29. Kapitel

Ich betrat die Cafeteria zum allerletzten Mal. Ich wollte noch einmal die Menschen sehen, mit denen ich viele Momente, schöne, unbedeutende oder auch schlechte, gemeinsam verbracht hatte, welche, die mich schräg angesehen oder mich sogar angelächelten hatten. Für diese wenigen Augenblicke hatte ich mein Gepäck in meinem Zimmer gelassen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie sollten nicht sehen, wie ich ging. Würden bald schon bemerken, das jemand fehlte.

Mein Blick schweifte umher. Ich musste Mikey nochmal sehen, bevor ich ging. Ich wollte irgendeine Reaktion in seinem Gesicht sehen, falls er mich erhaschte. Selbst wenn es bloß Wut war. Ich wollte ihn so gerne noch einmal sehen. Doch mein Blick traf bloß auf die vielen Schülern, die sich unterhielten und dabei aßen. Es schien so ein normales Bild zu sein. Wieso war es mir nicht vergönnt gewesen, genauso eine kontinuierliche Normalität zu leben?

Ich lief weiter, schaute nach links und rechts, doch es war kein Mikey zu sehen, immer nur das normale Leben der anderen.

Ich wollte nicht in Selbstmitleid verfallen und sah ab von ihnen, als ich jedoch auf noch etwas viel Schlimmerem hängen blieb.

Riley und Vicky saßen gemeinsam an einem Tisch, sprachen und aßen. Nichts außergewöhnliches, aber ihre Blicke sprachen ungebrochene Liebe. Mein Atem kam nur noch stoßweise. Noch immer spürte ich seine Hände auf meiner Haut, seine Küsse auf meinen Lippen. Wir waren ein Paar gewesen und nun sahen mich alle als eine Schlampe an, die nur ein kleines Abenteuer mit ihm begonnen und wir dabei seine und meine Freundin betrogen hatten. Es war Zeit, dass ich hier rauskam.

Ich wand meinen Blick ab und lief bis vor die Theke, an der Tira sich gerade mit einem Küchenjungen unterhielt. Ihre Konversation war angeregt und freundschaftlich. Ich wollte nicht stören. Vielleicht war es besser, wenn ich einfach wieder umkehrte.

In diesem Moment drehte sie sich plötzlich in meine Richtung und erschrak etwas.

„ Hi Tira", begrüßte ich sie sofort, um ihr den Schrecken ein wenig zu nehmen.

„ Madison!" Tira beugte sich sofort über die Theke hinweg und schloss mich in ihre Arme.

„ Ich habe gehört, dass du fort warst. Vicky und ich haben jeden Tag zusammengestanden und uns gesorgt."

Am liebsten hätte ich abfällig gelacht. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Vicky sich tatsächlich um mich gesorgt haben sollte. Auch als sie mit Riley vor mir stand und auf mich eingeredet hatte, hatte ich ihr kein einziges Wort davon abgenommen. Wie hätte sie es auch ernst meinen können? Ich hatte ihr den Freund weggenommen! Zwar eher unfreiwillig, aber Riley hatte wegen mir mit ihr Schluss gemacht.

„ Verurteilst du mich nicht dafür, dass ich gegangen bin?", fragte ich schließlich und seufzte.

„ Ich wollte es dir schon vorab sagen, aber meine Gefühle haben mich übermannt. Ich sehe dich nicht als etwas Schlechtes an, wegen der Sache mit Riley oder deiner Flucht, okay? Ich wollte nur, dass du das weißt."

„ Ich danke dir", erwiderte ich im Flüsterton.

Sie stützte ihre Arme auf der Anrichte ab. „ Und sie haben dich geschnappt, stimmt's?"

Ich nickte niedergeschlagen. „ Ja, ich ... hatte keine Chance."

„ Es tut mir ja so Leid für dich. Einfach alles. Das hast du dir nicht verdient."

Ich seufzte erneut und senkte den Blick.

„ Wird dich eine Strafe erwarten?"

„ Die habe ich schon abgesessen", erwiderte ich niedergeschlagen. Tira antwortete mir nicht, woraufhin ich wieder aufschaute und zu ihr hinübersah.

„ Kann ich dir etwas Gutes tun? Was möchtest du denn essen?"

„ Ich bin nicht wegen dem Essen hier, sondern um Lebewohl zu sagen."

„ Lebewohl?" Ihr fiel alles aus dem Gesicht.

„ Ich gehe wieder. Dieses Mal jedoch offiziell."

„ Und Claire lässt das einfach so zu?"

„ Ja, sie ... erlässt mir die Geldstrafe und ich kann mein Leben selbst in die Hand nehmen." „ So etwas hat sie noch nie getan. Jemandem die Konsequenz erlassen."

„ Vielleicht ändert sie sich doch nochmal", murmelte ich für mich selbst.

„ Um ehrlich zu sein, konnte ich es nicht ganz verstehen, warum du geflüchtet bist. Warum du nun gehst, leuchtet mir jedoch ein. Unter anderem wegen ihm, oder?" Tira deutete mit dem Kinn in seine Richtung. Ich wollte nicht hinschauen, aber irgendetwas zwang mich dann doch einmal nachzusehen. Es bot sich mir immer noch dasselbe Bild wie gerade. Wie verliebt die beiden sich doch in die Augen schauten. Ich ballte die Fäuste, um den kommenden Anflug des Schmerzes Paroli zu bieten.

„ Nein, das heißt ... ja, auch ein wenig, aber das ist nicht der Hauptgrund. Ich passe hier einfach nicht länger rein."

„ Weiß er davon?" Sie zog die Brauen in die Stirn.

Ich senkte den Blick und schüttelte mit dem Kopf. „ Ist auch besser so."

„ Was ist mit deiner Zukunft und dem vielen Geld, was deine Eltern bezahlt haben?"

„ Ich werde schon etwas anderes für mich finden und außerdem habe ich sie nicht darum gebeten, mich hierher zu schicken."

Tira wusste darauf nichts zu sagen und ließ die Schultern hängen.

„ Es sind zu viele Dinge geschehen, mit denen ich nicht länger klar komme. Deswegen. Es ist wirklich das Beste was ich tun kann."

„ Du hast da draußen doch nichts", sagte sie plötzlich.

„ Das stimmt. Ich habe keine Wohnung, kein Auto und kein Geld."

„ Dann bleib hier, verdammt. Madison, weißt du eigentlich was du dir damit antust? Hier hast du eine Unterkunft mit einem warmen Bett, Menschen mit denen du reden kannst, täglich Essen."

Ich steckte meine Hände in meine Jackentaschen. „ Ich habe lieber nichts, als weiter hier zu bleiben."

Wieder war sie sprachlos und sah sich um, als würde irgendwo die ultimative Lösung für mein Problem umherschwirren, aber die gab es nicht. Ich musste dem Ganzen entkommen, bevor es mich noch auffraß.

„ Kann ich ... irgendetwas für dich tun?"

„ Danke, ich komme schon klar", wies ich ihr Angebot lächelnd zurück.

„ Bleib noch für eine Weile hier und iss etwas."

„ Aber ich habe keinen Appetit."

„ Ich würde mich sehr freuen, dich wenigstens noch für eine halbe Stunde hier zu haben, ehe du gehst."

Ich senkte beschämt den Blick. „ Je schneller ich von hier fort bin, desto besser."

„ Bitte, tu es für mich. Für mein Gewissen. Sonst kann ich heute Nacht sicher nicht schlafen."

„ Danke für alles, Tira. Du bist der ehrlichste und freundlichste Mensch gewesen, der mir hier an dieser Schule begegnet ist." Ich umfasste ihre Hände und drückte sie herzlich.

„ Wir können in Kontakt bleiben", schlug sie vor. „ Wir könnten Nummern austauschen."

„ Es tut mir Leid, aber das geht nicht. Ich brauche einen klaren Schnitt, um das hier zu vergessen. Ich möchte das nicht. Bist du jetzt sauer?"

„ Eher traurig", stieß sie mit bitterer Miene hervor. „ Aber ich akzeptiere diese Entscheidung. Was sollte ich auch sonst machen? Es ist dein Leben und wir sind alle auf der Suche nach dem Glück, nicht wahr?"

Ich nickte betroffen. „ Das ist wahr."

„ Dann setz dich schon mal. Ich bringe dir gleich dein Essen."

Ich schlurfte zu einem der Plätze und setzte mich so hin, dass ich Riley und Vicky nicht sehen konnte, noch nicht mal in Versuchung kam zu ihnen zu hinüberzuschauen, und es tat gut, auch wenn es gleichzeitig so unheimlich weh tat, getrennt von ihm zu sein. Aber er wollte mich nicht. Es durfte nicht wehtun. Doch ich brauchte ihn. Ich presste meine Hände gegen mein Gesicht, ließ sie jedoch so schnell sinken, wie ich sie erhoben hatte. Es sollte keiner mitbekommen in was für einer Verfassung ich steckte.

Wenig später tauchte Tira an meinem Tisch auf und stellte einen Teller mit einem dick belegten Sandwich vor mir ab. Daneben platzierte sie ein großes Glas Orangensaft.

„ Willst du eine Essensmarke?", fragte ich sie und kramte schon danach.

„ Lass es dir schmecken," erwiderte sie bloß und schob etwas unter meinen Teller. Sie schenkte mir noch einen bedeutungsvollen Blick, ehe sie sich wieder von mir abwandte und davonging. Ich schaute mich um, stellte jedoch fest, dass mich keiner beobachtete. Vorsichtig hob ich meinen Teller an und sah zwei fünfzig Dollarscheine hervorblitzen.

Ich konnte nicht glauben, dass sie das wirklich getan hatte. Und ich wusste, dass ich das nicht annehmen konnte. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und sah sie an der Theke stehen. Sie schaute nicht zu mir, sondern bediente gerade eine weitere Schar von Schülern.

Also wand ich mich wieder dem Baguette zu und ballte meine Hand mit dem Geld darin. Ich konnte es sehr gut gebrauchen und wenn sie es mir gab, wollte sie auch, dass ich es behielt. In einem anderen Fall hätte ich darauf bestanden, dass sie es zurücknahm, aber in meiner jetzigen Situation musste ich es annehmen. Mir blieb keine andere Wahl.

Ich seufzte und steckte es in meine Jeans. Dann beschloss ich zu essen, meine Sachen zu holen und ohne jene Aufmerksamkeit zu erregen diese Schule zu verlassen. Es war merkwürdig zu wissen nun meine letzte Mahlzeit hier einzunehmen. Mit dem Geld ging es mir besser, aber weit würde ich damit nicht kommen. Jedoch würde es alle Mal besser sein, als auch nur einen einzigen, weiteren Tag auf Claire und Rosemarie angewiesen zu sein.

Und anscheinend schien sie nun auch endlich akzeptiert zu haben, dass sie mich nicht weiter bei sich behalten konnten. Sie war sogar auf meine Bitte von gestern hin, heute Morgen nicht in meinem Zimmer erschienen, um mir Lebewohl zu sagen oder es doch noch einmal zu versuchen, mich umzustimmen, eingegangen. Sie hatte sich meine Bitte zu Herzen genommen und gab mir zumindest jetzt noch ein wenig meines eingeschränkten Freiraumes. Seufzend packte ich das Baguette in beide Hände und wollte gerade ein Stück davon abbeißen, als ein ohrenbetäubender Alarm ertönte.

Erschrocken ließ ich es wieder auf meinen Teller sinken. Es wurde dunkler in der Cafeteria, als die Jalousien wie von Geisterhand nach unten fuhren und das Tageslicht im Saal ersterben ließen. Die Schüler wurden panisch, sprangen von ihren Stühlen, die laut über den Boden fuhren, und sahen sich irritiert um.

„ Liebe Schüler und Schülerinnen, dies ist keine Probe. Ein Feuer ist ausgebrochen. Bitte verlasst die Cafeteria ruhig und ohne jede Sorge. Niemandem wird etwas passieren. In allen Gängen und Ein- und Ausgängen wird euch das Lehrpersonal empfangen und auf den Schulhof führen." Immer wieder wurde die gleiche Durchsage über die Lautsprecher ausgerufen und machte das Chaos perfekt. Es brannte irgendwo. Keiner wusste wo genau und die Angst ging allmählich in Panik über.

Ich riss die Augen auf. Wenn Mikey nicht hier war, wo war er dann? Nicht, dass er noch auf seinem Zimmer war und die Flammen ihm längst den Weg versperrten! Ich versuchte mich zu beruhigen und das Kopfkino abzuschalten.

Sofort taten alle wie ihnen gesagt. Nur ich blieb sitzen und überlegte, wie ich schnell in mein Zimmer gelangen konnte, wenn doch auf den Fluren bereits die Lehrer auf uns warteten. Ich brauchte meinen Kram, ich musste doch von hier weg.

Da fiel mir die Hintertür in der Küche ein, an der sicher keiner der Lehrer wartete. Ich hatte sie einmal auf der Suche nach einem Handtuch entdeckt. Es war meine Chance. Ich musste dadurch. Nur wie sollte ich das anstellen?

Ich stand von meinem Tisch auf und sah mich hastig um. Riley und Vicky waren beide sicher entkommen, egal was aus mir wurde. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich schluckte die Tränen hinunter. Ich musste mich nun um meinen eigenen Abgang kümmern.

Hastig huschte ich ein paar Tische weiter. Die Cafeteria leerte sich allmählich, sodass ich in der hinteren Ecke Schutz fand. Von hier aus, konnte ich niemanden mehr am Tresen erkennen. Also schlich ich weiter nach vorne, bog um ihn herum und rannte den Weg bis zum Mitarbeiterraum entlang.

Plötzlich öffnete sich die Tür, sodass ich beinahe in Tira hineingerannt wäre. Ihr Gesichtsausdruck war so erschrocken, dass mir auf einmal etwas klar wurde. Es schlug in meinem Kopf ein wie ein Blitz und erschütterte mich von innen heraus. Wir blickten uns ein paar Sekunden an, die lauten Sirenen in unseren Köpfen.

„ Was machst du noch hier? Wir müssen hier raus!", regte sie sich auf und packte nach meiner Hand. „ Komm schon. Wir müssen sofort hier raus!"

„ Wieso hast du mich überredet hier zu bleiben?", rief ich laut aus, woraufhin sie sich zu mir umdrehte und mich verständnislos musterte.

„ Das habe ich nicht. Ich wollte nur, dass du noch etwas isst, bevor du dich ins Ungewisse begibst."

Ich glaubte ihr kein Wort.

„ Komm schon, wir müssen los!" Sie zog erneut an meiner Hand, welche ich ihr mit einem Mal entriss.

Irritiert schaute sie nach unten, ehe ihr Blick meinen fand. „ Bist du des Wahnsinns? Hast du die Durchsage denn nicht gehört? Ein Feuer ist ausgebrochen! Wir müssen von hier verschwinden!"

„ Hörst du dir eigentlich selber zu?"

Fassungslos schaute sie zu mir. „ Madison!"

„ Du weichst mir aus. Warum hast du mich überredet zu bleiben und ein paar Minuten später geht der Feueralarm los? Soll das etwa ein Zufall gewesen sein?" Panik erfasste mich. Ich musste sofort von hier verschwinden. „ Das hast du doch extra gemacht." Tränen stauten sich in meinen Augen, während sie sich fest auf die Unterlippe biss. „ Ich hätte sofort gehen sollen, aber nein. Du wolltest, dass ich noch gestärkt bin. Fragt sich bloß wofür."

„ Was redest du denn da?" Ihre Stimme brach weg.

„ Hör auf es länger zu bestreiten. Ich habe doch recht, stimmt's?."

„ Bitte, Madison." Sie schüttelte kräftig mit dem Kopf. „ So etwas darfst du nicht von mir denken!"

„ Tu ich aber. Du arbeitest mit ihnen zusammen. Gegen mich."

Plötzlich versteckte Tira ihr Gesicht in ihren Handflächen. Es war ein Geständnis. Ich hatte recht gehabt. Sie war die Nächste, die mein Vertrauen missbraucht hatte.

Ich fing mich kurz vor einem Zusammenbruch. Es half nun keinem, wenn ich auf den Knien landete und nicht mehr weitermachen konnte. „ Und ich habe dich gerade an dieser verdammten Theke noch in alle Himmel gehoben!", knurrte ich geladen.

Sie schluchzte und antwortete nicht.

„ Du willst nicht. Das kann ich gut verstehen. Man muss sich unsagbar schlecht fühlen, wenn man sich auf so etwas einlässt und die eigene Freundin verraten muss. Schweig nur dazu, aber eines möchte ich dennoch wissen: Wieso? Haben sie dir Geld geboten? Oder vielleicht sogar einen verfrühten Abschluss?"

Tira weinte immer lauter in ihre Hände hinein und sprach noch immer nicht mit mir. Ich wurde unruhig, wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich sie einfach stehenlassen und Kurs auf mein Zimmer nehmen? Oder waren meine Chancen vergebens, da Claire bereits auf mich lauern würde? Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, jedoch wollte ich es versuchen und machte kehrt.

„ Sie hat mich erpresst", begann Tira und ich blieb ruckartig stehen. „ Sie meinte, sie würde meine Tochter sehen wollen. Ich habe keine Ahnung wieso, aber sie sagte, ich würde sie auf kurz oder lang verlieren, wenn ich nicht das tat, was sie von mir verlangte!"

Das klang wirklich nach Claire und ich verstand Tira. Sie hatte keine andere Wahl gehabt und doch wollte ich ihr Gesicht nicht länger sehen.

„ Du solltest mich also aufhalten?"

Sie schniefte. „ Ja."

Für einen Moment schloss ich meine Augen und ballte meine Fäuste. „ Das hast du geschafft. Voller Erfolg für euch beide."

„ Was sollte ich denn tun? Am liebsten hätte ich dir die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, aber ... es ging einfach nicht! Meine Tochter ..."

„ Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich hätte es nicht anders gemacht, aber ich bin fertig mit dieser Schule. Und mit ihren Leuten."

„ Du kannst immer noch entkommen, ich helfe dir, ich ..."

„ Nein, danke!", fuhr ich sie an und holte das Geld wieder hervor. „ Hier, wahrscheinlich wirst du keinerlei Bezahlung von Claire erhalten. Dann nimm wenigstens dein eigenes Geld wieder zurück." Ich warf es ihr vor die Füße, was sie bloß fassungslos betrachtete.

„ Ich will, dass du es behältst! Wenn du draußen bist, wirst du es brauchen!"

„ Das ist nicht mehr länger deine Sorge, okay? Bitte, geh jetzt. Und lass mich ein für alle mal in Ruhe!"

Sie weinte so bitterlich, dass jedes einzelne Wort nur schwer über meine Lippen kam.

„ Es tut mir so Leid."

„ Mir auch." Ich lief voran und rannte in den Mitarbeiterraum hinein.

„ Madison, bleib stehen!" Tira war mir auf den Fersen. Ich hatte nur wenige Sekunden, um mich in dem Raum zu orientieren. Einst hatten wir beide hier gesessen und gefrühstückt, sie hatte mir von ihrem harten Leben erzählt, welches sie bis an einen bestimmten Punkt geführt hatte, und ich hatte ihr zugehört und sie für das bewundert, was sie geleistet hatte. Nun hechtete sie hinter mir her, um mich zu beschützen oder hierzubehalten. Es war schwer zu sagen, denn für ihre Tochter hätte sie sicherlich alles getan. Sie war immer wunderbar gewesen, aber nun für mich nicht mehr zu gebrauchen. Ich konnte mich nicht länger von den Leuten festhalten lassen. Ich brauchte endlich Freiheit.

Meine Augen fanden die Hintertür sofort, von wo aus ich endlich entkommen würde. Ich stürzte nach vorne, griff nach der Klinke und schloss die Tür, sobald ich durch sie hindurchgegangen war. Der aufkommende Wind wirbelte meine Haare vor mein Gesicht, sodass ich kaum noch etwas sah.

In dem Augenblick griff auch Tira nach der Klinke und zerrte an ihr. Ich biss die Zähne aufeinander und versuchte mit aller Macht sie von außen festzuhalten. Es war meine Sache was ich tat, nicht ihre.

„ MACH DIE VERDAMMTE TÜR AUF!", schrie sie und hämmerte anscheinend mit beiden Fäusten dagegen. Panisch schaute ich mich um und entdeckte zwei große Mülltonnen ein paar Zentimeter von mir entfernt. Mit schnellen Fingern bekam ich sie zu fassen und schob sie einzeln vor die Tür, während ich meinen Körper weiterhin gegen sie stemmte und vor Anstrengung schrie. Sie würden sie nur für kurze Zeit verschlossen halten, aber das genügte, um mir Tira vom Hals zu halten.

„ Was willst du? Mich weiter festhalten, bis Claire und Rosemarie kommen?"

„ Nein, ich will dir hier raus helfen! Ich habe meine Aufgabe erfüllt, jetzt kann ich dir helfen!"

„ Nein!", schrie ich die Tür an. „ Ich brauche niemandes Hilfe mehr, verstehst du das?"

„ Nein, das verstehe ich nicht! Sie wird auf dich warten! Ohne Hilfe wirst du verloren sein!" Sie schien mehr zu wissen, doch ich wollte es nicht hören.

Ich presste die Lippen aufeinander und drehte mich um. Ich sah die Scharen an Schülern, die sich auf den Schulhof aufmachten, an den Seiten liefen in großen Abständen ihre Lehrer. Der Mädchentrakt schien bereits evakuiert zu sein. Schnellen Schrittes rannte ich auf den Mädchentrakt zu, immer auf der Hut, dass mich keiner entdeckte, und überwand die unzähligen Stufen des Treppenhauses. Auch hier ertönte immer wieder die ohrenbetäubenden Laute der Sirenen. Es war ein unheimliches Unterfangen, aber ich versuchte stark zu bleiben und stringent meinem Ziel zu folgen.

An meiner Tür angekommen, schloss ich auf und eilte hinein. Meine Taschen standen unberührt auf meinem Bett. Auch hier waren die Jalousien heruntergefahren, weshalb nur das Licht des Flures mir etwas Orientierung verschafften. Hastig schulterte ich den Rucksack und hängte mir die andere quer über die Brust. Ich hatte keine Zeit mich ein letztes Mal umzusehen, auch wenn ich es auf irgendeine verrückte Art und Weise gerne getan hätte. Ich hatte nicht nur Schlimmes in diesem Zimmer erlebt. Mit einem Mal verstummte der Klang der Sirenen und ein unangenehmes Rauschen blieb in meinen Ohren zurück. Es war so leise um mich herum, dass jeder Schritt zu laut klang und beinahe schmerzte.

„ Warum bist du nicht draußen auf dem Schulhof? Es ist schließlich Feueralarm."

Mit einem erschrockenen Laut drehte ich mich schließlich um und sah wie Claire aus einer dunklen Ecke meines Zimmers trat, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen stechend und berechnend.

„ Das glaubst du ja wohl selber nicht", sagte ich und spürte ein Zittern in meiner Stimme. Sie hatte die ganze Zeit auf mich gewartet.

Sofort wurde sie hellhörig. „ Was meinst du damit?"

Ich überlegte einen Moment. Nein, ich würde Tira nicht verraten. Ich musste ihre Tochter und sie selbst vor Claire schützen. Sie hätte es nie getan, wenn sie nicht dazu gezwungen worden wäre.

„ Ich bin nicht dumm. Es brennt nicht."

„ Warum denkst du so etwas?"

Ich schluckte. „ Weil du sonst nicht einfach nur so dastehen und dich mit mir unterhalten würdest."

„ Du schlaues Mädchen", sagte sie mit einer Stimme, die mir Gänsehaut auf die Arme trieb.

„ Wie auch immer. Ich habe nur meine Taschen geholt, damit ich sofort gehen kann." Ich eilte zur Tür.

„ Du hast deine Entlassungspapiere vergessen."

Unweigerlich blieb ich stehen und drehte mich auf meiner Sohle zurück in ihre Richtung. Abwartend stand sie dort, in ihrer Hand ein weißes Kuvert. Ich traute ihr keinen Meter und blieb fest auf einer Stelle stehen.

„ Schick es mir doch per Post."

„ Es macht wirklich überhaupt keinen Spaß mit dir zusammenzuarbeiten", schleuderte sie mir entgegen und zog den Arm mit dem Brief wieder zu sich.

Wir wechselten stumm Blicke miteinander aus, ehe ich die Stille in tausend Teile zerbrach.

„ Ich hatte eine gute Zeit hier. Es war nicht immer alles toll, aber ich bin dankbar dafür, okay? Dankbar in einer Gemeinschaft gelebt zu haben, von dir gut aufgenommen worden zu sein. Auch wenn alles nur eine Farce war, werde ich es nie vergessen."

Sie schaute mich intensiv an, ohne darauf zu antworten. Ich hatte keine Ahnung, ob ihr meine Worte vielleicht die Augen öffneten, dass es völlig verrückt war, welche gemeinen Strafen sie und Rosemarie sich für mich und die anderen ausgedacht hatten. Wahrscheinlich wäre ich nie gegangen, wenn alles anders gewesen wäre. Ich hatte gute Zeiten erlebt, für welche ich tatsächlich dankbar war. Jedoch reichte es nicht mehr, da zu viel Schlimmes passiert war.

„ Ich werde jetzt gehen", verkündete ich schließlich und machte mich auf den Weg nach draußen.

„ Weißt du", begann sie endlich, senkte den Blick für kurze Zeit und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich blieb ruckartig stehen und drehte mich zu ihr. „ Bis vor einer Stunde wollte ich dich in Ruhr aufsuchen, dir deine Papiere geben und den Vertrag vernichten, aber ich habe mich umentschieden." Nun schaute sie auf. „ Ich will dich nicht gehen lassen."

Mein Körper befand sich sofort in Alarmbereitschaft. „ Du musst."

„ Zumindest noch nicht."

Ich zog die Brauen tief in die Stirn und verstand die Welt nicht mehr. Mein Herz klopfte schnell. Ich musste schleunigst hier raus. Claire war anscheinend nicht mehr ganz gescheit.

„ Claire, wir sind gestern so aufrecht auseinandergegangen, mach das jetzt nicht kaputt", bat ich sie völlig fertig mit den Nerven.

„ Ich mache es nicht kaputt, ich mache es wieder heil! Nun werde ich alles richtig machen, ich versprech's." Ihre Fassade war kurz davor in sich zusammenzubrechen, doch sie tat alles, damit dies nicht geschah.

„ Das kannst du nicht machen und das weißt du. Mit diesen Papieren in deiner Hand ... bin ich frei!"

„ Oh, da hast du wirklich recht. Mit diesen Papieren bist du tatsächlich frei! Aber weißt du was? Sobald ich das hier tue, gehörst du wieder mir." Sie zog den Brief so schnell hervor, dass ich kaum hinterherkam und zerriss ihn direkt vor meinen Augen. Die Stücke wurden immer kleiner und kleiner, ehe sie sie wie Schnee auf den Boden rieseln ließ und lachte. „ Freiheit kann ja so vergänglich sein."

Mit Tränen in den Augen schaute ich. „ Als würde mich das davon abhalten, endlich zu gehen. Und wenn ich hier raus bin, ist es vorbei mit dir und deiner Schwester und dieser gesamten, dreckigen Schule!" Ich schrie sie aus Leibeskräften an und es tat unheimlich gut endlich die Stimme gegen sie zu erheben. „ Du bist so eine widerwärtige und hinterhältige Schlange, wie ich ihr noch nie zuvor begegnet bin! Du verdienst deinen Erfolg nicht! Du verdienst es auch eingesperrt zu werden und für das zu büßen, was du anderen angetan hast!"

Meine Worte hatten gesessen. Mit offenem Mund starrte sie mich, als wäre ich nicht mehr ganz bei Trost, und ließ mich nicht mehr aus den Augen.

„ Ich werde jetzt durch dieses Tor da draußen gehen und du wirst mich nicht aufhalten."

Wir starrten uns gegenseitig an, jede wartete auf den nächsten Schritt der anderen. Ich begann allmählich rückwärts Richtung Ausgang zu laufen, sie immer im Blick. Jeder Schritt war heikel und konnte sie rasend werden lassen. Als ich auf halber Strecke angekommen war, veränderte sich ihre Miene plötzlich wieder und sie lächelte.

„ Versuch es. Mal sehen, ob du es schaffst."

Als sie diese zwei Sätze, die einer Aufforderung gleichkam, zu mir sagte, wartete ich keine Sekunde länger, nahm die Beine in die Hand und rannte auf die offenstehende Tür zu. Instinktiv spürte ich, wie sie mich verfolgte. Es konnte jeden Moment geschehen, dass sie mich zu fassen bekam. Von Panik erfasst raste ich weiter, mein Ziel klar vor Augen. Ich wollte es hier herausschaffen!

Kurz bevor ich mein Zimmer hinter mir gelassen hätte, riss sie mich an meinem Arm herum und schleuderte mich hinter sich. Mit voller Wucht flog ich auf den Boden und prallte mit meinem Becken zuerst auf.

Der Schmerz kam direkt und wollte mich übermannen, versuchte ihn jedoch auszublenden, um weiterzukämpfen.

„ Na los. Du kannst mich immer noch einholen!", rief sie herausfordernd. „ Oder bist du von dem bisschen schon aus der Puste?" Sie machte sich über mich lustig. Meine Wut explodierte fast in mir, aber es gab mir die Kraft, die ich benötigte. Mit aufeinandergebissenen Zähnen schaffte ich es, mich wieder aufzurichten und hinter ihr her zu hechten.

Angekommen im Türrahmen drehte sie sich zu mir um und schaute mich einfach nur an, sah mich auf sich zukommen und rührte sich nicht. Ich wunderte mich über ihr Verhalten, blieb jedoch nicht stehen, verfolgte mein Ziel und machte mich bereit, sie umzustoßen, und dann endlich zu entwischen. Da schnellte Claire plötzlich hervor, riss an der Türklinke und zog so schnell zu, dass ich beinahe gegen sie geprallt wäre.

„ NEIN!", brüllte ich. Im letzten Moment, kam ich zum Stehen und ließ mich gegen die Tür fallen. Sofort war ich in eine dunkle Kammer gesperrt und hämmerte mit meinen Fäusten gegen das Holz und schrie so laut ich konnte. Ich fühlte mich in die Ballnacht zurückversetzt, wo sie mir das Herz gebrochen hatte.

„ Du musst schneller werden", hörte ich sie sagen. Ich konnte nicht deuten, ob sie es lächelnd oder niedergeschlagen sagte.

Ich lehnte meinen Kopf gegen die Tür und schloss die Augen. Das konnte alles nicht wahr sein. Schon wieder trennte sie mich von meiner Freiheit und sperrte mich ein weiteres Mal von der Außenwelt fort.

„ Du bleibst da drin. Ich werde mich um dich kümmern. Niemand wird nach dir fragen, außer ich."

„ Wo sind die anderen?", schrie ich und trat um mich. „ Sie werden bemerken, was ihr hier abgezogen habt!"

„ Deine ehemaligen Kameraden sind wo anders. Wir werden sie auf andere Schulen schicken. Es ist hier ... ausgeartet. Wir wollen das alles nicht mehr." Ich riss die Augen auf. Sie wollten aufhören? Sie wollten diese Schule nicht mehr? Schickten alle Schüler fort, außer mir? Mit welcher Begründung? Was hatte Rosemarie und Claire so dazu bewegt, alles aufzugeben? Und obwohl mich all diese Fragen beinahe verrückt machten, war eine Sache noch viel schlimmer für mich. Sie hatte vollkommen recht mit dem, was sie zu mir gesagt hatte.

Niemand würde nach mir fragen. Da gab es niemanden mehr, den ich länger interessierte.„ Aber lass das alles mal schön unsere Sorge sein. Du solltest dich nun um dich kümmern und dich darauf freuen, dass ich dich endlich auf den richtigen Weg bringen werde. Es wird sich alles verändern und ich verspreche, dass es zu deinem Besten sein wird. Wir werden ein Statement abgeben und alles der Presse erklären. Natürlich zu unseren Gunsten, wie du sicherlich verstehen wirst."

„ Nein", hauchte ich. „ Nein! Eure Lügen werden euch nicht weiterbringen! Ich kriege euch dran!"

„ Das hat sich, denke ich, erledigt. Du wirst wieder auf den Pfad der Tugend gelangen und ich werde dich dahin geleiten. Du wirst sehen wie schön er ist und, dass es ihn wirklich gibt."

Sie sprach in Rätseln und ich erriet keines von ihnen. Anscheinend war sie diejenige, die Drogen nahm! „ Es hätte alles so perfekt werden können, aber ...besser spät als nie."

„ Was redest du da? Ich verstehe nicht ..."

„ Du solltest dich etwas ausruhen, Madison. Deine Lektionen werden morgen beginnen. Punkt sechs werde ich da sein. Halte dich also bitte bereit."

„ Du willst gehen? Bleib hier! Ich befehle dir hierzubleiben und diese Tür zu öffnen!", brüllte ich. Doch sie hörte nicht und ging davon. Ich hörte es deutlich. Meine Tränen waren versiegt. Die Wut war viel zu groß. Sie flammte so stark und heiß in mir auf, dass ich nicht wusste, wohin mit ihr. Ich drehte mich japsend herum und tastete die Wand entlang, bis meine Hand den Lichtschalter betätigte. Es dauerte ein paar Sekunden, als mich das Licht über mir blendete. Ich sah den Schreibtisch und hastete auf ihn zu. Mit beiden Händen packte ich nach ihm und stieß ihn um. Sofort ertönte ein lautstarker Knall. Dann folgte der Schreibtischstuhl, den ich mit dem Fuß von mir wegtrat und er in die nächste Ecke schlitterte. Sofort fiel er zu Boden. Laut keuchend stand ich in der Mitte dieses Zimmers, was nicht länger mein Zimmer war. Es waren einfach bloße vier Wände um mich herum, die mir nichts mehr bedeuteten. Mein Blick fiel auf das verdunkelte Fenster. Auch die Uhr an der Wand und meinen Wecker hatte sie entfernt, damit ich auch bald kein Zeitgefühl mehr besitzen würde. Natürlich hatte sie alle Vorbereitungen getroffen, um mich weiter in den Wahnsinn zu treiben, doch das würde mich nicht daran hindern, sie endgültig zu besiegen.

Sie wollte mich brechen. Mein Kämpfen zunichte machen, doch ich hatte gelernt. Ich hatte gelernt wieder aufzustehen. Ich war mein ganzes Leben aufgestanden, doch nie mit diesem Elan, wie ich es nun konnte. Da war immer Jim's Bar gewesen, die einen rettenden Zufluchtsort für all meine Probleme für mich bot. Und ich hatte sie in Gesprächen verarbeitet, jedoch auch zu oft in Alkohol ertränkt. Nach meiner verkorksten Kindheit hatte ich mir ein eigenständiges Leben mit einer Wohnung und einem Job errichtet. Es war zwar nie das Gelbe vom Ei gewesen, hatte für mich jedoch vollkommen gereicht.

Meine Eltern wollten etwas besseres für mich. Es klang noch immer in meinen Ohren wider und war auch immer noch genauso unglaubwürdig. Ich erinnerte mich noch als wäre es gestern gewesen, als Claire mich damals an der Archer-Constitution-School begrüßte und ich ihr kein einziges Wort glauben konnte. Sie wollten nicht, dass es mir gut ging, sie wollten immer, dass es ihnen gut ging. Mich aus dem Weg schaffen, um mich nicht länger sehen zu müssen, das war ihr Hintergedanke dabei gewesen und nichts anderes. Dad wusste mittlerweile von den Zuständen, zwar nicht annähernd, weil Jim auch nicht davon wusste, aber ich glaubte nicht daran, dass er mich hier herausholen würde. Dafür war ihm sein neugewonnenes Leben ohne mich sicherlich viel zu wertvoll. Jim hatte wahrscheinlich maßlos übertrieben, damit ich ihm noch irgendetwas positives abgewinnen konnte, aber das konnte ich im Nachhinein leider nicht. Selbst Jim hatte mich verlassen, weil ihm alles viel zu heikel geworden war. Ich konnte es verstehen, aber ich vermisste ihn schrecklich.

Ich senkte den Blick. Es war hart gewesen. Und jetzt war ich hier. Schon wieder eingesperrt in einem Raum, durch den ich nur durch die Tür entkommen konnte. Genauso wie in meiner Gummizelle. Ich dachte, ich hätte es geschafft. Um ein Haar wäre ich draußen gewesen, aber Riley's und Vicky's Anblick hatten mir den Rest gegeben und ich ergab mich. In diesem Moment wünschte ich, es nicht getan zu haben. Ich wäre längst über alle Berge gewesen. Natürlich wusste ich nicht, wohin ich gegangen wäre. Jim hatte mir einen Abschiedsbrief hinterlassen und auch sonst gab es niemanden mehr, wohin ich gehen konnte.

Behutsam legte ich meinen Kopf auf meine aufgestellten Knie. Mrs Mars hätte mich sicher bei sich aufgenommen, aber ihre Hilfe wollte ich nicht noch länger in Anspruch nehmen. Wer wusste auch schon, wo sie nun war. Sicher war sie geflohen, so wie alle anderen, vor dem Feuer, welches es nie gegeben hatte.

Claire hatte gesagt, sie würde um sechs Uhr bei mir erscheinen und ich solle mich bereithalten, dabei hatte ich keinen blassen Schimmer, wann sechs Uhr sein könnte. Das hieß, ich musste zu jeder Minute planen. Stundenlang bereitete ich mich mental darauf vor, zu entkommen. Doch um zu entkommen, musste ich Claire ausschalten und das ging nur, wenn sie sich in meinem Zimmer befand. Immer wieder glitt mein Blick auf die wenigen Gegenstände, die mir noch geblieben waren. Ich sah die große Schreibtischlampe, den Bürostuhl, den Nachttisch, das Bett, den Bildschirm meines Computers, die Tastatur ... Ich richtete mich etwas auf und musterte sie interessiert. Sie wäre handlich und gut zu bedienen. Sie würde alle Male reichen, um sie ihr auf den Hinterkopf zu schlagen. Ich wäre niemals so weit gegangen, wenn es dabei nicht um mein Leben gegangen wäre, welches mir lieb und teuer war. Und mittlerweile hätte ich alles getan, um Claire aus dem Weg zu räumen. Sie war eine große Gefahr und so unglaublich wahnsinnig.

Es brauchte etwas Zeit, bis ich mich aufraffte und die Tastatur von ihrem Kabel befreite. Als ich sie in beiden Händen hielt, probierte ich etwas aus, wie ich sie am besten hielt und damit ausholte. Nach ein paar Versuchen, hatte ich mich für eine Variante entschieden. Ich würde sie hochkant festhalten und ihr den vorderen Teil gezielt auf den Kopf schlagen.

Die Nacht über war ich nicht müde, wobei ich wusste, dass es Nacht war. Ich spürte es innerlich. Schwieriger wurde es den Morgen zu erahnen. Lange brauchte ich sicher nicht mehr warten, aber mit der Zeit zog sich jede Minute wie Kaugummi. Ich dachte lange und viel über mein früheres Leben nach, sah alle geschehenen Bilder an mir vorbeiziehen, Menschen, die mich verlassen hatten, bis ich einfach nur dort stand. Allein, bewaffnet, um mich endlich selbst zu befreien. Diese Reise hatte mir so viel Schmerz und Leid gebracht. Ich wusste nicht, ob ich Fehler begangen hatte. Wäre es besser gewesen schon am ersten Tag zu flüchten? Viele Dinge wären niemals so geschehen und Menschen würden noch immer leben. Aber war es wirklich meine Schuld? Mit so etwas hätte ich doch niemals gerechnet. Es waren auch viele schöne Momente passiert. Zum ersten Mal hatte ich eine richtige Freundin gehabt. Mit Vicky hatte ich lange Gespräche führen können, die so einfach waren, dass es umso schwerer wurde, als ich eine Kontaktsperre zwischen uns errichtete. Im Hause der Greenwalds hatte ich so etwas wie Geborgenheit erfahren und das Gefühl erlebt, wie es wäre, wenn ich liebevolle Eltern gehabt hätte. Mikey war wie mein Bruder, dann beinahe wie mein eigenes Kind. Ich hatte Dank Vicky und Riley einen Ball erleben dürfen. Ein Wunschtraum, der sich nach langer Sehnsucht endlich für mich erfüllt hatte.

Riley.

Bei ihm blieb ich zuletzt hängen und sinnierte über unsere gemeinsamen Momente. Es war ein ständiges auf und ab mit uns beiden gewesen und endete in einer Tragödie. Es tat immer noch so unfassbar weh, mir seine Berührungen nicht auf meine Haut, seine Lippen nicht auf meinen, seine Liebe nicht in mein Herzen zurückzuwünschen, selbst wenn es grau geworden war.

Es war alles passiert, auch wenn davon nichts mehr übrig geblieben war. Doch ich sträubte mich gegen diesen furchtbaren Gedanken, wie eine Katze vor dem Wasser. Wenn ich nicht darüber nachdachte, würde ich auch keine Schmerzen fühlen. Hier und jetzt brauchte ich diese Gedanken sowieso nicht.

Als bereits so viel Zeit vergangen war und ich bemerkte, wie die Müdigkeit mir in den Knochen steckte, stand ich mit steifen Gliedmaßen auf und probte noch ein paar Mal mit der Tastatur, bis ich mich gegen die Wand lehnte und bereit machte.

Nun konnte Claire zu jeder Minuten hineinkommen. Zu Beginn raste mein Herz und ich griff mit schwitzenden Fingern die Tastatur. Doch je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde ich, bis mir die Lider allmählich zufallen wollten. Mir fehlte der Schlaf und meine Geduld war lange genug auf die Probe gestellt worden.

Irgendwann nickte ich ein. Es mussten nur Sekunden gewesen sein, als ich mit voller Wucht auf meinen Knien landete und gleichzeitig ein Geräusch hinter mir ertönte, was mich aufschrecken ließ. Ich schaute auf und bemerkte, dass ich auf allen Vieren hockte. Hastig rappelte ich mich wieder auf, schwankte hin und her, bis ich mich zurück an die Wand presste und lauschte. Zuerst hörte ich nichts, dabei machte es mich beinahe wahnsinnig. War jemand hineingekommen, war es tatsächlich schon sechs Uhr in der Früh? Witterte Claire, dass ich mich vor ihr versteckte, um sie aus dem Hinterhalt anzugreifen? Oder war es die Polizei, die vielleicht Mrs Mars zu uns geschickt hatte, damit sich mich aus den Fängen der Verrückten Miss Archer rettete?

Ich wusste es nicht und wartete weiterhin ab, mein Körper in kontinuierlicher Bereitschaft mich zu verteidigen, was passierte.

Mit rasendem Herzen stand ich einfach nur da und schaute an die Decke, mein Bein wippte auf und ab und meine Hände zitterten. Plötzlich schoss Claire um die Ecke und packte nach meinen Handgelenken. Ich schrie auf, als ich auch schon am Ende des Zimmers landete. Strauchelnd prallte ich auf dem Boden auf, die Tastatur jedoch immer noch in meinen Händen. Meinen Sturz hatte ich mit ihr abgefedert. Ein paar der Tasten sprangen davon, aber das machte nichts. Sie hatte mich angegriffen und ich war bereit, ihr mit derselben Aggressivität entgegenzukommen.

„ Du hast auf mich gewartet. Eigentlich sollte mich das freuen, aber ... nicht so," keuchte sie hinter mir. Sie war zu allem bereit. Ächzend kam ich wieder auf die Beine und drehte mich zu ihr herum. Ihre Frisur saß nicht mehr so perfekt, wie vorher, ihre Bluse war oben aufgeknöpft, als würde sie sich Luft verschaffen wollen und auch ihren Blazer hatte sie abgelegt.

Brüllend raste ich auf sie zu und versuchte ihren Kopf zu treffen, doch sie entwischte mir geschickt und knurrte in meine Richtung.

„ Du bist ganz schön zäh, das muss man dir lassen. Es wird dauern, dich dort zu haben, wo ich dich schon seit deiner Ankunft sehe. Deswegen sollten wir unsere Kräfte nicht hier verschwenden, sondern endlich mit deinen Lektionen beginnen. Je eher wir dich formen, desto schneller wirst du dich beugen."

Ich kam gar nicht so schnell hinterher, wie sie mich bei den Handgelenken packte und gegen die Wand presste. Claire kam mir stirnnah und sah mich aus funkelnden Augen an.

„ Ich werde mich niemals beugen!", antwortete ich ihr fassungslos. „ Wie kommst du zu der Annahme, dass ich mich dir beugen will? Du bist völlig verrückt in deinem Kopf! Ich bin jung, brauche meine Freiheit! Und du bist nur dabei mich die ganze Zeit wegzusperren! Dabei brichst du mich damit nicht mehr! Du denkst ein heruntergelassenes Rollo und das Wegnehmen der Uhren würden mich umhauen und mich unfähig machen, gegen dich zu kämpfen. Aber da hast du dich geschnitten. Ich werde dich besiegen."

„ Es ist so interessant, Unwissenden beim Reden zuzuhören", erwiderte sie lächelnd, während ihre großen Pupillen hin und herschnellten. „ Dabei solltest du dich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wenn du dich mir beugst, wirst du auch Mikey wiedersehen. Du willst ihn doch wiedersehen, oder? Ihr könntet euch aussprechen."

In meinem Kopf läuteten alle Alarmglocken. Sie hatte Mikey? Er war immer noch hier?

„ Wo ist er? Was hast du ihm angetan?", brüllte ich und machte einen Schritt auf sie zu.

„ Es geht ihm, na wie soll ich sagen, den Umständen entsprechend. Aber reden kannst du noch mit ihm."

„ Ich bringe dich in den Knast, du Biest!", weinte ich fassungslos.

„ Dafür musst du mich erst einmal einfangen." Sie zögerte nicht, sondern ließ ab von mir und trat einen Schritt zurück. „ Bitte. Versuche es. Vielleicht bist du schneller als ich." Provokant breitete sie die Arme aus und grinste neckisch.

Ich schnaubte wie ein Stier und rannte auf sie zu, doch sie wich erneut geschickt vor mri aus.

„ Na komm. Das war ja wohl nichts. Versuch es noch einmal!", animierte sie mich und stand vor mir wie eine Statue. Jeder hätte geglaubt, sie schnappen zu können, aber es war eine arglistige Täuschung. Sie wusste genau, wie sie vorzugehen hatten und plante jeden meiner Schritte voraus. Ich wollte mich nicht wieder vor ihr blamieren und war für den Moment ratlos.

„ Was ist? Willst du etwa aufgeben? Gerade warst du doch noch so davon überzeugt mich zu besiegen! Wohin ist jegliche Euphorie?"

Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider. Sie wollte mich erneut aus der Reserve locken und mich wieder verlieren lassen. Ich wollte sie besiegen, das stimmte. Aber nun würde ich mit ihren Mitteln kämpfen. Nur so, konnte ich es vielleicht schaffen.

Ich stand einfach nur da und schaute sie an.

Sie wirkte enttäuscht und legte den Kopf in den Nacken. „ Hast du die Lust an unserem kleinen Paarungstanz verloren? Das kann ich nicht verstehen. Ich habe dich doch so enthusiastisch versucht zu animieren, dein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Du gibst wirklich sehr schnell auf. So hättest du in deinem Leben sowieso nie etwas erreicht. Sei froh, dass ich an deiner Seite bin. Ich zeige dir, worauf es wirklich ankommt."

Ich nahm den Blick nicht von ihr und versuchte mit aller Macht, mich nicht von ihren Worten beeinflussen zu lassen. Sie bemerkte schnell, dass ich mich nicht mehr auf sie einließ und es schien sie zu beunruhigen. Nervös trat sie abwechselnd erst auf das eine und dann auf das andere Bein. Dann mit einem Mal, nahm sie wieder direkten Kurs auf mich zu. Und genau auf diesen Moment hatte ich gewartet. Dieses Mal war ich diejenige, die ihr entwich, eine halbe Drehung machte und meine Chance ergriff. Claire kam nicht so schnell hinterher kehrt zu machen, sodass ich genug Zeit bekam einen Satz auf sie zuzumachen und ihr die Tastatur auf den Hinterkopf zu schlagen. Der Aufprall vibrierte in meinen Armen und fühlte sich furchtbar in mir an. So weit wollte ich niemals gehen. Sofort schrie sie auf und sackte nach vorne. Sie fiel der Länge nach hin und blieb reglos auf dem Boden liegen.

Geschockt ließ ich sie liegen und schritt langsam nach hinten. Ich sah noch einen Augenblick auf sie hinab, ehe ich herumwirbelte und stürmisch die Tür aufriss.

Sobald ich mich auf dem Flur befand, raste ich wie ein gejagtes Kaninchen den Korridor entlang, mit der Erwartung hinter jeder Ecke eine Gefahr auf mich zukommen zu sehen. Immer wieder sah ich mich nach hinten um, aber da war niemand. Jedoch konnte mir Claire schon auf den Fersen sein.

Obwohl mein Kopf randvoll von Gedanken rund um meine Flucht war, hatte ich plötzlich Mikey's Bild vor meinen Augen. Vielleicht war er geflohen, obwohl Claire etwas anderes gesagt hatte. Ob sie die Wahrheit sprach, wusste ich nicht. Was passierte jedoch, wenn ich erfuhr, dass Mikey in ihren Fängen gestorben war? Wie würde ich dann mit der Schuld klarkommen? Zudem wusste ich nicht, in welchem Zustand er sich momentan befand. Ich konnte ihn nicht zurücklassen, falls er noch hier war.

Dabei hatte ich keine Ahnung wo ich anfangen sollte. Mikey hatte mir nie erzählt, in welchem Stock er sein Zimmer besaß und welche Nummer dieses hatte, wenn er sich denn nicht doch woanders befand. Das hieß für mich jedes Zimmer einzeln zu durchsuchen, wobei Claire mich jeden Moment in ihre Fänge bekommen hätte können. Rosemarie war doch sicher auch noch irgendwo. Sie hätte keine Gnade mit mir gehabt und mich direkt ausgeliefert. Ich musste sicher sein, dass er nicht noch hier war, sondern abgehauen war, so wie alle anderen Schüler. Innerlich hoffte ich, dass er längst bei seinen Eltern war und Claire es nur als Druckmittel gegen mich benutzt hatte.

Schnurstracks nahm ich schließlich Kurs auf den Ausgang in der Vorhalle.

„ Hilfe!"

Ich horchte auf. Hatte ich mir das bloß eingebildet? Ich schluckte einmal und blieb ganz ruhig. Es war nichts mehr zu hören, wobei ich nicht genau sagen konnte, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war. Vielleicht drehte ich aber auch nur gerade durch. Mit klopfendem Herzen machte ich noch einen Schritt nach vorne.

„ Hilfe!" Es fuhr mir durch Mark und Bein. Ich hatte mir das Rufen nicht eingebildet! Dort war jemand in großer Not und rief nach Hilfe! Sofort begann ich zu rennen und folgte der Stimme, die immer wieder rief. Es klang nicht nach Mikey, doch wenn es sich nun doch um seine Stimme handelte, fürchtete ich mich schon jetzt vor seinem Anblick. Ich hatte unheimliche Angst davor, aber darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken. Ich musste einfach zu diesem Jungen gelangen.

Ich stürzte in den ersten Stock hinein und lauschte, doch das Schreien war verstummt. Tränen rannen mir bereits aus den Augen.

„ Hallo?", rief ich und ein unangenehmes Echo kam zu mir zurück. „ Ist da jemand?"

Nichts.

Es kehrte die noch beunruhigendere Stille ein, die noch einen Ticken schlimmer war, als das Schreien und mein Echo.

„ Scheiße", zischte ich und machte kehrt, in der Hoffnung das Rufen vielleicht aus irgendeiner anderen Richtung zu hören.

„ Hilfe!"

Ich erschrak. Dort war es wieder! Zwar ganz dumpf und nicht mehr so laut, wie gerade, aber es hatte wieder begonnen und ich meinte, dass es von unten kam und nicht aus einem der vielen Zimmer. Ohne zu zögern machte ich kehrt und jagte so schnell wie ich nur konnte die Stufen wieder hinab bis ins Erdgeschoss. Dabei war ich so schnell, dass jeder Fehltritt zu einem gefährlichen Sturz hätte führen können, doch zum Glück geschah nichts.

Die Stimme rief weiter, sie wurde immer schwächer und verwaschener, war für mich jedoch immer noch gut zu verstehen, was bedeutete, dass ich nicht weit von ihr entfernt zu sein schien.

Ich hatte mich für die rechte Seite entschieden und lief den langen Flur hinunter, vorbei an geschlossenen Klassenräumen, und hatte plötzlich das Gefühl eines Deja Vu's. Noch vor ein paar Stunden hatten sie mich dieselbe Strecke mit sich geschliffen, während ich wehrlos in ihren Armen gehangen hatte und Widerstand zwecklos gewesen war. Nun war ich auf der Flucht vor ihnen und gleichzeitig auf der Suche nach jemandem, von dem ich nicht wusste, wer er war.

Und genau an den Ort des Schreckens von dem ich, Dank Mrs Mars hatte ausbrechen können, gelangte ich wieder zurück. Die Stimme hatte mich bis vor die Krankenstation geführt. Hier stand ich also und spürte meinen Herzschlag unangenehm in meiner Brust pochen.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten, tat ich ein paar Schritte vor und lugte vorsichtig durch das Glas, konnte an der Anmeldung niemandem mehr sitzen sehen. Wahrscheinlichen waren auch alle Krankenschwestern und Lehrer längst über alle Berge.

„ Bitte ... wieso hört mich denn keiner?"

Mein Herz überschlug sich. Nun war die Stimme wieder kräftiger! Sie kam definitiv von der Krankenstation! Ich war meinem Ziel so nah.

Ich höre dich, wollte ich sagen, war jedoch mittlerweile so außer Atem, dass ich nicht sprechen, geschweige denn schreien konnte.

Ich warf mich gegen die Tür und hastete über den Flur, wartete jedes Mal auf ein neues Zeichen der Stimme. Und sie kam immer wieder. Sie war ein Schluchzen, dann ein Wimmern, bis sie endlich wieder schrie und ich stocksteif stehenblieb. Ich war bloß wenige Meter von derselben Zelle entfernt, in der auch ich wegen Ungehorsam gelandet war. Hatte diese arme Seele, das selbe Schicksal wie mich ereilt?

Ich hörte ein Schluchzen, ehe ich es nicht weiter aushielt. Mit einem Mal warf ich all meine Ängste über Bord und ließ sie zu Grunde sinken, als ich nach dem Eisengriff packte und die massive Tür aufzog. Zu meiner Verwunderung ließ sie sich ohne Probleme öffnen. Sie war nicht abgeschlossen, was mich ein wenig aus der Bahn warf.

Ich riss sie auf und fiel von der Wucht beinahe nach hinten.

Sobald ich sie einen guten Spalt geöffnet hatte, um hindurchzuschlüpfen, schaute ich sofort auf und blieb wie angewurzelt stehen. Meine Welt geriet ins Wanken, aber vielleicht war es auch einfach nur mein Kreislauf, der allmählich versagte und meinen Kopf verrückt werden ließ.

Dort lag Riley, mit den Händen an die Wand gefesselt, das Gesicht kalkweiß, die Lippen völlig ausgetrocknet. Er sah aus als wäre er tot.

Ich legte eine Hand vor meinen Mund und weinte nur noch mehr. Von dem lauten aufreißen der Tür, sah auch er zu mir und konnte seinen Augen nicht trauen.

Er wirkte beinahe geschockt darüber mich zu sehen, was mich wiederum verwunderte. „ Madison", hauchte er schließlich so zerbrechlich, dass mir ein Schauer über den Rücken fuhr.

Mein Herz brach, doch gleichzeitig wollte ich nichts mehr, als von ihm wegzukommen.

„ Riley", wimmerte ich und rannte auf ihn zu. In diesem Moment drehte er den Kopf weg, so als würde er sich vor mir verstecken wollen. „ Wie ... ich meine, ... das ..." Zunächst ignorierte ich diese Geste und versuchte einfach nur in Worte zu fassen, was ich dort sah, aber sie fehlten mir einfach. Ich war vollkommen sprachlos über seinen Zustand und konnte nicht begreifen, wie weit Menschen gehen konnte. Er war nur mit einer Boxershorts bekleidet. Meine Fingerspitzen fuhren an seinem Bauch entlang. Er war eiskalt. Wie lange lag er schon so hier? Er war doch aus der Cafeteria geflüchtet!

„ Riley", sagte ich, doch er schaute immer noch nicht in meine Richtung. „ Bitte nicht ohnmächtig werden!", bettelte ich.

„ Wieso bist du noch hier?", fragte er, ohne auf meine Bitte einzugehen. Anscheinend war es grotesk für ihn mich plötzlich vor sich sitzen zu sehen.

„ Wer hat dir das angetan?", ignorierte ich nun seine Frage. „ Oh mein Gott, ich muss ..." Mir verschlug es erneut die Sprache als ich sein tränenverschmiertes Gesicht erblickte, welches er mit einem Mal zu mir drehte. „ Ich muss dich ganz schnell losbekommen, aber wie ... Ich brauche irgendetwas, um dich loszubekommen!" Mit beiden Händen riss ich an den Eisenringen, an denen er mit Kabelbindern festgemacht worden war. Riley hatte mir vieles angetan. Er hatte mein Herz gebrochen und mich am Boden liegend zurückgelassen, aber das hier hatte selbst er nicht verdient.

„ Ich brauche etwas, um dich loszumachen!" Hastig schaute ich mich schon in diesem engen, angsteinflößenden Zimmer um. „ Sag mir, wer war das!"

„ Rosemarie ... ich war schon zusammen mit Vicky draußen, als sie auf mich zukam und mich unter einem Vorwand hierher führte und mich mit irgendetwas betäubte. Es war ein getränktes Tuch ..."

Ich konnte nicht glauben, was er mir da gerade erzählte.

„ Sie wollte gemeinsam mit mir die Schüler von der Krankenstation rausholen. Sie hat erst so ein sorgenvolles Gesicht gemacht ..." Ich konnte es mir bildlich vorstellen und es erschreckte mich, wie knallhart sie weiter vorangegangen waren, ohne Rücksicht auf irgendwelche Verluste.

„ Sie halten uns hier drin gefangen", flüsterte er.

„ Nein." Das wollte ich überhaupt nicht hören. „ Mich halten sie nicht länger gefangen. Und dich auch nicht." Verkrampft sah ich mich um. Wie zum Henker konnte ich ihn bloß von seinen Fesseln lösen? „ Ich werde dich befreien, muss nur noch überlegen wie." Ich klang panisch und verlor fast die Nerven. Warum mussten wir uns im selben Raum befinden? Warum konnte er nicht einfach das Glück haben mit Vicky verschwunden zu sein?

Apropos Vicky. Wo war sie geblieben? Und was war mit all den anderen Schülern?

„ Du solltest fliehen."

Fassungslos unterbrach ich meine Gedankengänge und blickte wütend zu ihm. „ Aber das ... das geht doch nicht." Wieder rüttelte ich an den Ringen. „ Erst rufst du nach Hilfe und jetzt soll ich wieder gehen?"

„ Ich hätte nicht gerufen, wenn ich gewusst hätte, dass du nach mir suchen würdest."

„ Willst du mich etwa nicht sehen?"

„ Nein, das war anders gemeint", beteuerte er mit großen Augen.

„ Dann hör jetzt bitte auf", versuchte ich ihn zu stoppen. Der Gedanke, dass er stumm blieb, nur um mich zu beschützen, tat so unglaublich weh. Dabei waren wir längst durch mit diesem Thema und obwohl ich ihn hasste, wollte ich ihn nicht aufgeben.

„ Da sind Kabelbinder um deine Hände. Ich hole eine Schere, irgendwo werde ich schon eine finden."

„ Willst du von ihnen geschnappt werden?"

„ Claire habe ich schon ausgeschaltet", murmelte ich und kramte meinen Schlüssel heraus. Vielleicht könnte ich mit ihm die Fesseln durchschneiden.

„ Wie? Ich meine, ... wie geht es ihr?"

„ Ich weiß es nicht, okay? Hör auf mich jetzt solche Sachen zu fragen! Ich muss mich konzentrieren!" Ich ratschte ein paar Mal mit der unebenen Seite des Schlüssels über einen der Kabelbinder, doch nichts geschah. Als würde ich versuchen wollen mit einem Blatt Papier eine Melone zu zerschneiden! Das Material ließ sich einfach nicht beirren.

„ Verdammt!", schimpfte ich gestresst.

„ Du solltest besser gehen!", fuhr er mich an.

„ Das werde ich auch, denn ich brauche eine Schere!"

Ohne mich auch noch einmal umzudrehen, stakste ich davon und lief zur Anmeldung hinüber. Und ich hatte Glück. Zwar fand ich keine Schere, dafür aber ein kleines, rotes Klappmesser, welches in einer Stiftedose klemmte. Ich schob den Gedanken beiseite, weshalb es dort überhaupt ein Messer zu finden gab, und steuerte zurück auf die Gummizelle. Bei Riley angekommen, kniete ich mich erneut neben ihn und beschaute mir die Kabelbinder nochmals genauer. Ich musste gründlich überlegen, wohin ich schneiden musste, um sein Fleisch nicht zu treffen.

„ Pass beim Öffnen bitte auf."

„ Ich kann damit umgehen."

„ Ich will nur nicht, dass du dir wehtust."

Unsere Blicke trafen sich, während ich das Messer hervorschnellen ließ. Er war so intensiv, dass mir beinahe schwindelig davon wurde.

„ Ich übernehme keine Haftung für irgendwelche Verletzungen." Ich spürte, dass er mich musterte, ließ mich jedoch nicht weiter darauf ein. Mit zitternden Händen fing ich an, die widerspenstigen Kabelbinder an seinen Handgelenken durchzuschneiden. Als sein rechter Arm frei war, strahlte er schon über das ganze Gesicht, doch die roten, verweinten Augen passten nicht ins Bild. Er sah furchtbar aus.

Ich fuhr mir mit dem Handrücken über mein verschwitztes Gesicht und machte weiter mit seinem linken Arm. Riley winkelte währenddessen seinen Rechten schmerzvoll an. Wie lange er wohl ein und dieselbe Position gehalten haben musste. Ich wusste es nicht und wollte es auch kaum wissen, aber ich musste ihn einfach danach fragen.

„ Das hier erinnert mich an etwas." Ich musste an meinen Überfall auf mich denken. Als Claire mich an meinen Stuhl gefesselt und Riley mir geholfen hatte. „ Seit wann?" Meine Stimme brach und der letzte Binder begann sich bereits zu lösen.

„ Es muss später Abend gewesen sein, als ich so aufgewacht bin," flüsterte er und erneut trafen sich unsere Augen. Ich schniefte unmerklich.

„ Gleich habe ich es." Er folgte meinen Bewegungen. Mein Arm ging hin und her und wieder hin und her. Dieser Kabelbinder war noch störrischer als sein Zwilling.

„ Erzähl mir bitte, was passiert ist. Warum bist du hier?" Ich wusste, dass ihm diese Frage die ganze Zeit unter den Nägeln gebrannt hatte.

„ Claire hat mich in meinem Zimmer eingesperrt. Ich wollte gestern abhauen, als der Feueralarm anfing."

„ Du wolltest abhauen?", fragte er mich geschockt. Ich biss mir auf die Lippe und steckte meine letzte Kraft in meine Arme, um ihn endlich zu befreien. „ Wegen mir?"

„ Du warst der Auslöser."

Fassungslos sah er mich an, ehe sein Blick wieder auf den Binder fiel.

„ Du hast es gleich", flüsterte er freudig. Mit einem lauten Stöhnen riss ich den Binder entzwei und er landete auf dem Boden.

Erschöpft hockte ich vor ihm und sah, wie er sich die roten Handgelenke rieb.

„ Danke", flüsterte er.

„ Du hast bestimmt Durst, oder?", ignorierte ich seine Aussage. Unsere Konversation war bisher nicht wirklich gut gelaufen. Früher war es nie so gewesen und wir hatten niemals die Aussage des anderen ignoriert. Diese Bilanz machte mich unfassbar traurig.

Er nickte, woraufhin ich schon eine Wasserflasche aus meiner Tasche kramte. „ Aber ich könnte es verstehen, wenn du mir nichts geben würdest ..."

Ich wand mich ab von ihm. Meine Augen wanderten durch diese Zelle. Wenn ich mir nur vorstellte, dass sie wahrscheinlich eine Maßanfertigung der beiden Archer-Schwestern war, wurde mir sofort speiübel. Sie erschufen dies, um Menschen darin zu quälen, um sie einer Isolation auszusetzen, die völlig wahnsinnig im Kopf machte. Es war merkwürdig sich ihre irren Gedankenvorgänge auch nur vorzustellen. Waren das Themen, über die man sich austauschte, bevor man eine Schule eröffnen wollte?

„ Hier", sagte ich nur und reichte ihm die Flasche schließlich. Er nahm sie nicht an, weshalb ich zu ihm schaute. Er blickte schuldbewusst drein, ehe er den Kopf sinken ließ und sie beinahe widerwillig an sich nahm. Mit hastigen Zügen trank er die halbe Wasserflasche leer und wischte sich mit dem Handrücken seine feuchten Lippen trocken. Er reichte mir die Flasche wieder zurück, woraufhin ich sie entgegennehmen wollte, jedoch auf Widerstand traf. Verwundert blickte ich zurück und sah ihm in sein wunderschönes Gesicht, was mir mittlerweile so unangenehm vertraut war.

„ Madison."

„ Lass sie los!", forderte ich sofort und zog an ihr.

„ Hey!", rief er zurück, hatte jedoch keine große Mühe sie festzuhalten.

Als ich merkte, dass ich nicht stark genug war, ließ ich von mir aus los. „ Gut, behalte sie doch!" Ich wollte aufstehen, wurde jedoch wieder an meinem Handgelenk zurück zu ihm auf den weichen Boden gezogen.

„ Riley! Lass mich in Ruhe!", schrie ich ihn an und wich vor ihm, wie vor einem Monster, zurück.

„ Madison." Meine Reaktion machte ihn fassungslos.

„ Hör auf damit!"

„ Womit?"
„ Ständig meinen Namen zu sagen!"

Verzweifelt schaute er mich an. „ Wieso bist du hier und nicht draußen?"

„ Ich habe es dir erklärt." Ich versuchte seinen Blicken auszuweichen.

„ Ja, aber du warst auch in der Cafeteria und Claire war nirgendwo zu sehen. Wieso bist du wieder in deinem Zimmer gelandet?"

„ Um meine Taschen zu holen."

„ Taschen?"

Ich seufzte. „ Ich wollte mich bloß von Tira verabschieden, ohne, dass gleich alle mitbekommen hätten, dass ich abhauen würde. Deswegen bin ich danach in mein Zimmer. Claire hat mir vorher ihr okay gegeben und es sich doch anders überlegt."

„ Du wusstest, dass es kein wirklicher Feueralarm war."

„ Natürlich nicht. Ich kenne Claire."

„ Und da gehst du nochmal in dein Zimmer?"

„ Ein Versuch war es wert. Und ich brauchte meine Taschen."

Er schaute zu mir. „ Nun hast du sie auch nicht dabei. Nur diesen Rucksack ..."

„ Ich habe keine Zeit mit dir zu reden. Dazu habe ich viel zu viel Zeit verschwendet. Ich weiß nur, dass wir hier raus müssen." Ich versuchte erneut zu entkommen, doch das Wasser schien ihm neue Kraft gespendet zu haben, als er mir schon auf wackligen Beinen folgte. Trotz seines kleinen Defizits erreichte er mich mit Leichtigkeit. Wieder fasste er mich bei der Hand und ich begann daran zu zerren. Doch je mehr ich mich dieses Mal wehrte, um so mehr geriet ich hin zu seiner Wärme, seinem wunderschönen Geruch, zu seiner Schönheit.

„ Fass mich bitte nicht an!", drohte ich ihm, als ich meine Hand wieder zurückgezogen hatte, als sei sie so heiß wie eine Herdplatte.

„ Ich wünschte, alles wäre anders."

„ Diesen Satz habe ich schon einmal gehört", zog ich ihn gekränkt auf.

Trotz meiner Drohung, riss er an meinen Schultern und drehte mich in seine Richtung. Ich wollte schreien, doch er kam mir zuvor. „ Ich weiß das alles. Und es tut mir leid."

„ Ich wünschte auch, dass so vieles anders wäre und vor allem anders gelaufen wäre! Ich wünschte, mir das erspart zu haben und es tut mir auch leid. Aber nur für mich selbst."

„ Ich weiß, wie weh ich dir getan habe."

„ Wenn du doch so viel weißt, wieso hast du dann alles so unglaublich falsch gemacht? Du hast mir alles gegeben, Riley. Alles was ich je gebraucht hatte, obwohl ich es die ganze Zeit über nicht wusste! Und ich gönne es dir in keinster Weise, dass du das hier und jetzt so von mir erfährst."

Er senkte den Kopf, als würde er seine Schuld gestehen, jedoch war ich noch nicht fertig. „ Du bist nicht mein erster Freund gewesen, aber eines kann ich dir sagen: Ich habe nie ein größeres Arschloch als dich getroffen!" Mir war alles egal. Ich verlor jegliches Benehmen und knallte ihm alles gegen den Kopf, was sich in kurzer Zeit so bitter in mir angesammelt hatte.

„ Madison." Er schüttelte mit dem Kopf. „ Achte bitte auf deine Wortwahl."

„ Ich werde nicht darauf achten!"

„ Das habe ich mir nicht verdient!"

Ich fiel fast aus allen Wolken. „ Und ob du dir das verdient hast, du ignoranter Mistkerl! Ich war zwei Tage da draußen! Du wusstest nicht, was mit mir passiert ist und was machst du? Gehst wieder zu Victoria und machst was mit ihr? Hast sie wahrscheinlich auch noch ge ..."

„ Hör endlich auf damit!", unterbrach er mich.

„ Lass uns jetzt zusammen hier entkommen und uns danach nie wiedersehen, okay?"

„ Das ist also dein Wunsch, ja?"

Ich nickte. „ Das ist der einzige Wunsch, den ich mir jetzt noch erfüllen kann, nachdem alles andere ja nicht funktioniert hat."

Es dauerte einen Augenblick, in dem er seinen Blick nicht mehr von mir nehmen konnte, bis er irgendwann einsichtig wurde und mir nickend zustimmte.

Unser Schicksal war besiegelt, uns gab es nicht länger. Alles was wir für kurze Zeit waren, alles was wir nur in wenigen Momenten geteilt hatten, gehörte der Vergangenheit an.

Es schmetterte mich beinahe nieder, doch ich passte auf, dass ich daran nun nicht kaputt ging. Ich straffte meine Schultern und atmete tief ein und aus, ehe ich aus der Tür hinaus auf die Krankenstation trat.

„ Falls Claire sich wieder bekriegt hat, wird sie auf der Suche nach mir sein."

„ Du wärst längst über alle Berge, wenn du nicht hierher gekommen wärst."

„ Dann hättest du nicht rufen sollen", erwiderte ich wütend. Warum hörte er nicht endlich damit auf?

„ Was hat sie nur vor?", fragte er kleinlaut.

„ Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir hier raus müssen. Sofort."

Da schellte plötzlich ein Handy. Riley und ich sahen uns mit großen Augen an. Wir beide besaßen nicht länger ein Telefon, weshalb es umso verwunderlicher war.

„ Das kommt von da vorne!", rief er und zeigte zur Anmeldung.

Zusammen rannten wir auf den kleinen Tresen mit passendem Bürostuhl zu. Mit schnellen Händen durchwühlte ich alle Akten und Notizblöcke, doch ein Handy war nirgendwo zu finden.

„ Hier ist nichts!", rief ich hektisch als ich plötzlich ein Telefon unter einer Mappe zu greifen bekam. Doch es war stumm. „ Das Telefon hier ist es auch nicht!"

„ Warte ... es kommt ... es kommt hierher!" Riley war auf den gegenüberliegenden Schrank mit vielen kleinen Türen, ähnlich einer Spindkombination, zugehumpelt.

„ Mach sie auf!", befahl ich ihm, woraufhin er sofort begann jedes Türchen schnell zu öffnen. Ich stürzte auf ihn zu und half ihm dabei. Ich hatte unheimliche Angst, dass das Schellen mit einem Mal verstummte. Natürlich wussten wir nicht, wer dort versuchte anzurufen, doch vielleicht konnte es eine Chance für uns sein.

„ Hier ist es!", verkündete er und griff schon in das zweite Facht von rechts hinein. „ Das ist mein Handy!", stellte er verblüfft fest und sah hinab auf das hellerleuchtete Display.

„ Na, geh schon ran!", drängte ich ihn schließlich.

Zögernd schaute er zu mir hinauf. „ Und wenn es Claire oder Rosemarie ist? Die Nummer ist unterdrückt."

Mein Enthusiasmus verschwand für einen Moment, in dem ich überlegte. „ Warum sollte einer von ihnen auf deinem weggesperrten Handy anrufen, wenn du doch gefesselt in deiner Zelle versauerst?"

„ Um genau das hier zu erreichen?", hinterfragte er.

Mit einem Mal wusste ich nicht mehr, was richtig und falsch war. Wir konnten diesen Anruf auch einfach ignorieren, nicht weiter unsere Zeit verschwenden und endlich von hier entkommen!

„ Ja?"

Erschrocken blickte ich auf. Riley hielt sich den Hörer ans Ohr. Er war einfach rangegangen, ohne, dass wir uns vorher nochmal abgesprochen hatten!

Er wartete, als plötzlich eine befreiende Erleichterung in sein Gesicht trat. „ Es ist Vicky", flüsterte er mir zu.

Und obwohl die Wut in mir anfangen hätte müssen zu lodern, verspürte auch ich ein Gefühl der Erleichterung.

„ Noch hier", sagte er abgehackt. „ Ja, sie ist bei mir. Sie hat mich gerade gefunden." Wieder hielt er inne. „ Es ist eine lange Geschichte, ich ... wo seid ihr? Nicht vollzählig? Wer fehlt denn? Brian und Mikey?"

Mein Herz setzte aus. Brian und Mikey waren verschwunden, nicht bei der riesigen Gruppe dabei gewesen? Also hatte Claire recht gehabt. Sie hatte Mikey. Vielleicht auch Brian. Mir wurde kotzübel.

„ Ich hoffe, dass es schnell geht. Vicky, hör mir zu. Nein, nicht weinen, okay? Es geht uns den Umständen entsprechend, aber du musst nochmal dort anrufen und ihnen schildern, dass wir hier nicht sicher sind, hast du das verstanden?", fragte er sie eindringlich, als er seine Miene leidvoll verzog und sich etwas von mir abwandte. „ Ja. Ja, ist gut. Und bitte nicht mehr weinen, ja? Okay, okay, ich melde mich wieder. Ja, du auf dich auch. Ich dich auch. Bis dann." Riley legte auf. „ Sie wurden mit Bussen auf einen Rastplatz gefahren. Sie konnte mir nur nicht sagen, wo er ist. Scheint unbekannt zu sein. Von dort haben ein paar der Lehrer ihre Eltern verständigt, die sie abgeholt haben. Der Rest, deren Eltern so kurzfristig nicht konnten, ist in einem Hotel in Pennsylvania untergebracht worden."

„ Claire meinte, dass sie die Schule aufgeben würde und alle Schüler auf andere Schulen schicken wollen."

Er spielte nachdenklich mit dem Handy in seinen Fingern. „ Dann frage ich mich, was sie mit uns vorhaben. Warum wir noch immer hier sind."

„ Denkst du, sie wollen uns umbringen?"

Er zuckte ahnungslos mit den Schultern. Dann erst erhaschte er meinen wohl verstörten Ausdruck und versuchte mir gut zuzusprechen. „ Keine Sorge. Vicky hat bereits die Polizei verständigt, die sich auf den Weg zu uns gemacht hat." Mit einem Mal verfinsterte sich seine Miene. „ Sie haben gesagt, dass es etwas dauern kann, da die Hauptstraße aufgrund eines Unfalls gesperrt ist."

„ Wieso rufen wir nicht da an? Wir haben doch auch ein Handy!"

„ Claire hat schon seit längerer Zeit die Funktion gesperrt, dass ich jemanden anrufen kann. Dafür kann ich jedoch Anrufe entgegennehmen."

„ Versuch es doch wenigstens!", fuhr ich ihn an.

Er ließ die Schultern sinken, wählte eine Nummer aus und tippte auf den Lautsprecher. Es ertönte kein Freizeichen, es knackte noch nicht einmal. Da war einfach gar nichts!

„ Verdammt", hauchte ich. „ Sie ist uns immer einen Schritt voraus."

„ Bis auf Brian und Mikey waren alle laut Vicky zusammen. Nur wir sind hier. Was mit den anderen beiden ist, weiß ich nicht. Vicky hat der Polizei nur so viel gesagt, wie sie wusste. Dass die Schule evakuiert wurde und ein paar Schüler fehlen und dass sie vermutet, dass diese noch immer dort festgehalten werden. Sie hat versprochen, sofort wieder dort anzurufen, um ihnen mehr Informationen zu geben."

„ Ist sie auch in dem Hotel?"

Riley nickte. Und obwohl die Tatsache, dass uns wirklich Hilfe ereilen sollte, zu wunderbar war, um wahr zu sein, gab es mir in diesem Moment nichts mehr. Meine Gedanken waren nur bei Riley's Worten.

Wer fehlt denn? Brian und Mikey?

Riley hatte sich wieder den Spinden zugewandt und öffnete noch einmal jede Tür. Er wurde immer schneller in seinem Tun, doch auch immer wütender. „ Wo haben sie meine Sachen hin getan?"

„ Mikey ist wirklich nicht da?"

Riley verstand zunächst nicht, ehe er sich zu mir drehte und die letzte Tür wieder schloss. „ Nein, er ... ist nicht dabei."

Gestresst fuhr ich mir durch die Haare. „ Und sie ist sich tausend prozentig sicher?"

„ Warum sollte sie so etwas sagen, wenn sie es nicht genau wüsste? Vor allem wird es den Lehrern auch aufgefallen sein."

Natürlich stand er hinter ihr. Sie war sein ein und alles. Warum standen wir eigentlich noch länger beieinander?

„ Wenn sie alle evakuiert haben und wir noch hier sind ... Ich hatte recht. Sie halten uns hier gefangen. Es fragt sich nur, warum sie das tun."

„ Ich kann jetzt nicht einfach so abhauen! Ich muss zu Mikey. Er ist noch hier irgendwo!"

„ Das weißt du doch gar nicht. Er ist bestimmt entkommen."

„ Nein, er war ein Ziel für sie, weil ich mich um ihn gekümmert habe! Claire hat so was vorhin auch angedeutet, ich ... ich muss ihn finden." Plötzlich stieg die Panik in mir auf.

„ Es ist zu gefährlich weiter nach ihm zu suchen. Wir werden draußen weiter nachsehen, okay?"

Er zog mich schon hinter sich her. „ Aber er braucht mich," weinte ich bereits.

„ Ich weiß und du ihn, aber dafür müssen wir dich aus der Gefahrenzone bringen. Verstehst du mich?" Er schaute sich verstört um. „ Wir müssen jetzt auch gehen, ja?"

Wimmernd nickte ich. Ich wusste nicht mehr was ich denken und fühlen sollte, alles war verkehrt und irrational. Die Situation überforderte mich. Ich musste an die frische Luft, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.

„ Gut." Da kam er schon auf mich zu und griff mit seiner Hand um meine Beine.

„ Nein, das ..."

„ Du bist am Ende, okay? Lass es zu."

„ Du bist selbst zu schwach."

„ Ich schaffe das." Ich war wie benommen und ließ es mir, ohne noch jeglichen Widerstand zu leisten, gefallen. Seine Berührungen passten nicht mehr zu meinen Worten, die ich ihm gerade noch gegen den Kopf geworfen hatte, aber sie waren so unfassbar schön.

Seine Hände gaben mir Halt und entlasteten meine tauben Beine.

Ich legte meinen Kopf an seine Brust und hörte sein Herz darunter schlagen. Behutsam trug er mich aus dem leeren Flur hinaus nach draußen, wo der graue Tag auf uns wartete.

Riley stieg die letzte steinerne Stufe hinab.

„ Bitte, kannst du mich herunterlassen?", fragte ich.

„ Bist du dir sicher?"

Wieder nickte ich nur. Ich durfte nicht zu viele Worte verschwenden, weil ich mich konzentrieren musste. Als ich wieder auf eigenen Beinen stand, nahm Riley mich bei der Hand und wir beide liefen voran. Mikey war immer noch so präsent in meinen Gedanken, dass jeder Schritt in meinem ganzen Körper schmerzte. Wenn er sich wirklich noch dort oben befand, entfernte ich mich nun immer weiter von ihm, ohne dass er auch nur ahnen konnte, dass er verloren wäre.

Ich wollte nicht. Und auf der anderen Seite wollte ich es doch. Ich wollte diese Hand jetzt nicht loslassen, wollte mir für einen Augenblick vorspielen, dass noch alles so war, bevor ich gegangen war. Doch wenn ich sie weiter festhielt, würde mein Herz noch einmal brechen, wenn mir bewusst würde, dass zwischen uns nichts mehr war. Vielleicht hatte Riley aber auch recht gehabt und Mikey hatte es längst aus dieser Schule geschafft. Ich konnte mit ihm aus dieser Schule gehen, so lange wir noch konnten, noch ein bisschen diese Hand halten und es genießen.

Für dein Kind würdest du alles tun.

Durchs Feuer gehen, in das tiefste Gewässer auf dieser Erde springen, dein Leben geben ... alles.

Ich riss die Augen auf und blieb ruckartig stehen. Sofort wurde auch Riley zurückgeschleudert und warf hastig seinen Kopf nach hinten.

„ Was ist los?", fragte er mit schriller Stimme. „ Wir müssen weg von hier!"

„ Ich kann nicht gehen. Nicht ohne Mikey."

„ Du weißt nicht, ob er noch da ist! Die Polizei ist auf dem Weg! Sie werden uns helfen können!"

„ Das dauert mir zu lange."

„ Madison. Sie machen Jagd auf uns! Es wäre Selbstmord da wieder hineinzugehen!"

Ich schaute auf. „ Ich muss es versuchen."

„ Nein", bat er panisch als ich schon versuchte meine Hand aus seiner zu ziehen. Blitzschnell packte er mein Handgelenk mit der anderen und kam mir ganz nah. „ Das kannst du nicht machen, okay? Ich werde nicht zulassen, dass du dort wieder hineingehst!"

„ Es hat dich nicht mehr zu interessieren, was ich tue und lasse."

„ Du bist für mich plötzlich nicht weniger wert, als früher, nur, weil sich meine Gefühle geändert haben."

„ Ich will zu Mikey!"

„ Es ist zu gefährlich!"

„ Er ist mein Kind, verdammt!", kreischte ich, ehe ich schwer ein und aus atmete und gen Boden starrte. Als Riley nichts mehr erwiderte, schaute ich auf und sah wie verstört er mich betrachtete. „ Bitte, geh. Halte Ausschau nach dem Streifenwagen."

Mit einem Mal schaffte ich es und riss mich von ihm los. Taumelnd rannte ich über den Schulhof und steuerte auf den Jungentrakt zu. Es war kein Schüler mehr zu sehen, kein Gemurmel oder Gelächter von Grüppchen, die zusammenstanden und sich etwas erzählten. Diese Stille war gruselig. Ob Claire vor ihrem Besuch bereits mit Rosemarie mit einem Statement vor die Presse getreten war? Vor meinem inneren Auge sah ich bereits ihre unschuldigen Gesichter, hinter welchen sich so viel mehr verbarg. Warum sie so etwas mit uns machten, wusste ich nicht. Sie waren irre, vollkommen gestört und hielten uns in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.

Angekommen vor dem riesigen Gebäude, hetzte ich wie ein wildes Tier hinein.

Innerhalb von wenigen Sekunden, stellte ich fest, dass der Jungentrakt eine exakte Kopie des Mädchentraktes war, was es mir leichter machte mich zurecht zu finden. Sofort nahm ich die Treppen und irrte wie eine Wahnsinnige durch den endlos scheinenden Flur des ersten Stocks.

Ich wusste, dass Claire mir auf den Fersen war. Rosemarie konnte auch hinter jeder Ecke lauern. Ich fühlte mich gefangen zwischen den Wänden und am liebsten wäre ich aus irgendeinem Fenster gesprungen, aber ich musste Mikey finden. Ich hatte keine Ahnung auf welcher Etage er sein Zimmer hatte. Es waren Dinge, über die wir nie zusammen gesprochen hatten, weil sie nicht relevant für unsere Gespräche gewesen waren. Es gab Wichtigeres zu besprechen, wobei ich nie gedacht hätte, dass sich seine Zimmernummer nochmal als so unheimlich wichtig herausstellen würde. Ich durchforstete jedes Zimmer auf der ersten Etage, drückte jede Klinke hinunter und sah durch und durch aufgeräumte Zimmer vor mir. Es war merkwürdig sie so leerstehend zu betrachten, niemand mehr da, der darin lebte. Ich durfte nicht zu lange darüber nachdenken und machte weiter. Als ich die letzte Tür geschlossen hatte, rann mir bereits der Schweiß von der Stirn in mein Gesicht hinein und die Panik in mir stieg immer mehr. Was würde geschehen, wenn ich ihn nicht fand? Womit musste ich dann rechnen? Dass sie ihn verschleppt hatten? Oder ihn umgebracht und irgendwo begruben hatten, wo ihn niemand mehr finden würde? Ich musste aufpassen, mich nicht zu weit hineinzusteigern und einfach meine Arbeit fortzuführen.

Mit ganzer Kraft drückte ich mich gegen die Glastür des Treppenhauses auf der anderen Seite des Flures und rannte weiter hoch in die zweite Etage. Oben angekommen, legte ich meine Hände auf das Glas und spähte hindurch. Ich wollte sichergehen, dass Claire oder Rosemarie, falls sie noch hier waren, nicht auf dem Flur umherirrten. Nach weniger als einer Minute, riss ich an der Tür und begann mein Spiel von vorne, doch es endete erfolglos. Nirgendwo war Mikey zu sehen und ich hatte keine Ahnung, ob ich nicht schon längst in seinem Zimmer gewesen war und einen wichtigen Hinweis außer Acht gelassen hatte.

Nun wartete das dritte Stockwerk auf mich. So langsam geriet ich aus der Puste und mein Herz schlug mittlerweile so schmerzhaft gegen die Innenseite meiner Brust, dass es schwer war, richtig zu atmen. Ich wollte wieder hinaus aus der Glastür, dieses Mal benutzte ich wieder das andere Treppenhaus, als plötzlich jemand hinter dem Glas auftauchte und seine Hände daran legte. Ich schrie so laut auf, dass es in meinen eigenen Ohren schmerzte, doch mein Gehirn kam glücklicherweise schnell hinterher, sodass ich Riley, der mich unfassbar besorgt anschaute, sofort erkannte.

„ Riley", weinte ich beinahe.

Er zog die Tür auf und kam auf mich zugestürzt. „ Madison", hauchte er, völlig fertig mit den Nerven.

„ Ist die Polizei da?"

„ Nein."

„ Du solltest sie doch draußen abfangen!", schrie ich ihn fuchsteufelswild an.

„ Meinst du, ich halte es auch nur für wenige Momente da unten aus, wenn ich weiß, dass du hier oben vielleicht nicht alleine bist?"

„ Du solltest nicht herkommen", flüsterte ich und versuchte mich wieder etwas zu beruhigen. „ Warum ist das noch wichtig für dich?"

„ Ich habe nicht vergessen, was wir beide hatten und du bist jetzt nicht irgendeine Geschichte, die für mich nicht mehr relevant wäre. Ich mag dich sehr, Madison."

Ich wusste nicht, ob mir in diesem Moment eher zum Lachen oder doch lieber zum Weinen zumute war. Er mochte mich. Das war wirklich sehr tröstlich. Was konnte ich mir mehr wünschen? Ich schluckte meine Trauer und die Wut hinunter und schaute mich um.

„ Hier habe ich Mikey nicht gefunden. Im ersten Stock war er auch nicht. Ich habe so eine Angst ... dass sie ihn umgebracht haben." Die Tränen rollten mir dick über die Wangen und ich bekam mich kaum noch ein.

„ Nein, er lebt. Das weiß ich einfach. Die Polizei kann nach ihm suchen."

„ Warum dauert das nur so lange?", schluchzte ich.

„ Wir sollten wirklich lieber draußen auf sie warten."

„ Nein, das kann ich nicht. Und das dauert mir auch alles zu lange! Wir wissen nicht, ob sie ihn irgendwo foltern oder was weiß ich nicht!"

„ Madison, rede dir so etwas jetzt nicht ein, okay?"

„ Ich rede mir das nicht ein! Sie hatten ihn immer im Visier, weil er anders war, als alle anderen Jungs! Mrs Edingburgh wollte ihn züchtigen deswegen! Nein, Riley. Ich werde nach ihm suchen gehen!"

„ Dann werde ich mitkommen." Wir sahen einander an. „ Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Wir werden ihn suchen und finden, okay?"

Je eindringlicher er mich anschaute, desto mehr vertraute ich seinen einfühlsamen, hoffnungsvollen Worten.

„ Okay."

Selbst jetzt rang er sich das letzte bisschen an Lächeln ab, was seine Lippen und sein Herz noch hergaben, und strich mir sanft über meine Wange. „ Nimm meine Hand."

Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm ich sie. Wir mussten ein Team sein, auch wenn ich mich noch so dagegen sträubte. Ich durfte mir nichts vormachen, musste einfach nach ihr greifen und alles ausblenden, was es so schmerzhaft für mich machte. Auch wenn ich es später bereuen würde, aber um Mikey zu finden, wäre ich wahrscheinlich jeden Deal eingegangen.

Gemeinsam nahmen wir das nächste Stockwerk in unseren Beschlag.

Mittlerweile war ich sicher in hunderten von leerstehenden Zimmern gewesen, aber der Anblick wurde nicht besser. Es war merkwürdig, wenn man sich vorstellte, das gestern noch Menschen darin gelebt hatten. Doch sie waren fort von diesem furchtbaren Ort, nur wir waren noch hier und spielten mit unserem Leben. Für mich war es das wert, jedoch wollte ich Riley's Leben nicht aufs Spiel setzen. Obwohl er sich sowieso nicht hätte von dieser Suche abbringen lassen, so lange ich weitermachte. Dabei war ich mir beinahe sicher, dass Mikey hier irgendwo sein musste. Es gab keine andere Option. Dabei wäre es schneller gegangen, wenn Riley oder ich gewusst hätten, in welchem Zimmer er untergekommen war. Doch ich war nie hier gewesen und Riley hatte nicht viel mit ihm zu tun gehabt und wenn, dann waren sie nur auf dem Schulhof zusammen.

Riley und ich öffneten jede Tür, die wir fanden, und flüsterten seinen Namen in jedes Zimmer hinein, doch nie sahen wir einen kleinen, blonden Jungen, der unsere Hilfe benötigte. Jedes Mal wartete und hoffte ich angespannt auf sein zartes Stimmchen, welches uns antwortete, doch vergeblich. Nach der gefühlt fünfhundertsten Tür, merkte ich, wie sich die Tränen in meinen Augen stauten. Ich verlor alle Hoffnung ihn zu finden, malte mir die schlimmsten Dinge aus, wobei ich mit allen Mitteln versuchte, nicht an so etwas zu denken, doch es wollte mir nicht gelingen. Mein Gehirn machte was es wollte.

„ Wie viele Zimmer sind es noch? Ich habe nicht mitgezählt." Geschafft fuhr ich mir durch meine Haare, die mir zerzaust ins Gesicht fielen. Ich musste ausgesehen haben wie eine Verrückte, aber das interessierte mich nicht. Nichts war wichtiger als Mikey und, dass wir dieses Irrenhaus zu dritt schleunigst wieder verließen.

„ Noch siebzig", erwiderte er, während er schon eine weitere Tür öffnete. Er war genauso nervös und angespannt wie ich. Mein Herz raste, doch als ich seine Hand noch etwas mehr+ drückte, gab es mir ein Gefühl der Ruhe. In einer anderen Situation hätte ich ihn längst von mir gestoßen, aber in diesem Moment nahm ich alles was ich bekommen konnte, um ruhig zu bleiben. Und ein vollkommen egoistischer Teil in mir genoss es nebenbei auch noch. Ich musste mich wieder sträuben, wenn die Zeit dafür gekommen war, wobei ich jetzt schon wusste, wie sehr ich leiden sollte.

„ Wir finden ihn", versprach er mir und sah mich eindringlich an, ehe wir den Flur weiter entlangliefen.

Es ging noch eine ganze Zeit so weiter, bis wir an eine Tür kamen, die zuerst nicht zu öffnen war.

„ Sie geht nicht auf", hauchte ich panisch. Ich stemmte mich noch ein paar weitere Male gegen sie, bewegte sie aber keinen Zentimeter damit. „ Riley? Ich kriege sie nicht auf!"

Sofort kam er mir zur Hilfe und warf sich mit seiner Schulter davor, doch es tat sich nichts. Er versuchte es noch einmal, doch wieder bewegte sie sich keinen Millimeter.

Ich presste währenddessen meine Hände gegen den Mund und weinte bitterlich.

Riley versuchte es weiter, wand immer mehr Kraft an und war schon ganz rot und schweißdurchtränkt von der Anstrengung, als er sie plötzlich aufstieß und direkt ins Zimmer fiel.

„ Riley!", schrie ich und kam ihm hinter, als ich erschrocken verharrte. Dieser Raum war anders als alle bisherigen Zimmer, die wir durchforstet hatten. Mein Verstand kam nicht so schnell hinterher, sodass ich einfach nur dastand.

Von der einen zur anderen Wand hing eine pinke Girlande in der Luft. Sie bestand aus lustig geformten Buchstaben, die It's a girl! bildeten. Überall hingen rosafarbene, mit Helium befüllte Luftballons mit weißen Pünktchen, und auch der Teppich und die Bettdecke waren durch einen puderzuckerosafarbenen Stoff ausgetauscht worden.

Zuerst wusste ich damit nichts anzufangen, als ich mit einem Mal Mikey erhaschte und alles einen Sinn ergab.

„ Mikey."

Riley hatte ich kurz vergessen, doch er hatte sich bereits selbst wieder aufgerappelt. Ich stürzte bereits auf Mikey zu und erschrak. Er saß dort, in einem rosafarbenen Rüschenkleid mit weißen Lackschuhen und Socken bis zu den Knien, auf seinem Bett und war mit dem Gesicht gen Fenster gedreht, sodass ich ihn nur von hinten betrachten konnte. Riley schaute verwirrt zu mir und ging voran. Ich folgte ihm langsam und bog um das Bett herum, als er plötzlich mit einem tränenverschmierten Gesicht aufschaute. Seine Wangen waren rot bemalt und auf seinen Lippen war pinkfarbener Lipgloss aufgetragen worden.

„ Mikey", hauchte ich und brach in Tränen aus, sobald sich mir sein Gesicht offenbarte. Es war so voller Trauer und gleichzeitiger Selbstbeherrschung, dass ich mich nicht länger auf meinen Beinen halten konnte. Ohne mich abfangen zu können sackte ich auf meine Knie, direkt vor ihn. Riley hatte noch versucht mich aufzuhalten, doch er reagierte zu spät.

„ Was haben sie mit dir gemacht?", fragte ich fassungslos.

„ Ich muss hier bleiben", erwiderte er nur und starrte hinaus.

„ Was? Nein, du kommst mit uns mit." Meine Hand griff nach seinem Knie, doch er schien es gar nicht zu bemerken.

„ Wir müssen uns wirklich beeilen!", drängte Riley und kniete sich neben mich.

Unsere Blicken trafen sich. „ Wir müssen jetzt wirklich gehen."

„ Ich werde bleiben", erwiderte Mikey nur wieder in derselben monotonen Art wie zuvor.

„ Ich gehe nicht ohne ihn", versuchte ich Riley klarzumachen. Ich sah tausend Sorgen in seinem Gesicht stehen und bekam ein schlechtes Gewissen. Wie sollte ich mich nur entscheiden? Wenn Mikey wirklich nicht mitkam ... nein, wir mussten ihn zwingen. Es ging nicht anders!

„ Mikey, bitte."

„ Ich heiße nicht Mikey." Irritiert schaute ich ihn an, während ich vor ihm hockte.

„ Mein Name ist Valerie."

Mit fehlten die Worte. Zuerst wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte, doch als ich aufschaute, hatte Riley sich schon mit einem verstörten Ausdruck auf seinem Gesicht zu uns gewandt. Anhand seines Ausdrucks wurde mir der Ernst der Lage erst so richtig bewusst.

„ Was erzählst du da für einen Quatsch?", fuhr er Mikey an. Ich wollte Riley zurückhalten, aber die Zeit rannte uns davon. Wir mussten wirklich von hier fort!

„ Du bist Mikey Greenwald! Das ist doch nur eine Verkleidung, die du da trägst! Die macht dich nicht zu einem anderen Menschen! Und schon gar nicht zu einem Mädchen!"

Es war das erste Mal, dass Mikey den Blick hob und zu Riley hinübersah. Er schaute ihn so unergründlich an, als würde er den Ursprung allen Seins in seinen Augen ergründen wollen.

„ Das hier", ich zog am Zipfel seines Kleides, „ hat keinerlei Bedeutung, okay? Das bist du nicht! Das hat dir Rosemarie angetan, oder?" Sie hatte nicht nur Riley auf brutale Art und Weise hierbehalten, sondern auch Mikey. Und das alles nur, weil ich mit ihnen befreundet gewesen war. So langsam erschloss sich mir ihr Plan. Erst hatte Claire alles daran gesetzt, mich nicht auf die falsche Bahn geraten zu lassen, wobei sie dazu beitrug, dass ich genau dorthin steuerte, und als letzte Instanz hatte sie mich dann in mein Zimmer eingesperrt und alle anderen Schüler evakuiert, außer die Menschen, denen ich am allernächsten gestanden hatte, um mich und sie zu verletzen.

„ Komm", sagte ich dann, wollte nach seiner Hand greifen, als er sie auch schon zurückzog.

„ Nein, fass mich nicht an!"

„ Du kannst nicht hier bleiben! Die Polizei kommt bald! Sie wird uns mitnehmen und uns retten!"

„ Aber ich bin doch längst verloren." Mir blieb ein dicker Kloß in meinem Hals stecken. Was redete er da? „ Zumindest hat das Rosemarie gesagt und alles was sie sagt, stimmt. Nur mit ihrer Hilfe kann ich lernen, anders zu werden. Normal. So wie alle anderen. Nie wieder ein Außenseiter, keine Sünden mehr ..."

„ Mikey, du hörst mir jetzt zu!", schrie ich schon beinahe und rüttelte ihn bei den Armen. Ich ertrug es keine Sekunde länger mir diese falschen, verwaschenen Worte anzuhören.

„ Du wirst mit uns mitkommen, egal was du noch sagst, okay? Es ist mir scheißegal, ob es gegen Rosemarie's Wertevorstellungen verstößt! Du wirst mit uns kommen, ist das klar? Und mir ist es scheißegal, ob du noch immer sauer auf mich bist oder sonst was, du wirst hier nicht länger bleiben!"

Der letzte Satz animierte ihn endlich dazu in meine Richtung zu schauen. Nun sahen wir uns in die Augen.

Ich versuchte zu lächeln, doch der innerliche Druck hemmte es etwas.

„ Mikey, du musst auf Madison hören. Ich weiß nicht genau, was da zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber das muss jetzt ein Ende haben. Madison ist einer der ehrlichsten und vertrauenswürdigen Menschen, dem ich je begegnet bin. Du darfst so nicht weiter mit ihr umgehen, das ... hat sie sich nicht verdient."

Perplex sah ich zu Riley. Dass gerade solche Worte aus seinem Mund kamen, war mehr als nur verwunderlich. Ich hatte so etwas also nicht verdient? Und warum hatte er dann so eine linke Nummer mit mir abgezogen? Ich hätte aus meiner Haut fahren können, aber das wollte ich Mikey nicht antun. Er war psychisch sowieso schon vollkommen instabil.

„ Und wenn Rosemarie oder Claire dir etwas sagen, ist das allerwenigste was du tun darfst, ihnen zu glauben. Sie verdrehen die Gehirne der Menschen, nur um sich ihren Vorteil dadurch zu Nutzen zu machen! Dagegen musst du ankämpfen! Sie sollen nicht noch eine unschuldige Seele in ihre Finger bekommen!", ergriff ich wieder das Wort, woraufhin Mikey's Blick wieder auf mir lag. „ Du musst etwas anderes anziehen und dann werden wir los!"

„ Schnell jetzt!", hetzte Riley.

Ich nickte ihm zu und stürzte auf seinen Schrank zu. Schnell griff ich nach einer Jeans und einem Pullover. Ich warf sie Mikey zu, der sie auffing und misstrauisch beäugte.

„ Es sind deine Sachen. Du kannst sie anziehen", erinnerte Riley ihn einfühlsam, wenn auch etwas drängend. Mikey bewegte sich keinen Zentimeter, ehe ich die Initiative ergriff und anfing ihm das Kleid vom Körper zu ziehen. Zuerst wehrte er sich, doch ich kannte kein Erbarmen und machte einfach weiter. Hastig griff ich nach dem T-Shirt, welches ich ihm überstreifte. Das Kleid hatte ich so weit neben mich gelegt, damit er nicht sofort wieder herankam.

„ Ich will das nicht anziehen!", schrie er und wollte mich von sich wegschubsen.

„ HEY!", rief Riley und mischte sich sofort wieder in unser Gefecht mit ein.

Erschrocken landete ich auf dem Boden. Ich tat mir dabei nicht weh, aber ich sah geschockt zu ihm auf.

„ Du ziehst jetzt diese verdammten Sachen an! Wir müssen raus hier! Verstehst du das denn nicht?" Riley wurde lauter und klaubte das T-Shirt wieder vom Boden auf.

„ Haut doch ab!", schrie Mikey wieder und bekam das Kleid zu fassen, welches er fest an sich klammerte. „ Ihr könnt doch gehen! Aber lasst mich endlich in Ruhe!"

Ich war sprachlos, mit meinem Latein völlig am Ende. Riley bemerkte, dass mir allmählich die Ideen ausgingen und schritt ein.

„ Gib das her!" Er machte einen riesigen Schritt auf ihn zu und entriss ihm das Kleid erneut. Doch dieses Mal reagierte Mikey direkt und hielt es so fest er konnte.

„ Das ist meins!", kreischte er.

„ Sie werden uns hören", hauchte ich panisch und krabbelte auf allen Vieren zu ihnen.

„ Dann halt es fest", meinte Riley mit einem Mal gleichgültig und kümmerte sich um seine Hose. „ Einsteigen. Na los. Steig schon ein."

Mikey weigerte sich, doch Riley packte nach seinem linken Bein und stellte es ins Hosenbein hinein. Mikey wehrte sich nicht länger. Es schien an diesem Kleid zu liegen. Er hatte sich beruhigt, weil er es in den Händen halten durfte. In der Zwischenzeit packte Riley auch sein rechtes Bein ein, schloss hastig den Knopf und zog noch Socken und Schuhe über. Aus seiner anfänglichen Aggressivität war nun ein fürsorglicher Vater geworden. Zumindest kam es mir so vor. Mikey schmiegte sich an das Kleid, wie an einen Teddybären. Dieses Bild war abstrus, aber so lange er mitspielte, war mir das erst einmal egal.

„ Was haben sie ihm bloß angetan? Warum ist er so?", fragte ich Riley als Mikey fertig war und er ihn schon Richtung Tür schob.

„ Ich habe keine Ahnung, aber zumindest ist er angezogen. Das ist schon einmal die halbe Miete. Ich hoffe nur, dass sein Kopf noch zu retten ist."

„ Ich habe gewusst, dass etwas nicht stimmt." Es waren jene Mutterinstinkte gewesen, von denen Tira mir einst erzählt hatte, ich aber zu diesem Zeitpunkt nicht genau wusste, was sie damit überhaupt meinte. „ Ich werde mir das nie verzeihen, wenn er nicht mehr der Alte wird."

„ Du darfst dir nicht immer die Schuld an allem geben", schritt er sofort ein und sah mich eindringlich an. Ich wollte, dass er damit aufhörte, doch ich wusste mich nicht mehr zu wehren.

„ An uns gebe ich mir merkwürdigerweise keine Schuld."

Er senkte den Blick. „ Das musst du auch nicht. In keinster Weise. Es sind die anderen. Nicht du."

„ Und ich hätte nie gedacht, dass du auch mal zu den anderen gehören wirst", entgegnete ich und fasste Mikey bei der Hand. Er machte keine Anstalten, weshalb ich ihn einfach hinter mir herzog. Er ließ es sich wie eine willenlose Puppe gefallen, deren Seele man gebrochen hatte. Riley nahm seine andere Hand und wir eilten zusammen aus dem geschmückten Zimmer hinaus.

„ Wo sollen wir lang?", fragte ich, fertig mit den Nerven. Es war eine Qual gewesen, den kleinen Mikey so zu sehen. So verstört und in Mädchenkleidung gesteckt. Er glaubte selbst schon daran, dass er kein Junge mehr war. Rosemarie hatte ihm eine Gehirnwäsche verpasst, doch auch wenn alles noch so schlimm war, ich durfte nicht einknicken. Ich musste jetzt für ihn da sein und durfte die Gruppe nicht gefährden.

Mein Kopf drehte sich in alle Richtungen.

„ Am Ende jeden Flures gibt es einen Notausgang mit Feuertreppe. Wir müssen dort hingelangen." Riley zeigte schon mit dem Finger nach rechts.

„ Das klingt zu einfach", wand ich besorgt ein.

„ Es ist unsere einzige Möglichkeit. Wenn wir es durch den Haupteingang versuchen würden, könnten sie uns bereits erwarten."

„ Und was ist, wenn sie erwarten, dass wir über die Feuerleiter hinunterkommen?", wand ich ein und legte den Kopf schief.

„ Irgendetwas müssen wir ja tun."

Am liebsten hätte ich nun angefangen mit ihm zu diskutieren, aber es war definitiv nicht der passende Zeitpunkt. Wir mussten sofort gehen und nicht noch länger hier herumstehen.

Riley wartete angespannt, was ich als nächstes sagen würde, doch ich sagte nichts mehr. Entschlossen nickte ich ihm einmal zu, während ich Mikey durch die Haare fuhr und er kurz die Augen schloss. Ohne weitere Verzögerungen rannten wir hastig den Flur entlang, auf direktem Wege zu unserem Fluchtweg.

Als wir die Tür erreichten, zog ich sofort wie verrückt an der Klinke und wurde nach hinten geschleudert, da ich gegen einen Widerstand gestoßen war.

„ Madison!", stieß Riley hervor und fasste schon nach meinem Rücken, da er dachte, ich würde zu Boden gehen, doch ich konnte mich im letzten Moment noch auf den Beinen halten. Mikey hatte kurz aufgeschrien und presste nun seine Hände gegen die Lippen.

„ Alles gut", keuchte ich. „ Lass es", drohte ich dann Riley und fuhr mir mit dem Handrücken über meine verschwitzte Stirn, ehe der Schrei in meinen Ohren widerhallte, wobei er längst wieder verstummt war. „ Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Entschuldige, ... Valerie."

Riley sah mich wie ein Auto an und auch ich war etwas verwundert über meine Aussage. Mikey schaute unter dichten Wimpern auf und lächelte leicht. Er glaubte an diesen Namen, wahrscheinlich fühlte er sich sogar wie Valerie. Wenn ich ihn weiter Mikey nannte, konnte es seine Kooperation mit uns gefährden. Und alles was ich wollte, war ihn heil aus dieser Sache hinauszubringen. So lange mussten wir diesem kranken Spiel Folge leisten, um ihn weiterhin bei uns zu behalten.

„ Ist nicht schlimm", erwiderte er unter seinen Fingern und senkte sie wieder.

Ich lächelte beinahe, weil er mir geantwortet hatte. Es gefiel ihm, dass ich ihn bei seinem neuen Namen nannte und ich merkte, dass meine Methode Wirkung zeigte.

„ Das kann doch nicht sein." Riley sah mich irritiert an.

„ Du musst es auch tun. Nur so wird er bei uns bleiben und auf uns hören."

„ Das haben sie ihm angetan."

Ich nickte. „ Ich weiß."

Er biss sich fest auf seine Unterlippe und warf sich noch kräftiger gegen die Tür, als er es wahrscheinlich ohne diesen Zorn, der in ihm aufkeimte, getan hätte. Er hasste alles was mit dieser Schule zu tun hatte. Sie verdarb Menschen, versuchte sie zu formen und zu schleifen, doch alles was danach herauskam, war zerstörtes Material. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Wie Edelsteine, die man versuchte immer besser und besser zu machen, je weniger Kanten, umso glatter und glänzender der Stein, doch wenn man es mit dem Wahn der Perfektion übertrieb, konnte man das schönste Ergebnis ganz schnell wieder ruinieren.

Ernüchternd ließ Riley sich zurückfallen, als auch er bemerkte, dass diese Tür fest verschlossen war.

„ Sie war bisher immer auf, denn das muss sie schließlich, um Menschen in Gefahrsituationen schnell zu evakuieren!"

„ Es sei denn, jemand hat sie von irgendwoher verschlossen", vermutete ich. „ Wahrscheinlich direkt nach ihrem gefakten Feueralarm!"

Da riss Mikey plötzlich die Augen auf und drehte sich herum. Ich folgte seinem Blick sofort und erstarrte.

„ Riley", hauchte ich.

„ Ich weiß, wie sie sich öffnen lässt, wir müssen nur ..." Nun erkannte auch er, was in der Ferne lag, und stöhnte auf.

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