28. Kapitel

Ich wusste nicht, wie ich weitermachen sollte.

Riley hatte mir das Herz gebrochen. Ich war innerlich gestorben. Nur noch meine äußere Hülle war bereit zu leben. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ...

Ich durfte nicht darüber nachdenken, sonst würde ich noch zusammenbrechen.

Wobei. Wen störte es, wenn ich zusammenbrach? Sobald sie mich fanden, würden sie mich wieder in meine Gummizelle sperren und wahrscheinlich dort verrotten lassen. Auch wenn dieser Gedanke so schrecklich für mich gewesen war, nun fühlte ich gar nichts mehr, außer eine alles zerstörende und tief reichende Traurigkeit, die ich mit allen Mitteln versuchte, so lange von mir fern zu drücken, wie es nur ging. Ich wollte sie nicht spüren, wollte keine Schmerzen erleiden. Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Auch wenn ich keine Pläne mehr hatte, die es mit einem klaren Kopf aufzuführen galt, ich wollte es einfach nicht spüren!

Ohne jegliche Ahnung wohin ich nun sollte, wandelte ich draußen wie ein willenloser Zombie umher. Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich nur noch gelaufen war und nicht mehr darauf geachtet hatte, wohin mich der Weg überhaupt führte.

„ Sofort stehen bleiben!", schrie eine Stimme hinter mir und ich machte Halt. Früher wäre ich vor Angst gestorben, doch nun war es mir gleichgültig.

Gehorsam drehte ich mich in die Richtung, aus der der Befehl gekommen war, und sah schon, wie Claire schnellen Schrittes auf mich zukam. Sie schien fuchsteufelswild zu sein. Sicher hatte sie schon nach mir suchen lassen. Ich wusste nicht, mit was ich rechnen musste, wenn sie mich zu fassen bekam, doch ich war nicht in der Lage wieder vor ihr wegzurennen. Riley hatte mir meine Seele geraubt, sie wie ein Handtuch ausgewrungen und in die nächste Ecke geworfen. Er hatte mich gebraucht, er hatte nicht gelogen, nur war ich nicht genug für ihn. Seine große Liebe war Vicky, dagegen konnte ich nicht mithalten. Und als ich verschwunden war, flammte alles erneut in ihm auf.

„ Wie bist du entkommen?", fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen und riss mich an meinem Handgelenk herum. „ Sprich, oder ich schmeiße dich von dieser Schule! Dann kannst du sehen, wo du bleibst, was aus dir wird und wie du deinen Eltern das erklärst! Ich werde dafür sorgen, dass du in der Gosse landen wirst!" Sie drohte mir, jedoch konnte ich nicht antworten.

Ich war fertig mit dieser Welt und diesem Leben. Was hatte ich denn noch? Mein Ruf als unscheinbares, ja eigentlich sogar unsichtbares Mädchen an dieser Schule, war zerstört. Alle wussten von Riley und mir, dass wir uns nah gekommen waren. Claire hatte uns vor der ganzen Klasse bloßgestellt, wobei unsere Liebe nicht mal zwei Wochen gehalten hatte. Es war alles aus, ich war allein. Ich hatte Jim verloren und Vicky als Freundin, auch wenn sie nicht mehr sauer auf mich gewesen war. Jedoch hatte sie sich das zurückgeholt, was einst vollkommen ihr gehört und nur meine Nähe gesucht hatte, weil sie nicht in der Lage gewesen war, es richtig zu lieben. Mikey hasste mich abgrundtief.

Ich war ein Wrack, obwohl ich mich immer herausgekämpft hatte. Nie war ich ganz untergegangen, doch nun erfasste mich die schwarze Welle, die die ganze Zeit nur auf mich gewartet hatte.

„ Ich ergebe mich", flüsterte ich plötzlich und starrte mit einer Klarheit, die übermächtig zu sein schien, geradeaus. „ Mach mit mir was du willst."

Claire schaute mich unergründlich an. „ Was ist mit dir geschehen? Anscheinend wirken deine Medikamente noch immer." Und wieder war es überflüssig etwas zu sagen. Ich war eine Gefangene dieser Schule. Ich kam hier nicht mehr weg.

„ Soll ich zurück in die Gummizelle? Du kannst mich auch von dieser Schule werfen. Und wenn ich schon in der Gosse lande ... Ich werde es schon verkraften." Es war mir alles völlig gleichgültig.

Claire antwortete einen Moment lang nicht, ehe sie an einem der vielen Gebäude hinaufschaute. Ich folgte ihrem Blick nicht, weil es mich nicht interessierte.

„ Nein, das wäre nicht der richtige Weg. Du zeigst Reue. Das gefällt mir. Wenn du nun weißt, wie man sich zu benehmen hat, lasse ich dich hier. Bei uns."

„ Soll ich mich dann fertig machen? Für den Unterricht, meine ich?" In meinem Kopf hallte meine Stimme wider, wie die eines Roboters.

„ Nein. Du brauchst Ruhe. Der Schultag fällt heute aus für dich. Ich muss schauen, wie es dir morgen geht. Vielleicht ist es dann immer noch zu früh."

Ich nickte, ohne damit aufzuhören. Ich konnte nicht mehr fühlen, wann es genug war.

„ Ich lasse dich jedoch nicht in dein Zimmer zurück. Du kommst mit mir mit. Du kannst bei mir unterkommen."

Es war der erste Satz, der etwas in mir auslöste, nachdem ich Vicky und Riley zusammen gesehen hatte. An der Stelle, wo einst mein Herz geschlagen hatte, begann es zu brennen und ich kniff die Augen für einen Moment zusammen. Es schmerzte so unheimlich tief.

„ Bei dir zu Hause?", fragte ich und schaute auf.

Sie schüttelte schon mit dem Kopf. „ Ich wohne doch auch hier. Ich bringe dich in unser Penthouse. Da kannst du etwas schlafen."

Ich wollte nicht mit ihr mit, war jedoch zu schwach, um mich gegen sie zu wehren.

„ Komm", forderte sie mich auf, griff nach meinem Arm und nahm Kurs auf den Mädchentrakt. Sie führte mich durch Gänge und Türen, die ich zuvor noch nie betreten hatte. Es war, als wären dies die Lehrergänge, da kein einziger Schüler auszumachen war. Oder wollte sie nur, dass mich keiner sah? Ich fühlte, dass ich furchtbar aussah. Der Schlaf fehlte meinem Körper, meine Knochen taten weh, weshalb ich nicht richtig laufen konnte, und meine Augen brannten von dem grellen Licht über uns.

Nach gewisser Zeit hörte ich, wie sie einen Schlüsselbund hervorzog, als wir auch schon vor einer weiteren weißen Holztür zum Stehen kam. Wir waren noch ein Stockwerk höher gegangen, wo ich nur acht Türen erkannte, hinter denen sich bestimmt die Zimmer der Lehrerinnen befanden. Claire öffnete sie wortlos und trat mit mir zusammen ein. Es fiel mir schwer, die ganzen Eindrücke auf einmal aufzunehmen, doch in meinem tiefsten Inneren war ich über die Größe der Wohnung verblüfft, die tatsächlich mitten in der Schule existierte.

Es war nicht viel Zeit sich umzuschauen, da es direkt weiter in einen anderen Raum ging, in dem ein großes, blau bezogenes Bett mit einem Nachttischschränkchen und einem riesigen Bücherregal daneben, stand.

„ Willst du irgendetwas ausziehen?", fragte sie mich, ließ meinen Arm los, woraufhin ich schon in mir zusammensackte und auf dem Bett landete. Claire verzog die Miene. „ Diese Frage schien wohl überflüssig. Mach dich bitte ... nicht so schwer." Sie hob meine Beine an und legte sie ebenfalls auf das Bett, dann zog sie mit aller Kraft die Decke unter meinem Körper hervor und legte sie über mich, damit ich nicht fror.

Ich schaute sie eine zeitlang an, konnte kaum fassen, was sie hier für mich tat, wobei wir uns gestern noch gehasst hatten. Ihr Blick fand meinen ohne auch nur etwas zu sagen, als sie plötzlich ein paar Haarsträhnen aus meinem Gesicht schob. „ Du kannst jetzt schlafen. Ich bereite dir einen Tee zu und ein bisschen was zu essen. Wenn du aufwachst, kannst du alles zu dir nehmen. Dann werden wir schauen, wie es dir geht."

„ Ich bin nicht verrückt", flüsterte ich.

„ Ich weiß", erwiderte sie. „ Rosemarie schlägt manchmal über die Stränge. So wie ich. Ich kann das auch gut."

„ Die Spritze."

„ Musste sein. Von allein hättest du dich nicht mehr beruhigt."

„ Doch. Wenn ihr mich nur losgelassen hättet ..."

Sie argumentierte nicht zurück, sondern presste die Lippen aufeinander und lehnte sich ein Stück nach hinten.

„ Kannst du nicht aufhören damit?"

Claire schaute einen Moment zur Seite und kratzte mit den Fingern über die Bettdecke, ehe sie wieder zu mir sah und lächelte. „ Einen Menschen zu verändern ist nicht so einfach, weißt du das denn nicht?"

Oh doch, das wusste ich zu gut. Ich erwiderte nichts, sah sie bloß an und schloss meine Augen. Meine Lider waren inzwischen so schwer geworden, dass ich nicht anders konnte. Sobald ich sie geschlossen hatte, fiel ich auch schon in einen schweren und tiefen Schlaf.

Ich erwachte ohne mich an einen bestimmten Traum zu erinnern. Ich vermutete auch nichts geträumt zu haben. Als ich meine Augen aufschlug, wusste ich zuerst gar nicht, wo ich war. Welchen Tag hatten wir heute? Wie spät war es? Ergab mein Leben noch einen Sinn?

Etwas ängstlich richtete ich mich auf, als plötzlich jemand durch einen Türbogen schritt. Es war Claire. Sie trug ein blaues Kostüm bestehend aus geschniegeltem Blazer und Bleistiftrock. Ihr Haar trug sie offen und in leichten Wellen. Mir fiel auf, dass ich sie noch nie mit offenem Haar gesehen hatte.

„ Du bist wach", stellte sie lächelnd fest und räumte ein paar zusammengefaltete Kleidungsstücke in einen riesigen Kleiderschrank. „ Dann hole ich dir dein Essen. Du bist bestimmt hungrig, oder?"

Eigentlich war ich viel zu verwirrt, um darüber nachzudenken, aber Claire lief schon wieder aus dem Raum hinaus. Nun richtete ich mich noch etwas mehr auf und beschaute mir das Bücherregal. Es rief sich mir allmählich wieder in Erinnerung, als ich es, wie durch eine verschwommene Brille, gesehen hatte. Ich lag in einem riesigen Bett. Auch das sah ich nicht zum ersten Mal. Die Bilder, die mein Kopf irgendwo gespeichert hatte, verschafften sich allmählich einen Zutritt in mein Gehirn.

„ Rosemarie und ich kochen gerne zusammen." Claire befand sich plötzlich wieder im Zimmer und wirkte zufrieden, fast schon erleichtert. Doch warum? Etwa meinetwegen? Sie hatte schon einmal unter unserer Art von Funkstille gelitten. „ Und davon dann aber immer auch reichlich viel, damit es mindestens die nächsten drei Tage reicht. Ich habe noch mehrere Portionen von diesen Schinkennudeln. Das bedeutet, wenn dir das nicht reicht, kannst du gerne einen Nachschlag bekommen. Oh und dein Tee ist mittlerweile kalt, soll ich dir einen neuen machen?"

Ich kam gar nicht so schnell hinterher wie sie sprach. Wie fürsorglich sie doch plötzlich wieder war. Man hätte sich nie vorstellen können, dass sie mich vorletzte Nacht noch aus einem Krankenhaus entführt und mich danach in die hauseigene Gummizelle gesteckt hatte.

Es war alles vergessen, zumindest für sie, als sie schon wieder lächelte. „ Überfordert? Tut mir Leid, das ist für mich auch alles noch ziemlich neu. Ihr Schüler schlaft schließlich in euren eigenen Betten und nicht bei den Schulleiterinnen."

„ I-ich kann auch wieder gehen", sagte ich, als mir bewusst wurde, wie recht sie damit hatte. Mit einem Mal war es mir unsagbar peinlich, obwohl es ja schließlich ihre Idee gewesen war, dass ich nicht alleine bleiben konnte. Claire war nicht meine Mutter und ich nicht ihre Tochter, weshalb ich mich nicht so umsorgen lassen musste.

„ Nein, bleib bitte. Du bist bestimmt immer noch etwas wackelig auf den Beinen. Iss jetzt erst einmal und trink auch dein Wasser. Dann eben keinen Tee."

Sie reichte mir ein Tablett mit dem Teller Nudeln und dem Glas Wasser darauf.

„ Wir haben auch noch Tiramisu im Kühlschrank." Mit dem Daumen zeigte sie über ihre Schulter, obwohl hinter ihr nur eine Wand war. Wahrscheinlich befand sich nebenan die Küche. „ Selbstgemacht, versteht sich. Diese Industrieprodukte sind nicht unseres. Willst du welches? Es ist wirklich sehr zu empfehlen."

„ Musst du nicht die Schule leiten?", fragte ich und ging nicht auf ihre Frage ein.

„ Das kann Rosemarie ganz allein. Sie braucht mich dafür nicht. Ich habe ihr gesagt, dass sie für ein paar Stunden den Mädchentrakt übernehmen soll."

„ Wegen mir?" Ich machte Stielaugen. Rosemarie hasste mich. Das hatte sie mir vorletzte Nacht deutlich zu verstehen gegeben. Claire spielte mit ihren Fingern. Eine Geste, die ich so nicht von ihr kannte. Sie drückte Unsicherheit und auch etwas Angst aus. Vielleicht hatte sie Angst, dass Rosemarie davon Wind bekam, dass sie die verrückte, alle Regeln brechende Schülerin bei sich aufgenommen hatte.

„ Das weiß sie nicht. Wofür auch? Das kann schließlich auch unter uns bleiben."

Ich nickte gedankenverloren. „ Deine Nudeln sind gleich kalt", erinnerte mich Claire und deutete auf den Teller. Um sie nicht noch weiter zu quälen, nahm ich die Gabel und begann ein paar der Nudeln aufzurollen. Schnell schob ich sie mir in den Mund hinein und kaute.

Es schmeckte wirklich köstlich, wobei das Essen in der Cafeteria genauso gut war.

„ Die schmecken ähnlich wie die in der Cafeteria," bemerkte ich und nahm gleich noch eine Gabel voll.

Claire nickte bereits lächelnd. „ Das sind auch alles unsere Rezepte."

„ Wirklich?" Ich war erstaunt.

„ Ja", grinste sie stolz und lief um das Bett herum. „ Wie gesagt, Industrie kann jeder und wir wollen das nicht. Es gibt nichts über frische Lebensmittel und frisch zubereitetes Essen."

Ich lächelte leicht, als ich es jedoch bemerkte, erfror meine Miene wieder und ich sah hinunter auf den Teller.

Claire setzte sich mit den Händen auf den Knien auf meine Bettkante und sah mir beim Essen zu, was es noch etwas komplizierter machte, die Nudeln zu verspeisen.

„ Es ist schön, dass es dir wieder etwas besser geht. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht." Sie presste die Lippen aufeinander. Anscheinend wollte sie nicht über den gestrigen Vorfall sprechen. Ich hörte einen Moment auf zu kauen und stocherte in den bereits wenigen Nudeln herum.

„ Was ihr da mit mir getan habt, dass ..."

„ ... ist unverzeihlich, willst du sagen. Nicht wahr?"

Mit großen Augen schaute ich auf und ließ die Gabel sinken. „ Ja, so ist es. Und damit habe ich auch verdammt nochmal recht. Ihr habt mich aus einem Krankenhaus entführt und mich ruhig gestellt, sodass ich beinahe vierundzwanzig Stunden am Stück bewusstlos war! Dabei war das in keinster Weise nötig!"

„ Ich denke doch, dass das nötig war. Du bist nicht verrückt, Madison. Das weiß ich selbst, aber du warst diejenige, die abgehauen ist. Unsere Pflicht besteht darin, jeden fehlenden Schüler ausfindig zu machen und wieder zu uns zurückzuholen. Wir haben die Aufsicht und Verantwortung für dich, für jeden hier! Meinst du etwa, wir würden es einfach dabei belassen und uns nicht mehr daran stören?"

„ Besser wäre es", flüsterte ich, ohne sie dabei anzusehen. Ich fand mich in diesem Moment ganz schön mutig ihr all meine Gedanken über ihre Vorgehensweisen und die gesamte Situation entgegenzuschleudern. Doch ich hätte nicht einfach nur still dort sitzen können. So war ich nicht. Ich musste mich auflehnen. Unser Verhältnis war sowieso gebrochen, unwiderruflich zerstört. Ich brauchte nichts mehr von ihr, keine Gegenleistung, keine schulischen Unterlagen und auch nicht dieses Bett.

„ Du bist wirklich der Meinung, dass du ohne uns besser dran bist, oder?"

„ Seit wann sind die Schüler euch so wichtig?"

Da sie nicht antwortete, entschied ich mich dazu, nun doch einmal aufzuschauen.

Die Falten auf ihrer Stirn verschwanden. Sie wirkte um Jahre jünger, doch die auflodernde Feindlichkeit in ihren Augen, gefiel mir nicht. „ Das waren sie uns schon immer. Und ich kann dir sagen, dass du nur hier das finden wirst, wonach du schon so lange gesucht hast."

„ Und was soll das sein? Ich kann nichts mehr sehen."

„ Ein Leben, eine Perspektive für deine Zukunft, Menschen mit denen du dich jeden Tag umgeben kannst, sogenannte soziale Kontakte."

Ich seufzte. „ Daran bin ich nicht länger interessiert."

„ Warum?"

„ Da fragst du noch?"

„ Jeder andere in meiner Position, hätte dich längst dieser Schule verwiesen. Ich habe schon oft mit Engelszungen auf Rosemarie eingesprochen, dass wir dich behalten." Also hatte sie über all meine Delikte immer Bescheid bekommen. Hier lief mehr hinter den Kulissen ab, als Riley und ich bisher sowieso schon vermutet hatten.

Riley.

Mit einem Mal war es als würde mein Herz anfangen zu bluten. Alles kam zurück. Jeder Gedanke an ihn und das was passiert war.

„ Und das bedeutet nicht, dass ich dir verziehen habe. Du hast mich erneut sehr sauer gemacht. Ich kann immer noch nicht fassen, was du dir in letzter Zeit alles geleistet hast. Du warst drei Tage fort und bist sogar aus Nummer 223 entkommen. Jetzt musst du mir nur nochmal erklären, wie du das geschafft hast."

„ Mit Glück", erwiderte ich und versuchte die schlimmen Bilder von Riley und Vicky zu verdrängen. Es war kein böser Traum gewesen, sondern die grauenvolle Realität.

„ Oh, davon scheinst du wirklich eine Menge zu haben. Du kannst dich glücklich schätzen, wieder hier zu sein. Wir haben dich wieder in Sicherheit gebracht."

„ Ihr denkt, ihr hättet mich gerettet, doch ihr liegt falsch. Ich habe immer noch einen freien Willen und der sagt mir, dass ich nicht mehr hier sein will."

„ Aber es ist das Beste für dich."

„ Das denkst du vielleicht und meine Eltern auch. Ich habe es nie so gesehen. Irgendwann habe ich es angenommen, weil ich mich doch etwas willkommen gefühlt habe. Das ist jedoch lange her. Alles ... hat sich verändert."

„ Dein Start hier war nicht schön und zwischen uns gab es auch öfter mal Differenzen. Du hast Regeln gebrochen, die nicht hätten gebrochen werden dürfen und Konsequenzen sind nie schön. Eigentlich sind sie dafür da, um denjenigen zu lehren." Sie machte eine Pause und ich schaute erneut auf. Sie wollte nicht das aussprechen, was so offensichtlich war. Ich war was das anging, ihres Erachtens, nicht besonders lernfähig.

„ Es ging nicht anders", redete ich mich heraus und sah wieder hinunter auf den Teller. „ Am Anfang dachte ich, dass ich genau das bräuchte. Eine Klasse, in der ich mich akzeptiert fühlen kann, Lehrer, die mich aufgrund von Fleiß und guten Arbeiten loben, klare Strukturen in meinem Leben, etwas was ich so in meinem bisherigen Leben noch nie hatte! Aber das war alles nur Schein. Ich brauche etwas anderes. Ich brauche meine Freiheit."

„ Und ein Freund beraubt dich nicht deiner Freiheit?"

Ich wusste sofort, worauf sie anspielte und schwieg. Man konnte ihr nicht mehr über den Weg trauen und ich hatte Angst, sie würde ihm etwas antun, wenn ich den Mund aufmachte.

„ Du willst nicht mit mir darüber sprechen. Das verstehe ich. Es ist ein ziemlich peinliches Thema für Menschen in eurem Alter. Aber ... es ist nicht nur das, oder? Ich habe euch vor der Klasse ganz schön ins Schwitzen gebracht. Glaubst du wirklich allen Ernstes, ich hätte von euch verlangt, was weiß ich vor ihnen aufzuführen?"

„ Ich traue dir sehr viel zu. Du hast selbst gesagt, dass du sehr weit gehen kannst."

Claire wollte etwas darauf erwidern, hielt sich jedoch mit einem Mal zurück und schaute unsicher woanders hin. „ Ich wollte dich nur beschützen, aber es ist mir nicht gelungen wie du siehst. Nun sitzt du hier mit einem gebrochenen Herzen."

Zuerst fiel es mir unheimlich schwer ihren Worten zu folgen, doch mit einem Mal sah ich fassungslos zu ihr. Sie wusste Bescheid. Natürlich, wusste sie Bescheid. Sie hatte auf alles ein Auge und deswegen war ihr auch nicht entgangen, dass Vicky und Riley sich wieder angenähert hatten und ich mich deswegen stellte. Sie hatte es die ganze Zeit geahnt, dass ich so enden würde.

„ Ich kann mir auch selbst ein Leben aufbauen, brauche niemanden dafür."

„ Ihr wolltet euch ein Leben aufbauen? Zusammen?" Ich schwieg, da jede Aussage zu einer Konsequenz hätte führen können. Sie jedoch betrachtete mein Schweigen als ein Ja. „ Aber für solche Pläne seid ihr doch noch viel zu jung."

Ich schaute wieder weg, erwiderte immer noch nichts darauf. Sie hatte einfach keine Ahnung. Ich hatte viel durchgemacht. Er auch. Er redete nur nicht so oft darüber. Ich zwar auch nicht, aber anscheinend sah man es mir wohl auf den zweiten Blick an. Wir träumten von etwas Besserem nach alldem Schlechten, aber er hatte es sich anders überlegt, war fort. Und ich war wieder allein. Genauso wie ich es gewohnt war.

„ Du darfst dich nie auf andere Menschen verlassen, sondern immer nur auf dich selbst. Das hat zumindest immer mein Großvater gesagt. Er wusste Bescheid, über das alles. Es war viel leichter gesagt als getan, denn im Grunde macht man sich sein ganzes Leben immer von jemandem abhängig." Sie wurde immer tiefgründiger und ich hätte zu gerne gewusst, von was sie da sprach, von was ihr Großvater gewusst hatte, aber es schien mir zu persönlich, um sie danach zu fragen. „ Sicher wirst du nun bangen, weil ich von Vicky und Riley weiß. Ich weiß von so vielen Dingen und habe bisher nichts getan. Einfach, weil ich mir mein Leben nicht noch schwieriger gestalten möchte, als es ohnehin schon ist. Dann sind sie eben ein Paar. Es interessiert mich nicht, verstehst du?" Ich regte mich nicht, als sie mich eindringlich anschaute. „ Ob du verstehst?"

Eingeschüchtert nickte ich und sah hinab auf meine Hände.

„ Du willst aber immer noch gehen, stimmt es? Jetzt wo sich unsere Wogen wieder geglättet haben und du sogar in meinem Bett geschlafen und gegessen hast? Es ändert nichts an deiner Meinung, oder?"

„ Nein", flüsterte ich. „ Ich möchte noch immer gehen. Ich möchte diese Schule verlassen."

„ Das ist genau das Falsche, Madison! Ich verspreche dir, dass ich dir das beste Leben an dieser Schule verschaffen werde! Ich weiß jetzt, worauf es ankommt. Durch dich kann ich noch so viel lernen! Draußen bist du allein und ... du wirst dein Leben verwirken."

„ Genau wie hier auch."

„ Das ist nicht wahr!", rief sie bestürzt aus und erhob sich vom Bett. „ Was ist mit deinen Referenzen, deinem Abschluss? Willst du alles einfach so hinschmeißen?"

„ Mir ist das Zeugnis egal."

„ Ich spreche nicht nur über dein Zeugnis. Ohne Bildung wird es schwer werden!"

„ Du kannst mir nicht mehr reinreden. Mein Entschluss steht fest. Mich hält hier nichts mehr. Rein gar nichts mehr"

Claire schlug die Augen nieder und konnte nicht fassen, dass sie es nicht geschafft hatte, mich zu behalten. „ Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nie freiwillig einen Schüler verloren." Ihre Faust haute in ihre offene Handfläche und sie biss die Zähne aufeinander. „ Und was ist, wenn ich nochmal mit Mikey spreche und mir irgendetwas einfallen lasse, damit eure Freundschaft wieder aufblühen kann?" Ich hatte mir ja schon die ganze Zeit Gedanken über ihre psychische Verfassung gemacht, aber das setzte dem Ganzen noch einmal die Krone auf. Nach all der Zeit wollte sie nun doch Mikey's und meine Diskrepanzen aus der Welt schaffen, nur damit ich blieb? Vorher hatte sie überhaupt nicht nach meinen Gefühlen gefragt und einfach das getan, was sie für richtig hielt. So wie immer.

„ Ich könnte Vicky von der Schule werfen, sie für irgendetwas bezichtigen. Du könntest Riley wiederbekommen. Das würde dir doch neuen Mut verschaffen hierzubleiben, oder?"

„ Denkst du, es würde alles wieder wie vorher werden, nur, weil du Mikey etwas Unwahres erzählen und Vicky unschuldig von der Schule schmeißen würdest? Denkst du wirklich, dass mich das glücklich machen würde?"

„ Dann sag mir nur was du willst. Du wirst es bekommen."

„ Nur damit ich deine Quote nicht ins Tief stürze. Ich denke, das wirst du verkraften."

Mir wurde die Unterhaltung immer unangenehmer, weshalb ich das Tablett von meinen Beinen schob und die Decke zur Seite schlug.

„ Du willst schon gehen?"

„ Je eher ich gehe, desto besser."

„ Fühlst du dich überhaupt in der Lage dazu?"

„ Mir geht es gut." Auf wackligen Beinen umrundete ich das Bett und klaubte meine Jacke von einem Haken im Flur. Hinter einer ihrer Taschen knisterte es mit einem Mal merkwürdig. Während ich dabei war sie zu öffnen, sah ich hinab auf die zerknüllte Bettdecke und fuhr mit meiner Hand immer weiter über den Stoff. Da löste ich den Knopf und zog ein Stück Papier heraus. Ich brauchte es mir gar nicht lange anzuschauen, als mit einem Mal ein eisiger Klumpen in meinem Magen wuchs. Es war eine Stadtkarte. Mrs Mars hatte mich rausschleusen wollen, sie hatte mich aus der Gummizelle befreit und alles geplant. Sie wollte Claire ablenken, damit ich erneut aus der Schule entkam und eine Polizeistation aufsuchte, da auch ihr eine Kontaktsperre auferlegt worden war. Die Archer-Schwestern sollten mit ihren Machenschaften auffliegen und alles sollte beendet werden! Und wo befand ich mich nun? In Claire's schuleigener Wohnung, der Plan verworfen, meine Kräfte aufgebraucht, um weiterzumachen. Ich hatte mich ihr gestellt, ganz gleich was mit mir geschehen würde und das nur, weil Riley mich verlassen hatte. Ich stopfte die Stadtkarte zurück und hätte am liebsten irgendwo vor geschlagen.

Sicher lebte Mrs Mars immer noch in dem Glauben, dass bald Hilfe kam. Ich hätte ihr so gerne alles erklärt, aber das hätte sie nur wieder verdächtig für Claire gemacht. Ich musste es auf sich beruhen lassen, um sie zu schützen.

„ Ich würde gerne noch duschen und frische Sachen anziehen, bevor ich gehe."

„ Das kannst du hier machen." Sie hatte eine ganze Zeit auf eine Stelle gestarrt, doch sobald ich meine Stimme erhob, erwachte Claire und stand sofort auf. „ Ich habe noch eine Uniform im Schrank. Das Bad ist dort hinten, die erste Tür rechts. Handtücher lege ich dir vor die Tür." Mit vollem Elan steuerte sie auf einen riesengroßen Kleiderschrank zu, der eine ganze Wand für sich einnahm, und begann schon darin zu suchen.

Wenn sie dachte, dass mich ihre Fürsorglichkeit doch noch hierbehalten würde, hatte sie sich wirklich geschnitten. Es war einfach zu viel passiert. Ich passte hier nicht länger her. Ich brauchte etwas Neues, etwas was nicht so weh tat.

„ Das würde ich aber lieber in meinem Zimmer machen."

Sie schloss die Türen ihres Schrankes und ließ enttäuscht die Schultern sinken, ohne sich dabei umzudrehen. „ Bitte, tu mir den einen Gefallen. Nur noch diesen einen."

Ich konnte nicht antworten, konnte mich nicht durchsetzen. Ohne noch etwas zu sagen, machte ich kehrt, doch nicht, weil ich ihr einen Gefallen tun wollte, sondern einfach, um mich nicht mit ihr anzulegen.

Es ging einen schmalen Flur hinunter, der wie die Schulflure sehr steril gehalten und in einem krankenhausweiß leuchtete. Hastig nahm ich das rechte Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Das Bad bestand aus weißen und hellblauen Kacheln. Rechts stand die Dusche. Direkt daneben war eine große Badewanne eingelassen, welche mit zwei Flaschen Duschgel und Shampoo ausgestattet worden war. Ich nahm sie an mich und stellte sie auf dem Boden ab, ehe ich mir unachtsam die Kleidung auszog und einstieg. Ich drehte das Wasser auf lauwarme Temperatur. Es tat gut, wie es auf meine Haut niederprasselte. Für einen Moment schloss ich die Augen und genoss es einfach nur, als ich plötzlich zwei Hände um meine Taille spürte. Ich wollte die Augen nicht öffnen, sondern es einfach nur genießen. Ein warmes Hauchen direkt neben meinem Ohr, ließ meinen Kopf nach rechts fallen.

„ Du bist süß", hauchte er mir mit seidenweicher Stimme zu.

„ Du noch viel mehr", antwortete ich, ohne dass auch nur ein Wort meine Lippen verließ.

„ Ich bin für dich da. Du kannst immer zu mir kommen, ich werde für dich da sein. Hast du dir was getan?"

„ Warum hast du das gemacht?'Ich dachte immer, du wärst anders."

„ Ich gehe jetzt besser."

Nein.

„ Wie soll ich das bloß aushalten?"

„ Schlaf schön." Ein Kuss streifte meinen Kopf.

„ Bitte ...", flehte ich, riss die Augen auf und drehte mich herum.

Das Wasser war das einzige Geräusch, welches mich umgab. Ich sah durch die Glaswände und mir wurde bewusst, dass ich allein war. Riley war hier gewesen, direkt hinter mir, hatte mich berührt, mein Haar geküsst und meine Fragen nicht beantwortet. Alle wunderschönen Sätze hatten sich ins Negative gewendet. Wie sollte ich bloß ohne dieses merkwürdige Lächeln und seine Augen auskommen, die treuer und liebevoller nicht hätten sein können? Ich dachte, ich bräuchte keinen Beschützer, aber er hatte mir versucht etwas anderes einzureden und nun kam ich kaum mehr ohne ihn zurecht. Doch ich musste mein Leben wieder alleine bestreiten. Ich musste mich selbst beschützen. Ich ließ mich nicht allein. Und mir blieb nichts anderes mehr übrig.

Nach einiger Zeit vermischten sich meine Tränen mit dem Wasser, sodass es nicht mehr auffiel. Meine Hand drehte den Wasserhahn schließlich zu und alles verstummte um mich herum. Schnell stieg ich aus der Dusche, nahm die Handtücher und die neue Schuluniform vor der Tür mit hinein und trocknete mich ab. Am liebsten hätte ich es vermieden diese Uniform erneut anzuziehen, aber in diesem Moment war ich froh etwas frisches zum Anziehen zu haben. Als ich fertig angezogen war und die nassen Handtücher über den Badewannenrand gehängt hatte, stand ich noch eine ganze Zeit vor dem Spiegel und kämmte meine Haare so langsam, dass ich es kaum noch mitbekam. Mein Blick hatte sich in dem Gesicht mir gegenüber festgesehen, welches meines im Spiegel war. Ich hatte mich keineswegs verändert, aber ich hatte das Gefühl jemand völlig anderem in die Augen zu schauen. Ich wusste nicht was passiert war, aber etwas hatte sich verändert. Ich schüttelte diesen Gedanken wieder ab, senkte den Blick und lief noch mit feuchtem Haar hinaus.

„ Madison." Claire kam mir so schnell hinterher, dass ihre Stimme bebte.

Ich drehte mich in ihre Richtung. Sie musste die ganze Zeit auf mich gelauert haben.

„ Ich muss jetzt gehen." Das waren auch Riley's Worte gerade in meinen Gedanken in der Dusche gewesen. Ich brauchte meine ganze Kraft auf, um die Tränen wieder zurückzudrücken.

Ich machte auf der Stelle kehrt und sah sie direkt vor mir. Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. „ Sie steht dir so gut."

Sie versuchte mich erneut zu manipulieren. Diese Uniform würde nicht länger zu meinem Leben dazugehören. Ich hatte mich entschieden.

„ Willst du es dir wirklich nicht nochmal überlegen?"

„ Nein, das will ich nicht. Es ist mir egal welche Unmengen an Geld meine sogenannten Eltern für mich ausgegeben haben, um mir angeblich ein besseres Leben zu bescheren. Dann haben sie es also umsonst getan. Und ich weiß auch, dass mich eine 1 Million Dollar Strafe erwartet, aber das ist mir völlig egal. Ich kann einfach nicht mehr."

„ Die werde ich dir erlassen. Du musst sie nicht zahlen."

Misstrauisch beäugte ich sie. „ Warum solltest du das tun? Du müsstest mir nun erst recht damit drohen, damit ich ja hier bleibe."

„ Ich will dir zeigen, dass ich mich ändern kann!"

„ Es hat nur so wenig gebraucht und du knickst ein? Ich hätte nur viel mehr davon überzeugt sein müssen zu gehen? Wieso erst jetzt und nicht schon viel früher?"

„ Das Schulsystem musste mit diversen Regeln ausgestattet werden, um ein vollkommenes Chaos zu verhindern."

„ Claire, ich weiß mehr über diese Schule, als ich vielleicht wissen dürfte! Keiner dieser Regeln hat verhindern können, dass ein Chaos ausbricht. Und das geht so nicht weiter. Bist du dir darüber überhaupt im Klaren? Nicht nur ich bin die Leidtragende."

„ Es wird besser. Wir befinden uns in einem stetigen Vierbesserungszyklus. Der hört niemals auf. Der Erlass mit der Geldstrafe ist doch schon mal ein Anfang!"

„ Du verstehst einfach gar nichts."

„ Madison, du wirst doch nicht etwa rechtliche Schritte gehen, oder?"

Daher wehte also der Wind. „ Deswegen willst du sie mir erlassen! Was war das gerade noch mit Veränderungen?"

„ So war das nicht gemeint!" Sie kam mir noch näher und legte ihre Hände auf meinen Armen ab. „ Es ist nur ein gut gemeinter Rat, es nicht zu tun. Wir haben sehr gute Anwälte."

Sie wollte mir auf Biegen und Brechen zeigen, wie gut sie doch sein konnte, aber das zog bei mir nicht mehr. Ich war fertig mit ihr und dieser ganzen Schule.

„ Morgen bin ich weg von hier", entgegnete ich und entriss mich ihrer Berührung. „ Ich werde jetzt in mein Zimmer gehen und meine Sachen packen."

„ Dann werde ich morgen nochmal nach dir schauen und dich verabschieden."

„ Bitte, tu es nicht. Lass uns so, wie wir jetzt sind, auseinandergehen."

„ Ich werde dir keine weiteren Vorwürfe bezüglich deiner Eltern oder unserem System machen. Ich muss deine Entscheidung wohl oder übel akzeptieren und dich ziehen lassen. Wenn es dein innigster Wunsch ist und ich nichts mehr für dich tun kann, so sind auch mir die Hände gebunden."

Ich sah sie noch eine Weile an, studierte noch einmal ihr Gesicht, in dem ich nichts Vertrautes mehr für mich fand und passierte die Tür mit einem Mal so schnell, wie ich konnte.

Ich hatte meine Beine kaum unter Kontrolle, so schnell wollte ich von ihrer Wohnung entkommen. Sobald ich auf meinem Zimmer war, würde ich packen. Heute würde ich nicht mehr gehen, da war ich mir sicher. Es würde wohl erst morgen so weit sein, aber dann war ich wenigstens vorbereitet und konnte direkt von hier verschwinden. Ich rechnete mit ihrer Stimme jeden Moment hinter mir. Sie konnte mich so schnell wieder zurückrufen und mir doch verbieten zu gehen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto schneller wurde ich schließlich, bis ich irgendwann über den Flur rannte. Ich hatte so ein Tempo drauf, dass ich beinahe in eine Person hineingerannt wäre, die plötzlich um die Ecke geschossen kam. Ich erschrak geräuschvoll und strauchelte bestimmt einen ganzen Meter nach hinten, als ich in die riesengroßen Augen von Mrs Mars sah. Einen Moment herrschte kontinuierliche Stille um uns herum, bis ich mich dazu entschied, einfach an ihr vorbeizulaufen, ohne mich zu rechtfertigen. Ich hatte noch viel zu tun und keine Zeit, um jetzt mit ihr zu diskutieren. Obwohl es schmerzte, würdigte ich sie keines Blickes mehr und machte mich aus dem Staub. Mit jedem Schritt, hoffte ich inständig ihre Stimme nicht zu hören, doch ich hatte die Rechnung ohne Mrs Mars gemacht. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, konnte sie anscheinend nicht mehr an sich halten, als sie schon dabei war mich zu verfolgen.

„ Madison? Madison! Bitte bleib doch stehen! Kind!"

„ Ich habe keine Zeit", warf ich ihr über meine Schulter hinweg zu und verschnellerte meinen Gang noch einmal um das Doppelte.

„ Ich dachte, du bist längst über alle Berge? Was machst du noch hier?" Sie hatte mich bereits erreicht und stolperte verwirrt hinter mir her. „ Haben sie dich wieder gefunden? Madison, rede doch bitte mit mir!"

„ Bitte, Mrs Mars. Lassen Sie mich in Frieden. Ich muss jetzt packen, ja?"

„ Packen? Was um Himmels Willen geht hier vor sich? Bitte, erklär es mir!"

Ich wollte weiter, doch Mrs Mars hielt mich an meinem Arm zurück, sodass ich ruckartig zum Stoppen kam.

„ Bitte, hören Sie auf damit mich festzuhalten! Ich schulde Ihnen gar nichts!"

„ Nein, schulden tust du mir auch nichts, aber wir hatten einen Plan. Erinnerst du dich? Ich habe dich gemeinsam mit Dr. Halliston aus deiner Zelle befreit! Du wolltest zur Polizei, um diesen Wahnsinn hier endlich zu beenden!" Ihr war die Panik deutlich ins Gesicht geschrieben. Es schmerzte tief in meiner Seele dies mitanzusehen, doch ich konnte ihr nicht weiterhelfen. Ich musste nun egoistisch sein und an mich denken.

„ Ich weiß, ich weiß das alles, aber der Plan hat sich geändert, okay? Ich habe das Schulgelände nach unserem Gespräch nie verlassen. Die Umstände haben es nicht zugelassen. Es tut mir Leid."

„ Woran hat es gelegen? Madison, ich bitte dich. Du musst es nochmal versuchen", bat sie mich eindringlich, woraufhin ich schon verneinend mit dem Kopf schüttelte.

„ Nein, niemals! Ich werde nicht noch einmal Claire's Zorn riskieren! Nun habe ich sie so weit, dass sie mich gehen lässt! Ich werde morgen aus diesen Schultoren gehen und versuchen mich nie wieder an das hier alles erinnern zu müssen!"

Mrs Mars ließ ab von meinem Arm, doch ich lief nicht sofort davon. Ich wartete, ob es noch irgendetwas zwischen uns zu bereden gab.

„ Wir können uns nicht selber helfen", begann sie plötzlich.

Meine Fäuste ballten sich immer wieder zusammen und eine heiße, lodernde Wut versuchte über mich hereinzubrechen. Natürlich konnten sie das nicht! Es hätte mich auch gewundert, wenn an dieser missratenen Schule mal irgendetwas funktioniert hätte oder jemand eine Möglichkeit bekam, sein Leben so zu bestimmen, wie er oder sie es wollte!

„ Warum?", wollte ich wissen, sah sie dabei aber nicht an. Ich konnte ihre leidvolle Miene nicht ertragen, die ihr Gesicht sicher trug.

„ Weil sie uns hier festhalten."

Ich riss die Augen auf und geriet ins Wanken. Auch das Lehrpersonal schien strengen Auflagen zu unterliegen, genauso wie wir Schüler.

„ Haben Sie mitbekommen, dass Sie mir helfen wollten?", fragte ich mit einer monotonen Stimme. Obwohl in mir ein Sturm aus tausenden von Emotionen wütete, war ich nicht mehr in der Lage, sie zum Ausdruck zu bringen.

„ Nein, sie dachten, du hättest es irgendwie alleine geschafft. Der kleine Junge auf dem Flur hat nur von dir erzählt und Anna wird es so an Claire weitergegeben haben. Warum lässt sie dich nach so einer Aktion einfach so gehen?"

„ Ich habe mich ihr gestellt und mit ihr gesprochen. Sie versteht meine Standpunkte und hat eingewilligt."

„ Und was ist mit der Geldstrafe?"

„ Sie wird sie mir erlassen."

„ Das passt nicht zu ihr. Sie ist böse, Kind, einfach nur böse. Genauso wie ihre Schwester. Man sollte ihr nicht vertrauen."

„ Ich vertraue sowieso so gut wie keinem mehr. Ich muss also auf ihr Angebot hoffen und beten, dass es wirklich wahr ist. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig."

„ Ich könnte dich hinausschleusen. Jetzt. In diesem Moment. Du könntest es noch einmal versuchen!"

Wir fingen immer wieder von vorne an und blieben auf einer Stelle stehen. Ich konnte das nicht mehr. Keine Idee würde zu irgendetwas führen. Nun hatte ich aber die Chance dem Ganzen endlich zu entfliehen. Wenn ich nun versuchen würde wieder für Mrs Mars zu arbeiten, konnte ich ganz schnell wieder in dieser Schule hier landen. Und es war das Letzte was ich wollte.

„ Nein, Mrs Mars. Hören Sie mir bitte zu. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen und Ihren Kollegen nicht helfen kann. Deshalb wünsche ich mir nur das Beste für sie, aber Sie haben gesehen wozu mein Verschwinden führt. Sie werden mich immer wiederfinden. Morgen verlasse ich dieses Gelände offiziell, dann bin ich frei. Dann können sie mir nichts mehr anhaben."

„ Und was wäre, wenn du dann die Polizeistation aufsucht und ihnen alles erklärst?"

„ Nein", antwortete ich hart. „ Ich will damit abschließen, verstehen Sie mich denn nicht?"

Mr Mars ließ die Schultern hängen. Sie wusste, dass bei mir nichts mehr zu holen war. Ich war durch mit dieser Sache und wollte ein für alle Male damit in Ruhe gelassen werden.

„ Dann bleibt mir nichts anderes zu sagen, als dir ein wunderschönes, neues Leben zu wünschen. Mach etwas daraus und vergiss alles hier für immer."

Ich wäre ihren Worten gerne nachgegangen, aber es fiel mir so unheimlich schwer. Wie sollte ich damit abschließen, wenn ich wusste ihr und den anderen nie geholfen zu haben? Konnte ich so überhaupt weiterleben?

Da hörte ich plötzlich Claire's vibrierende Absätze über den Boden laufen. Jeder Schritt jagte von den Sohlen meiner Schuhe bis in meinen ganzen Körper hinein. Sofort verfiel ich in Panik und wollte so schnell wie möglich von hier fort.

Ich sah Mrs Mars noch einmal an, nahm ihren leidvollen, jedoch liebenswürdigen Blick in mir auf und rannte so schnell davon wie ich bloß konnte.

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