich wieder aufblickte, waren diese jedoch sowieso längst verschwunden, denn Rileys Gesicht war mir so nah, dass ich alles um mich herum vergaß.

Er liebte mich noch immer.

Es war zu unglaublich, um es zu glauben, aber anscheinend wahr. So wie er nun schaute, so konnte man einfach nicht schauen, wenn man es nicht ernst meinte. Und seine Argumentation ergab einen Sinn. Claire hatte ihm gedroht, genauso wie Tira. Sie war von Anfang an gegen unsere Beziehung gewesen und konnte nur mit einer Drohung etwas erreichen. Und sie bezweckte so nicht nur, dass wir Abstand voneinander hielten, sondern, dass ich willenlos wurde und mich ergab. Deswegen waren wir nun hier gefangen, mussten um unser Leben bangen und alles bereuen, was wir falsch gemacht hatten.

„ Riley", wimmerte ich und kam ihm so nah, dass es beinahe schmerzte. Seine Hand wanderte ohne zu zögern in mein Haar. Dann schlang er plötzlich seine Arme um meinen Körper und presste mich so fest an sich wie es nur ging. Zuerst reagierte ich nicht, war beinahe wie erstarrt, doch als ich spürte, was er dort tat, als mir alles so klar und bewusst wurde, wie noch nie zuvor, drückte ich mich gegen ihn und wusste nicht, wo ich ihn zuerst berühren wollte.

„ Es tut mir alles so leid!", schluchzte nun auch er und ich ertrug es nicht, ihn so leiden zu hören. Doch bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, lehnte er sich mit einem Mal nach vorne, wartete keine Sekunde länger und legte seine Lippen auf meine. Sie waren verlangend und voller Melancholie, dennoch wurde mir kalt und unfassbar heiß zugleich. Das Zimmer begann sich zu drehen, als sich unsere Körper so nah waren, dass kein Finger mehr zwischen uns gepasst hätte. Mit vollem Elan landete ich mit dem Rücken zur Wand und genoss alles was ich in diesem Moment von ihm haben konnte. Wir hörten erst wieder auf, als unsere Lungen nach Luft schrien, aber Riley hatte noch immer nicht genug. Seine feuchten Lippen fuhren meinen Hals entlang, liebkosten ihn auf eine Weise, die ich so noch nie erlebt hatte, nicht einmal als wir miteinander geschlafen hatten, und rekelte mich stöhnend vor ihm. Kurz vor meiner Brust machten sie Halt, als seine Hand schon unter mein T-Shirt wanderte,

„ Ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr", flüsterte er wehmütig in mein Ohr hinein und hinterließ eine schmerzende Gänsehaut auf meiner ganzen Haut zurück.

„ Ich dich auch, aber nicht hier ... wir müssen warten." Ich schaute an Riley vorbei und sah Mikeys Hinterkopf, sein Körper eingekuschelt in Rileys Hemd.

Mit glänzenden Augen schaute er schließlich auf und nahm mich bei der Hand. Er zog mich hinter die Tür, mit den vielen Bücherregalen und lehnte sie bloß an, falls etwas mit Mikey war. Etwas besorgt blickte ich auf den Spalt, als Riley mein Kinn schon in seine Richtung drehte. „ Mikey schläft. Es geht ihm gut. Er wird gar nichts bemerken."

Ich nickte und fasste nach seinem Haar, um ihn noch näher zu mir zu ziehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit küssten wir uns wieder voller Hingabe. Seine Berührungen waren wunderschön und brachten mich zum Stöhnen. Kurzerhand befreite er mich schließlich von meinem Shirt und auch die Hose streifte er mir gekonnt von den Beinen. Er blickte aus der Hocke heraus zu mir nach oben, während ich das lodernde Feuer in seinen Augen erkannte. Ich fasste nach seinen Armen und zog ihn wieder zu mir nach oben. Nun war ich an der Reihe und zog an den Ärmeln meiner Strickjacke, die er trug. Als sie auf den Boden fiel, öffnete ich nach und nach die Knöpfe seiner Shorts, während wir uns leidenschaftlich küssten und nicht genug voneinander bekamen. Riley presste mich gegen eines der Regale und hob mich mit Leichtigkeit auf seine Hüften. Ich konnte nicht beschreiben, was für ein Feuerwerk an Gefühlen in mir explodierten und Funken in den wunderschönsten Farben sprühten. Diese Sehnsucht nach ihm hatte mich ausgezehrt und beinahe wahnsinnig werden lassen. Ihm plötzlich wieder nah zu sein und ihn so vollends zu spüren, war wie ein Wunder, welches ich noch nicht wirklich fassen konnte.

Keuchend kamen wir zum Stillstand, den Kopf des anderen auf unseren Schultern liegend. Ich rutschte hinunter auf meine wackligen Beine und hielt mich an seiner warmen, nackten Brust fest, welche sich aufgeregt auf und ab bewegte, während er mich ganz fest an sich zog. Wir atmeten im Takt und genossen die Nähe des anderen so lange wir konnten. Der Schweiß rann mir von der Stirn und auch sein Körper war von Hitze durchzogen.

„ Jetzt brauchst du nicht mehr zu frieren", flüsterte ich abgehackt und musste lächeln.

„ So kannst du mich immer warm halten", scherzte er und doch waren seine Worte so voller Liebe, dass ich ihn anschauen musste. Wieder verschmolzen unsere Küsse zu einem einzigartigen Kuss, der unsere wunderschönen Minuten zu zweit besiegelten.

„ Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob du mein Angebot annehmen wirst", hauchte er heiser in mein Ohr hinein und lächelte. Ich konnte es hören.

„ Welches Angebot?", fragte ich und musste schmunzeln.

„ Dass ich ein gemeinsames Leben mit dir leben will und ein Haus für uns kaufen möchte, welches uns gehört, wo wir so sein können wie wir es schon immer wollten."

„ Riley", hauchte ich und streichelte seine Wange, ehe ich sein Gesicht in beide Hände nahm und ihn eindringlich ansah. „ Ich will eine Zukunft mit dir, ja!"

„ Also Ja, ja?" Voll von Freude musterte er mich und fasste mich noch fester an meinen Armen.

„ Das Einzige was im Moment zählt ist, dass wir hier alle rauskommen, okay? Lass uns über das andere später sprechen. Ich bitte dich."

„ Du hast aber gerade Ja gesagt", flüsterte er.

„ Ich werde dein Geld nicht annehmen können. Ich werde auch arbeiten und wir können uns gemeinsam etwas aufbauen."

Er schüttelte mit dem Kopf. „ Das dauert zu lange. Ich will nicht länger warten. Das habe ich viel zu lange."

„ Das Geld ist mir aber nicht wichtig! Du bist es! Nichts anderes zählt für mich!"

Seine Augen glänzten, als würden Tränen in ihnen stehen. „ Das weiß ich, Madison. Das brauchst du nicht zu beteuern, denn ich weiß Bescheid. Trotz alledem ist Geld sehr wichtig und ich werde dafür sorgen, dass dir ein gutes Leben vergönnt ist und niemand könnte mich jemals davon abhalten. Selbst Claire nicht."

„ Also hast du längst entschieden", stellte ich machtlos fest.

„ Wir wissen nicht was geschehen wird."

„ Wir kommen hier raus."

„ Du und Mikey werdet hier herauskommen, daran werde ich alles setzen. Ich will mit euch kommen, aber wenn nicht ..."

„ Nein", steuerte ich direkt dagegen. „ Fang gar nicht erst mit so etwas an! Ich will es nicht hören!", drohte ich ihm brodelnd. Wenn er nun anfing von Tod zu sprechen, würde ich ihm eine Backpfeife verpassen!

Er sah mich eine zeitlang an, ehe er sich bückte und etwas aus seiner Shorts zog, die zu seinen Füßen lag. „ Sie lag in einer von Rosemaries Schubladen. Ich wusste, dass Claire sie dort aufbewahrt. Sie hat alles darüber finanziert und eingenommen. Es muss eine Unmenge an Geld darauf sein. Ich kam nie an das Konto heran, aber jetzt ... Nur für den Fall ..." Er hielt mir eine Karte hin, auf die ich zögerlich hinunterschaute. „ Nimm sie schon."

„ Was ist das?", fragte ich gereizt.

Ohne mir zu antworten, streckte er sie in meine Richtung, woraufhin ich sie unweigerlich an mich nahm. Ich drehte sie ein paar Mal zwischen meinen Fingern, als ich auch schon das Banklogo darauf erkannte.

„ Es gehört alles dir, wenn ich sterbe."

Ich verkrampfte mich, hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Da holte meine Hand auch schon wie von selbst aus und klatschte ihm gegen die Wange. Sofort wurde sie rot und ich erkannte meine Fingerabdrücke auf ihr. Mein Atem ging schwer und ich bereute, was ich getan hatte, auch wenn mein Körper ganz von selbst gehandelt hatte.

„ Sag das nie wieder!", raunte ich leidvoll.

Er nickte und sah mir tief in die Augen, ehe er mich zurück in seine Arme zog und mich nicht mehr losließ, bis die ersten roten Sonnenstrahlen den Tag unseres Schicksals einläuteten.

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