25. Kapitel

Ich rettete mich förmlich in den Wald.

Zwischen Geäst und Laub stolperte ich zunächst noch orientierungslos umher. Ich wollte einfach nur noch fort von hier. Und doch zerriss es mich von innen immer mehr, je weiter ich mich von Riley entfernte. Ich hoffte, dass ihm nichts geschah, sobald Claire bemerkte, dass ich abgehauen war. Ich wollte ihn bei mir haben und nicht im Ungewissen zurücklassen. Ich liebte ihn so sehr und wünschte, ihm es genau jetzt in diesem Moment zu sagen.

Ich schwitzte bereits und hechtete so schnell durch die Bäume hindurch, dass mir bald die Luft zum Atmen fehlte. Doch ich machte unberührt weiter. Ich musste bis zur Straße kommen. Sie war mein Ziel. Von dort aus, würde ich versuchen per Anhalter zur örtlichen Polizeistation zu gelangen. In wenigen Stunden konnte ich schon frei sein. Und Riley auch.

Der Gedanke klang zu schön, um ihm zu vertrauen, aber es war das Einzige, was mir in diesem Moment Mut schenkte und mich vorantrieb.

Der Wald war sehr dicht und ich drohte jedes Mal über einen heruntergefallenen Ast zu stürzen. Ich passte so gut wie es ging auf mich auf, doch dieses eine Mal schaute ich nicht richtig hin und landete im nassen Laub. Keuchend versuchte ich aufzustehen, rutschte mit meinen Beinen wieder weg und knallte erneut auf dem Boden auf. Der Rucksack tat sein Übriges und drückte mich mit seinem ganzen Gewicht noch etwas weiter in den Dreck hinein. Schmerzverzehrt drehte ich mich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Das hieß, ich sah durch die schmalen Lücken der Baumkronen, hinter denen ich ein bisschen Grau erkannte.

Die Angst lähmte meinen Körper hier unten. Ich fühlte mich so verfolgt und so allein gelassen. Es war als würde der Wind durch meine Rippen fegen können. Tränen brannten in meinen Augen, als ich meine Wange in den Dreck drückte. Ich wollte so gerne aufgeben. Es war so verdammt schwer, zu kämpfen. Zu schwer für mich. Ich war kämpfen gar nicht gewohnt. Damals war ich nur meinen Weg gegangen, weil mir nichts anderes übrig geblieben war. Nun jedoch musste ich viele, gefährliche Entscheidungen treffen, immer wieder um liebe Menschen bangen und über mich hinauswachsen auf eine Weise, wie ich es überhaupt nicht wollte. Wenn ich nun hier liegen blieb, würden sie mich sicher bald gefunden haben. Das wollte ich in gar keinem Fall, dabei tat es gerade so gut. Allerdings durfte ich nicht egoistisch werden. Ich tat das Ganze schließlich nicht nur für mich, sondern auch für Riley, Vicky, für Tira und ihr Kind und auch für Mikey, obwohl er mich abgrundtief hasste und meine Hilfe wahrscheinlich gar nicht wollte. Aber ich wollte es und das allein zählte.

Schwerfällig drehte ich mich wieder auf den Bauch, drückte die Arme durch und stand ächzend auf. Meine Hände waren voller Matsch, die Hose und Jacke zerrissen und von meiner Stirn tropfte ein wenig Blut. Das war allerdings nicht halb so schlimm, als Riley und alle anderen im Ungewissen zurückgelassen zu haben. Ich musste mich beeilen, wieder meinem nicht vorhandenen Weg folgen, bis er mich dahin brachte, wo ich hin musste.

Je länger ich rannte, desto weniger wurden die Bäume um mich ringsherum. Sie wurden lichter mit jedem Schritt und verließen mich raschelnd, bis ich irgendwann auf einem Ährenfeld landete. Es glänzte gold in der Sonne und wiegte sich im recht kühlen Wind. Ich konnte mich noch genau an dieses Feld erinnern, als wir auf dem Weg zu dem wunderschönen Geschäft Les vêtements gewesen waren.

Meine Beine trugen mich schneller als je zuvor. Ich rannte und rannte und konnte bald schon die laufenden Motoren hören. Ich war der Freiheit so nah. Hinter dem Ährenfeld würde die Straße beginnen. Ich konnte es kaum mehr erwarten. Jedes Mal reckte ich meinen Kopf etwas höher und sprang zwischendurch in die Luft, um mir Sicht auf das turbulente Stadtleben, welches ich allmählich aus der Ferne hören konnte, zu verschaffen, aber es ließ lange auf sich warten. Dafür war der Moment, als ich es entdeckte, zu schön um wahr zu sein. Mir rutschte mein Herz förmlich in die Hose und ein unkontrolliertes Lachen verließ meine Lippen. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt. Autos, Menschen, Leben.

Auf unserer Rückfahrt damals hatte ich diesem Gefühl nachgeweint und keinen blassen Schimmer gehabt, wann ich es wieder erblicken würde. Nun war es so weit und es fühlte sich so unfassbar gut an. An der Straße angekommen warf ich meinen Kopf nach links und wieder nach rechts. Für einen Moment war ich planlos. Ich wollte per Anhalter fahren, doch nun bekam ich ein wenig Angst davor. Was, wenn es nach hinten losging? Riley hätte mir hundertprozentig davon abgeraten, da ich vorher nie wissen konnte, bei wem ich landete. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Mit den Busverbindungen kannte ich mich hier nicht aus und konnte auch keine passenden Routen googeln, da Claire noch immer mein Handy in ihrer Gewalt hatte. Wenn ich lief, würde es zu lange dauern. Per Anhalter zu fahren war das leichteste Fortbewegungsmittel, was es momentan zu Auswahl gab. Ich musste es versuchen. Also streckte ich meinen Daumen aus und sah verzweifelt in jedes Auto hinein. Doch kein Einziger von ihnen erbarmte sich mir gegenüber. Alle fuhren stur an mir vorbei, als würden sie mich gar nicht sehen. Dabei konnte ich es ihnen noch nicht einmal verübeln. Die Menschen waren skeptisch bei jemand Fremdes, der einfach so von ihnen mitgenommen werden wollte. Ich konnte es verstehen, hätte es wahrscheinlich auch nicht gemacht, ohne mir den oder diejenige genauer anzuschauen.

Nachdem ich sicher fünfzehn Minuten dort gestanden und mich zum Deppen gemacht hatte, während immer wieder hupende Autos an mir vorbeibrausten und ich einigen jungen Männern zur Belustigung diente, reichte es mir. Wütend ließ ich den Arm sinken und machte kehrt. Ich stampfte davon, meine Beine so schnell, dass ich sicher über ein noch so kleines Steinchen gestolpert und wieder hingeflogen wäre. Das hätte dem Ganzen natürlich nochmal die Krone aufgesetzt und ich wäre wirklich das Gespött des heutigen Tages gewesen, aber ich konnte in diesem Moment nicht anders. Ich musste laufen. Immer weiter laufen. Ich hatte zu viel Zeit vergeudet, sie beinahe einfach verschenkt, so als hätte ich genügend von ihr. Dabei war sie ein kostbares Gut für mich und nur in raren Mengen verfügbar. Ich war ja so töricht mit ihr umgegangen.

Plötzlich, so in Gedanken versunken, hupte es einmal. Ich zuckte zusammen und schaute zu einem Auto, welches direkt neben mir zum Stehen gekommen war.

„ Nein, danke!", rief ich und nahm meinen Weg wieder auf.

Doch es hupte noch einmal. Dieses Mal ließ ich mich jedoch nicht nochmal darauf ein und schaute einfach nicht mehr hin. Diesen Weg konnte ich auch alleine bestreiten. Es würde zwar etwas länger dauern, aber ich ließ mich sicherlich nicht noch einmal veräppeln.

„ Hey!"

Das Rufen brachte mich zum Stoppen, obwohl es mit das Letzte war, was ich wollte.

Ich drehte meinen Kopf in die Richtung des silbernen Mercedes', wie ich jetzt erst erkannte. Die Beifahrertür stand offen. Ich lugte etwas mehr in das Innerste des Autos hinein, als ich mit einem Mal zurückwich und spürte, wie mein Herz stehenblieb.

„ Emma ..."

„ Steig schon ein!", forderte die Stimme, die ich in schlechter Erinnerung behalten hatte.

Geschockt schüttelte ich schon kräftig mit dem Kopf und dachte gar nicht lange nach. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte davon. Doch Emma blieb hartnäckig und fuhr weiter neben mir her, die Tür noch immer offen.

„ Komm schon, Madison! Du willst nicht wirklich hier draußen umherirren, während sie dir doch längst auf den Fersen sein könnten!" Ihre Worte verursachten eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Es schien als wüsste sie über alles Bescheid und das machte mir furchtbare Angst!

„ Madison!"

„ Lass mich in Frieden!", schrie ich, ohne sie dabei anzusehen. Ich konnte diesen Anblick nicht ertragen. Wenn ich sie sah, dann sah ich auch die Stoffpuppen, das Messer und den rot durchtränkten Teppich. Sie war in mein Zimmer eingebrochen, während ich schlief und hatte mir angedroht, mich fertig zu machen. Emma hatte mir einen Mord angehängt, bis Claire schließlich dahinterkam und sie einweisen ließ. Doch warum war sie wieder auf freiem Fuße? Es war zwar einige Monate her, aber so einen Irrsinn konnte man doch sicher nicht so schnell wieder heilen!

„ Ich weiß, was du von mir hältst!", rief sie und machte eine kurze Pause. „ Und das kann ich dir auch nicht verübeln! Aber trotzdem: Steig ein!"

„ Du spinnst doch wohl komplett! Ich rufe eine zuständige Psychiatrie an, aus der du wahrscheinlich ausgebrochen bist!"

Sie lachte schallend. „ Und mit welchem Handy?"

Ich spürte wie ich blass wurde. Sie wusste, wie der Hase lief.

„ Ich kriege dich schon irgendwie dran."

„ Bevor du dein Glück versuchst, solltest du aber wirklich einsteigen! Ich kann dir einiges erklären. Erwarte nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Ich habe ein paar Infos die dir vielleicht helfen könnten. Und es ist alle Male besser neben mir zu sitzen, als von Claire geschnappt zu werden. Siehst du das nicht genauso?"

Für den Hauch eines Moments verharrte ich in meiner Position und dachte über ihre Worte nach. Was, wenn sie es ehrlich meinte und mir wirklich etwas Brauchbares liefern konnte? Sie konnte es jedoch genauso falsch meinen und mich auf direktem Wege wieder an Claire ausliefern. Emma hätte allen Grund dazu gehabt. Wegen mir waren ihr so viele Dinge passiert, zumindest hätte sie sich so etwas in ihrem kranken Hirn ausmalen können. Erst brachte ich ihrer Meinung ihren Freund um, woraufhin sie in der Anstalt landete, weil ich mich über sie beschwert hatte. Wobei Claire das nur durch einen blöden Zufall mitbekommen hatte.

„ Denkst du wirklich, ich würde dir vertrauen? Nach allem was geschehen ist?"

Sie zuckte mit einer Schulter. „ Ich versichere es dir. Entscheide du. Was möchtest du glauben?"

„ Ich glaube daran, dass ich es alleine schaffen kann, sie zu Fall zu bringen."

„ Aber wie lange wirst du dafür brauchen? Zeit ist etwas sehr kostbares, vor allem an dieser Schule. Und vergiss dabei nicht Riley. Es ist sehr gefährlich für ihn."

Sofort hatte sie meine volle Aufmerksamkeit und ich kam zum Stehen.

„ Paare haben es nie leicht an dieser Schule."

Sie machte mich stutzig mit dem was sie sagte. Woher wusste sie von Riley und mir? Sie hatte lange vor unserer Zeit die Schule verlassen. Außerdem waren Riley und ich zwar von Claire vorgeführt worden, aber warum sprach sie in der Mehrzahl? Ich wollte mehr darüber erfahren. Vielleicht war sie einer der Schlüssel, der mich letztlich doch noch zu meinem Ziel führen würde.

„ Wenn du nicht langsam mal anmachst, habe ich gleich jemanden auf der Stoßstange sitzen!", setzte sich mich unter Druck.

Ich ließ es mir nochmal schnell durch den Kopf gehen, traf einen Entschluss und warf alle Ängste und Sorgen über Bord und sprang zu ihr auf den Beifahrersitz. Hastig schlug ich die Tür zu und sie brauste los. Sofort umgab mich ein Geruch von Lavendel und Duftbäumen.

„ Okay, welcher alten Dame hast du dieses Auto gestohlen?"

„ Wieso fragst du mich so etwas?" Dafür, dass es ein Tempolimit gab, bretterte sie ganz schön über die Straße. Als ich sie mir genauer beschaute, fiel mir direkt auf, dass sie viel besser aussah als damals in der Schule. Natürlich war sie dort schon ein Hingucker gewesen, aber nun war sie noch perfekter. Ihr geflochtenes, braunes Haar war einer blond gefärbten Wuschelmähne gewichen. Dazu trug sie eine weiße Bluse und eine hautenge dunkelblaue Jeans.

„ Der Geruch."

„ Es riecht hier also nach alten Omas? Ich verstehe, Madison. Ich verstehe. Woher weißt du denn, wie alte Damen riechen? Hast du damals in einer Einrichtung ihre Bettpfannen gesäubert?" Sie war ziemlich direkt. Sofort war alles wieder da. Dieser eisige Blick, den sie mir gegenüber aufgesetzt hatte, als sie mich des Mordes beschuldigt hatte, erschien erneut vor meinem geistigen Auge und lähmte meinen Körper. Die Natur, das Stadtleben, es flog alles an uns vorbei und ich überlegte wirklich, ob es die schlauste Idee gewesen war, zu ihr ins Auto zu steigen.

„ Was ist? Habe ich dir die Sprache verschlagen?" Ich schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust. „ Hast du keine Fragen an mich?"

„ Würdest du sie mir denn beantworten?"

„ Das kommt ganz drauf an, was du mir für welche stellst. Lassen wir uns überraschen."

„ Verfolgst du mich?"

„ Warum? Weil ich zur gleichen Zeit am gleichen Ort bin wie du?"

Ich zögerte kurz. „ Zum Beispiel."

„ Nein, ich verfolge dich nicht."

„ Und woher weißt du dann von Riley und ..."

„ ... und dir? Ich weiß von ein paar Dingen, die mir glücklicherweise nicht vorenthalten wurden."

„ Also gab es jemanden, der dir alles erzählt hat?"

„ Wohin möchtest du? Wir fahren dorthin, wo du willst", erwiderte sie bloß kurz, den Blick immer nach vorne auf die Straße gerichtet. „ Du bemerkst, es war keine Frage, auf die ich gewartet habe."

Mit großen Augen starrte ich aus dem Fenster und überlegte mir meinen nächsten Satz. Alles konnte richtig und falsch sein.

„ Ich muss zur Polizeistation."

„ Du willst sie wirklich dran kriegen, oder?"

„ Lass das einfach meine Sorgen sein und bring mich dahin."

„ Gut, aber auf unserem Weg möchte ich Fragen hören." Sie ließ wirklich nicht locker. Ich hatte nie jemanden getroffen, der so gerne ausgehorcht werden wollte, wie sie.

„ Welcher alten, reichen Dame hast du dieses Auto gestohlen? Wird schon nach dir gefahndet?"

Erstaunt riss sie die Brauen in die Höhe und lächelte schief. „ Erst muss man so lange betteln und plötzlich stellst du gleich zwei Fragen auf einmal."

Ich seufzte und sah wieder aus dem Fenster. Wahrscheinlich würde ich hier nicht weiterkommen.

„ Ich habe dieses Auto nicht gestohlen." Nun horchte ich wieder auf. Sie beantwortete meine Frage tatsächlich.

„ Nur geborgt?"

„ Es gehört mir."

Misstrauisch sah ich zu ihr hinüber. Ich wusste nicht, inwiefern sie die Wahrheit sprach. Jedoch musste ich mich mit dem begnügen, was sie mir gab.

„ Warst du wirklich in einer Irrenanstalt?"

„ Ich war dort." Dieses Geständnis schockte mich zutiefst. „ Aber nicht lang, weil ich nicht so bin, wie ich dargestellt wurde."

„ Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen."

„ Weil ich in deinen Augen völlig wahnsinnig schien?"

Ich stockte. „ Ich weiß es nicht. Bist du es denn?"

„ Nicht wahnsinnig nein, etwas ... verwirrt, aber nicht wahnsinnig."

„ Du hast mir einen Mord unterstellt!"

Sie schüttelte mit dem Kopf. „ Nein."

„ Natürlich! Du standest direkt vor mir und hast es mir ohne jede Furcht ins Gesicht geschleudert!"

„ Das ist nicht wahr", sagte sie wieder und umgriff das Lenkrad etwas fester.

Sie bereitete mir Kopfschmerzen. Konnte sie sich bloß nicht mehr daran erinnern, oder lebte sie in einer anderen Realität?

„ Wie lange dauert es noch? Kennst du dich hier aus?"

„ Eine halbe Stunde, vielleicht ein bisschen weniger, aber die Straßen sind sehr voll."

„ Wo lebst du nun?"

„ Ab morgen ziehe ich nach England, Glasgow um genau zu sein."

Ich machte Stielaugen. „ Wieso so weit?"

„ Je weiter weg, desto besser."

„ Etwa wegen Claire?"

Sie spitzte bloß die Lippen und sagte nichts darauf.

„ Nicht jede Frage wird beantwortet. Ich verstehe."

„ Relevante Fragen werden jedoch beantwortet."

Ich seufzte. Meine Hand fuhr sich geschafft durch mein Haar. Diese Bewegung löste wieder dieses unangenehme Ziehen in meinem Bauch aus. Ich verzog das Gesicht und fasste nach der Stelle, unter der es brodelte. Eine Magenverstimmung konnte ich mir jetzt überhaupt nicht leisten.

„ Woher ..." Eine Übelkeit kam über mich, die ich jedoch versuchen musste vor Emma zu verbergen. „ Woher soll ich wissen, welche Fragen für dich relevant sind?"

„ In dem du mir mehr stellst. Deine Zeit ist begrenzt. Das ist deine letzte Chance Dinge zu erfragen, die du vielleicht so nicht mehr erfahren wirst."

Sie machte mich wirklich ratlos. Von welchen Dingen sprach sie da?

„ Wie war die Einrichtung in der du warst?"

„ Du kannst die Spannung wirklich ziemlich niederdrücken." Ihre Stimme klang gelangweilt von mir. Langsam wurde ich sauer. Woher sollte ich verdammt nochmal die Fragen wissen, die sie hören wollte und bereit war zu beantworten?

„ Was willst du von mir hören? Dass ich dich frage, ob du glaubst, unschuldig in der Anstalt gesessen zu haben, während das Leben an dieser Schule seinen normalen Gang weitergelaufen ist?"

„ Zum Beispiel", zitierte sie mich und machte mich kurz sprachlos. Das war genau die Frage, die sie hören wollte? Das konnte doch nicht sein.

„ Ich bin unschuldig."

„ Aber du hast schlimme Dinge getan. Du bist in mein Zimmer eingebrochen, während ich geschlafen habe und dann hast du den ganzen Boden mit dieser roten Flüssigkeit durchtränkt und diese Puppen vor meinem Bett drapiert ..."

„ Das stimmt nicht!"

„ Okay, ich habe nicht gesehen, dass du es warst, aber dafür Riley! Er hat dich beobachtet, als du aus meinem Zimmer kamst!"

„ Du verstehst so vieles nicht, wobei es dir doch wie Schuppen von den Augen fallen müsste!"

„ Was verstehe ich nicht?"

„ Du musst selbst dahinterkommen."

„ Okay, weißt du was? Das Ganze hier bringt mir nichts! Es verwirrt mich nur noch mehr! Du willst mir Antworten geben und setzt mich gleichzeitig unter Druck, wenn ich dann aber etwas frage und du etwas darauf erwiderst, bekomme ich nur karge Bruchstücke, die mir nur etwas bringen, wenn ich die ganze Wahrheit kenne, welche ich jedoch nicht imstande bin herauszufinden, weil mir, wie du auch schon selbst gesagt hast, keine Zeit mehr bleibt!" Ich keuchte und bereute meine Entscheidung tatsächlich eingestiegen zu sein. „ Bitte, lass mich aussteigen."

„ Nein, noch nicht. Es ist noch ein ganzes Stück bis zur Polizeistation und es ist zu riskant für dich draußen frei herumzulaufen!"

Ihre Art zu reden strengte mich an. Verzweifelt rieb ich mir die Augen und schaute auf. Da waren sie wieder, diese unspezifischen Bauchschmerzen. Sicherlich musste ich etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich hatte seit gestern Mittag das letzte Mal etwas gegessen.

„ Ich weiß, es ist alles schwierig für dich. Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut, aber mit dem was du nun weißt, kannst du sicher arbeiten. Du bist nicht auf den Mund oder den Kopf gefallen." Wollte sie mir durch die Blume hindurch etwa ein Kompliment machen?

„ Das Problem ist, dass ich gar nichts weiß", erwiderte ich zornig. Das wäre unsere Möglichkeit gewesen Klartext zu sprechen. Sie hätte mir wirklich helfen können, aber wahrscheinlich war das nie ihr Vorhaben gewesen. Sie hatte mich schon mehrere Male fertig gemacht und hatte es nun schon wieder geschafft.

„ Kennst du diese kleine Bar, eine Art Holzhütte direkt auf diesem Weg? Bitte setz mich dort ab, ich möchte mich vorher noch etwas stärken, bevor ich zur Polizei gehe."

„ Es gibt noch einen anderen Ort."

„ Also kennst du sie nicht?"

Sie antwortete nicht.

„ Oder etwa doch?"

„ Sie hat nicht den besten Ruf. Ich sollte dich woanders herauslassen."

„ Nein, das ist schon in Ordnung. Bitte, ich will aussteigen."

„ Es gibt aber ein Cafe, nicht weit von hier, mir wäre es lieber, wenn ..."

„ Du lässt mich jetzt an der Bar aussteigen, oder ich garantiere für nichts." Es schien als hätte ich mich selbst nicht mehr unter Kontrolle. In Windeseile hatte ich meinen Zimmerschlüssel gezückt und drückte ihn in ihren Hals hinein. Sie versteifte und schaute mit einem Mal ängstlich drein. Es war ein Gefühl der Genugtuung sie auch einmal ängstlich zu sehen. So konnte sie endlich erfahren, wie es sich anfühlte.

„ Was hast du vor? Mir den Schlüssel in den Hals zu rammen, falls ich dich nicht hinauslasse?"

„ Ich würde es nicht riskieren, Emma."

Sie schluckte einmal schwer, ehe sie einwilligte. „ Na gut, Wie du möchtest."

Die Fahrt über redeten wir nicht mehr. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, ehe ich die Bar von Weitem schon ausmachen konnte. Sie lenkte das Auto an den gegenüberliegenden Straßenrand und zog die Handbremse an.

„ Bist du sicher?"

„ Ich werde Claire anzeigen."

„ Das meine ich gar nicht. Ich meine, diese Bar." Sie neigte den Kopf in ihre Richtung.

„ Ich habe schon Schlimmeres überstanden." Ohne sie noch einmal anzuschauen, nahm ich den Schlüssel fort, stieg aus und wollte die Tür schon zuschlagen, als sie sich nochmals zu mir hinüberlehnte und meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„ Madison, du musst wissen, dass ich das hier für dich getan habe, weil ich nicht möchte, dass Riley und dich dasselbe Schicksal ereilt, wie mich und Steven." Sie biss sich kurz auf die Unterlippe und kratzte mit ihren Nägeln über den Beifahrersitz. „ Auch wenn wir getrennt waren und er sich anderweitig umgeschaut hat, meine Gefühle für ihn waren immer noch da."

„ Es tut mir wirklich leid, Emma. Und ich kann dir versichern, dass ich auch noch immer um ihn trauere und ich nicht an seinem Tod schuld bin. In keinster Weise."

Sie schlug die Augen auf und lächelte leicht. „ Ich weiß."

Dieser Satz verblüffte mich zutiefst. Sie wusste, dass ich unschuldig war? Warum hatte sie es dann damals darauf ankommen lassen, dass ich angeklagt wurde?

Langsam entfernte ich mich von ihrem Wagen, unsere Blicke ineinander verschlungen. Ich rechnete fest damit, dass ich diejenige war, die ihn unterbrechen würde, doch sie kam mir zuvor. Sie zog den Kopf zurück und ließ den Motor an. Ich kam gar nicht so schnell hinterher, wie sie davonfuhr und ich irritiert zurückblieb. Ihr Auftauchen hatte mehr Chaos in meinem Kopf angerichtet, als überhaupt schon darin herrschte. Die ganzen neuen Informationen mussten erst mal sacken, bevor ich beginnen konnte, sie einigermaßen zu ordnen. Ich ließ Emma und dieses Gespräch vorerst hinter mir, straffte die Schultern und nahm all meinen Mut zusammen. Nachdem sie merkwürdig auf meinen Besuch in dieser Bar reagiert hatte, war mir etwas Flau im Magen. Um mich herum wurde es ganz ruhig. Plötzlich sang kein Vogel mehr, kein Auto fuhr mehr auf der Straße. Das Einzige was ich noch hörte waren meine eigenen Schritte auf dem Kiesweg, auf dem ich lief. Die Bar wirkte von hier aus einsturzgefährdet. Das Holz war feucht und von Moos überzogen. Die Fensterläden strahlten vor Grünspan, während eine eingeschlagene Scheibe bloß provisorisch mit etwas Klebeband abgedichtet worden war.

Vor der Tür angekommen, öffnete ich sie kraftlos, als mich schon ein mulmiger Geruch von scharfem Alkohol und dickem Raum einhüllte. Es war nicht im entferntesten der Geruch, den ich bei Jim immer so liebte, doch ich musste da durch. Gestärkt konnte ich weitermachen, um Claire endlich den Gar auszumachen.

Die Ecken, in denen Tische standen, waren sehr dunkel, sodass man nur schemenhafte Gestalten an ihnen sitzen sah, welche Karten spielten und Zigaretten rauchten. Nun verstand ich Emmas Bedenken, obwohl es mich schon wunderte, dass sie überhaupt welche äußerte. Langsam bewegte ich mich auf einen freien Tisch zu, auf dem noch das Geschirr von den letzten Gästen stand. Die Oberfläche klebte und roch nach alter Limonade. Ich verzog das Gesicht. So würde sich mein Magen gar nicht mehr beruhigen.

Da griffen plötzlich zwei Arme nach mir und ich wich erschrocken zurück. Eine Frau mit aschblondem, kurzem Haar und einer finsteren Miene blickte mich an, als sei ich nicht mehr ganz bei Trost, und räumte gelangweilt die Teller und Gläser ab.

„ Ähm, entschuldigen Sie. Dürfte ich schon etwas bestellen?"

„ Sehe ich etwa aus wie eine Kellnerin?", fragte sie mich mit einer dunklen, rauen Stimme.

„ Ich habe es wirklich eilig und wollte nur eine Kleinigkeit zu mir nehmen."

Sie verzog die Lippen. „ Was willst du denn?"

Perplex suchte ich nach einer Bestellkarte auf dem Tisch. Vergebens. „ Haben Sie vielleicht eine Suppe? Hühnersuppe, oder so?"

„ Wir haben Kartoffeln und Gemüse. Willst du auch Hack dazu?"

„ Nein, dann nur die Beilagen, bitte. Und etwas zu trinken. Eine Cola."

„ Hier gibt es nur Bier."

„ Oh, ähm ja dann eben ein Bier."

„ Setz dich. Kommt gleich."

Ich schluckte schwer. Etwas angeekelt setzte ich mich an den Tisch und schaute mich um. Die Bar war so vernebelt, dass ich kaum von hier die Theke erkennen konnte. Immer wieder hörte ich grollendes Lachen aus den dunklen Ecken und Schatten an den Wänden tanzen. Ich fühlte mich hier wirklich nicht willkommen und beschloss direkt nach dem ich gegessen hatte, schleunigst das Weite zu suchen. Wenn Riley nun hier gewesen wäre ... Sicherlich hätte ich nicht den Hauch von Angst in seiner Nähe verspürt. Er hätte nur meine Hand halten müssen.

Sobald das Essen vor meiner Nase stand, wurde mir schlecht. Es dampfte und nahm mir noch mehr die Sicht. Vorsichtig hob ich die Gabel an und beschaute mir das Gemüse noch etwas genauer. Es sah wenig appetitlich aus, beinahe noch roh. Am liebsten hätte ich das Essen verweigert, aber mein schmerzender Unterbauch schrie förmlich nach etwas zu essen. Also nahm ich ein paar Bissen von den Kartoffeln und dem harten Gemüse, ehe ich den Teller wegschob und lieber ein paar Schlucke Bier trank. Doch das machte die ganze Sache nicht besser. Irgendwann wurde die Luft so dick um mich herum, dass ich aufstehen wollte, um etwas rauszugehen. Als ich von der Bank rutschte, stach plötzlich ein tiefer und gründlicher Schmerz durch meinen Unterleib und ich krümmte mich keuchend. Am liebsten hätte ich einen Laut von mir gegeben, aber das konnte ich nicht. Es waren zu viele Gäste anwesend. Mit zusammengebissenen Zähnen bahnte ich mir einen Weg nach draußen, warf mich gegen die Tür und landete auf dem steinernen Boden. Sofort rammte ich mir abertausende von kleinen, spitzen Steinen in meine Handflächen und Knie. Jammernd rappelte ich mich wieder auf und lehnte mich kraftlos gegen die Hauswand. Alles um mich herum drehte sich. Am liebsten hätte ich mich übergeben.

„ Hey Kleine, wohl zu viel getrunken, was?"

Die Stimme kam von rechts. Schwerfällig richtete ich meinen Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen war und sah eine junge Frau mit kurzem Haarschnitt. Sie trug eine Jeans und ein bauchfreies Oberteil. In ihrer Hand befand sich eine Bierflasche und die Cowboystiefel waren bis zu den Knien geschnürt.

„ Nein", bestritt ich.

„ Natürlich", gackerte sie und tätigte noch einen Schluck. „ Wenn man nicht viel verträgt, sollte man irgendwann damit aufhören."

„ Ich vertrage mehr als du weißt", konterte ich schweißnass. Mit einem Mal wurde die Übelkeit so groß, dass mir schwindelig wurde. Ich drehte mich von ihr weg und übergab mich.

„ Sagte sie und kotzte!", rief sie hinter mir, als hätte sie es schon kommen sehen.

„ Ein gut gemeinter Tipp, geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus."

„ Ich habe nichts, wo ich hingehen könnte", würgte ich noch immer.

„ Bist du irgendwie obdachlos, oder so?"

„ So in etwa ja."

„ Kann man helfen?"

Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Lippen und schüttelte mit dem Kopf. „ Mir ist schon lange nicht mehr zu helfen. Ich muss nur zur Polizeistation und ihnen einiges erklären."

„ Aber doch nicht in diesem Zustand, Madison."

Für einen Moment bewegte ich mich nicht mehr, ehe ich meinen Kopf in ihre Richtung drehte. Dann wurde plötzlich alles schwarz vor Augen. Ich kippte zur Seite und hörte nur noch wie die junge Frau auf mich zurannte.

Ich bäumte mich immer wieder vor Schmerzen und fand keine Heilung. Nur schemenhaft bekam ich mit wie ein Arzt in das Behandlungszimmer eintrat und meinen Bauch abtastete. Er hatte sich vorgestellt, aber ich hatte es kaum erwidern können. Er war sicher Mitte vierzig. Dr. Perez war sein Name. Sein Haar schimmerte rötlich in dem schwachen Neonlicht. Ich glaubte einen irischen Ursprung zu erkennen, war mir aber in diesem Moment nicht ganz sicher. Ich war wieder in etwas gefangen, was ich nicht erklären konnte, genau wie nach meinem Unfall. Mit all den neuen Informationen konnte mein Kopf einfach nichts anfangen.

„ Seit wann haben Sie die Schmerzen?", fragte er mich und drückte nochmal in meinen Bauch.

Ich biss die Zähne zusammen und warf den Kopf nach hinten.

„ Tut es hier weh?"

„ Genau da", keuchte ich.

„ Bitte winkeln Sie einmal das rechte Bein für mich an", bat er mich.

Es war schwer seinen Anweisungen zu folgen, aber ich versuchte mein Bestes. Langsam zog ich mein Bein nach hinten, bemerkte jedoch wie es immer mehr gegen eine Blockade stoßen zu schien, weshalb ich es letztendlich aufgab.

„ Okay. Miss Pearl wird Ihnen jetzt Blut abnehmen. Dann wissen wir mehr."

Ehe ich mich versah stand er nicht mehr bei mir. Vielleicht tippte er meine Symptome irgendwo in einen Computer ein.

„ Das könnte jetzt ein bisschen kalt werden. Bitte nicht erschrecken." Ich warf meinen Kopf zur Seite. Miss Pearl, so wie Dr. Perez sie genannt hatte, sprühte bereits Desinfektionsmittel auf meinen Arm. Es machte mir nichts aus dabei zu zusehen, wie sie mir Blut abnahm, weshalb ich jeden Schritt genau beobachtete. Als sie fertig war, klebte sie noch ein Pflaster auf die offene Stelle und verschwand mit den Röhrchen in einem Nebenzimmer.

„ Ich werde jetzt einmal ihren Bauch ultraschallen", hörte ich plötzliche wieder Dr.

Perez' Stimme neben mir sagen und spürte schon das glitschige Gel auf meinem Bauch. Neben ihm stand ein Bildschirm auf dem ich nur weiß auf grau erkannte und niemals hätte erraten können, wo welches Organ lag. Dr. Perez schaute gekonnt in jede Ecke, glitt mit dem Ultraschallkopf weiter zu meiner rechten Seite und verharrte genau dort. Es dauerte noch einen Augenblick, ehe er etwas sagte.

„ Genau wie ich es vermutet habe." Er betätigte ein paar Knöpfe und machte Bilder von meinem Inneren.

„ Was ist los?", fragte ich ängstlich. „ Ist es etwas Schlimmes?"

„ Ihr Blinddarm ist entzündet."

Ich machte Stielaugen. „ Nein."

„ Alle Symptome sprechen dafür." Da klingelte das Telefon und Dr. Perez ging ran. „ Dr. Perez hier. Ja. Okay. Danke." Er legte wieder auf. „ Ihre Blutwerte zeigen auch verschiedene Entzündungsparameter auf. Ein klares Zeichen. Wenn Sie einmal hier schauen." Er nahm einen Stift zur Hand und versuchte mir die Stelle auf dem Bildschirm zu zeigen, wo mein Blinddarm lag und wie es aussah, wenn er herausmusste. Das bekam ich jedoch alles gar nicht mehr richtig mit. Ich konnte nicht fassen, dass ich operiert werden musste. Es gefährdete die ganze Mission!

„ Wie lange würde ich hierbleiben?"

„ Etwa drei Tage."

„ Das ist zu lange", flüsterte ich und schaute weg von ihm. Ich brauchte eine sofortige Lösung und wusste nicht, wie diese aussehen sollte. Ich konnte nicht so lange ausfallen, musste an Riley und all die anderen denken, die Hilfe benötigten!

Er zog die Brauen zusammen. „ Es ist unumgänglich."

„ Ich kann nicht hier bleiben." Schmerzverzehrt stand ich auf und klaubte meine Sachen zusammen.

„ Miss Havering, Sie müssen! Ein unbehandelter Blinddarm kann platzen und zum Tode führen!"

„ Das wird er schon nicht. Ich ... ich kann einfach nicht."

Nun stand er auf und kam langsam auf mich zu. „ Mit all meiner Überzeugungskraft als Arzt und auch als vernünftig denkender Mensch bitte ich Sie hier zu bleiben und sich operieren zu lassen."

„ Sie können mich nicht zwingen", erinnerte ich ihn, während ich meine Jacke überzog.

„ Das stimmt, aber wollen Sie wirklich auf Ihr eigenes Risiko unterschreiben und womöglich so Ihren eigenen Tod unterzeichnen?" Seine Worte machten mich stutzig und ich verharrte in meiner Position. „ Was auch immer Sie dazu drängt, nicht hier zu bleiben. Nichts kann so wichtig sein, wie das eigene Leben."

Und ob es das sein konnte, wollte ich sagen, doch es blieb mir irgendwo im Halse stecken. Doch wenn ich starb und nichts mehr ausrichten konnte, waren Vicky, Riley, Mikey, Tira und all die anderen wahrscheinlich für immer verloren.

Ergebend drehte ich mich zu ihm herum. „ Okay. Dann schneiden Sie mich schon auf, wenn es denn sein muss." Niedergeschlagen senkte ich den Blick. Diese OP würde mich aufhalten, aber danach würde ich weitermachen. Zwar mit Verzögerung, aber ich würde mein Ziel nicht aus meinen Augen verlieren.

Das Nächste was ich bemerkte war, wie ich mit meinem Krankenbett in einen mittelgroßen OP-Saal geschoben wurde. Die Gerätschaften verängstigten mich, doch es war nichts im Vergleich zu Claires Diktatur.

„ So, Miss Havering, wir ..." Ich zuckte zusammen, als etwas mit einem unangenehmen Geräusch auf dem Boden landete. Mein Kopf versank beinahe in dem großen Kopfkissen, sodass es mir schwerfiel mich nach hinten umzusehen.

„ Dr. Halliston, ist alles in Ordnung?", fragte eine begleitende Krankenschwester und auch Dr. Perez, der neben ihm herlief, musterte seinen Kollegen besorgt.

„ Ja, ja, natürlich."

Die Krankenschwester reichte ihm das hinuntergefallene Klemmbrett und er trat näher an mich heran. Irgendetwas war komisch an ihm, doch ich konnte nicht sagen, was das war.

„ Guten Abend, Miss Havering." Er reichte mir die Hand und sah mich aus großen dunkelgrünen Augen an. „ Ich bin heute Ihr Operateur. Der Blinddarm, nicht wahr? Sie brauchen sich keine Gedanken machen. So etwas ist vollkommene Routine für uns. Dr. Perez wird mich bei der OP unterstützen. In zwei Stunden werden Sie wieder auf Ihrem Zimmer sein und alles überstanden haben." Seine Hand verließ meine Schulter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er sie auf ihr liegen hatte.

„ So, Schätzchen. Ich lege dir jetzt schon mal einen Zugang. Wenn etwas unangenehm für dich ist, dann sag mir bitte sofort Bescheid." Wieder tauchte eine Krankenschwester neben mir auf und bediente sich meiner Venen.

Ich nickte hilflos und bemerkte, wie sich Tränen in meinen Augen bildeten. Ich hatte keine Angst, aber ich wünschte mir so sehr Riley nun an meiner Seite zu haben. Er hätte meine Hand gehalten und mir ins Gesicht geblickt und mir damit alles gegeben, was ich gebraucht hätte. Für ihn allerdings war es besser, mich nicht in solch einer Situation zu sehen. Wenn er nur gewusst hätte ...

Das erste Mal als ich meine Augen öffnete war, als mich die Sonnenstrahlen durch das Fenster in meinem Gesicht kitzelten. Es war als wäre ich in einen tiefen Schlaf gefallen und seit einer Ewigkeit schließlich wieder aufgewacht. Zuerst wusste ich gar nicht wirklich, wo ich mich befand, bis ich mich etwas regte und einen kurzen Stich verpasst bekam. Die Operation, schoss es mir durch den Kopf und ich drückte meinen Kopf zurück ins Kissen. Ich lag tatsächlich in einem Krankenhaus und vergeudete immer weiter Zeit. Minuten und Stunden vergingen und ich sah einfach nur durch mein Zimmer oder aus dem Fenster als hätte ich Langeweile und alle Zeit dieser Welt. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte die Decke zurückschlagen, die Beine über die Bettdecke schwingen und meine Füße wieder auf festem Boden spüren. Mein Blinddarm war draußen, nichts konnte mehr geschehen. Wenn ich etwas langsamer machte, würde es schon gehen. Ich brauchte nur meine Sachen. Wo war überhaupt mein Rucksack geblieben? Und meine Kleidung?

Da öffnete sich hinter mir plötzlich die Tür und eine Visite kam zu mir herein.

„ Guten Morgen, Miss Havering", sang Dr. Perez beinahe. Er schien erfreut darüber zu sein, dass ich doch nicht geflohen und alles über mich ergehen lassen hatte.

Er reichte mir die Hand, gefolgt von Dr. Halliston, der mich wieder so merkwürdig anschaute, und einem Pfleger mit kurzen braunen Haaren. Er war sicher erst um die achtzehn.

„ Wir haben Miss Havering noch ein Antiemetikum verabreicht, weil sie zwischendurch erbrochen und starke Übelkeit hatte."

Tatsächlich? Ich konnte mich an nichts dergleichen erinnern.

„ Alles klar. Danke, James."

James nickte und rückte dann etwas in den Hintergrund.

„ Die OP ist gut verlaufen. Wir haben Ihren Blinddarm entfernt und alles vernäht. Die Wunde sieht gut aus. Wir machen nochmal ein neues Pflaster drauf."

„ Wann kann ich wieder gehen?"

„ Sie haben es aber wirklich eilig", lachte Dr. Perez, während sein Kollege keine Miene verzog. James trat inzwischen an mein Bett heran und deutete auf meinen Bauch. Ich schob die Decke etwas weiter hinunter und zog das Krankenhaushemd hoch, um ihm seine Arbeit machen zu lassen.

„ So etwas braucht schon seine Zeit. Selbst wenn Sie zuhause sind, ist es wichtig sich noch etwas auszuruhen. So eine Operation ist zwar Routine, aber immer noch ein Eingriff am Körper."

„ Wann?"

Dr. Perez bemerkte, dass er nicht gegen mich ankommen würde und seufzte. „ Morgen. Das ist der früheste Termin, den ich Ihnen nennen kann."

Es war zwar nicht die Antwort, die ich erwartet hatte, jedoch konnte ich mich damit zufrieden geben. Morgen war besser, als übermorgen.

James hatte inzwischen meine Nähte wieder mit einem Pflaster abgedeckt und trat wieder einen Schritt zurück. Ich schob hastig das Hemd hinunter und deckte mich wieder zu,

„ Matt? Könntest du vielleicht den Raum für einen Moment verlassen und James bitte auch? Ich würde ganz gerne mit Miss Havering persönlich sprechen."

Dr. Halliston hatte seine Sprache wiedergefunden und rieb sich nervös über sein stoppeliges Kinn. Seine beiden Kollegen schauten sich verdutzt an und auch ich verstand die Welt nicht mehr.

„ Bist du dir sicher?", fragte Dr. Perez.

„ Ja", erwiderte er nun etwas härter. „ Bitte." Er streckte die Hand in Richtung Tür und bedeutete ihm mit einem intensiven Blick, endlich hinauszugehen. Nachdem Dr. Perez und James sich nochmal merkwürdig angeschaut hatten, verschwanden sie nach draußen und wir waren allein.

Als die Tür ins Schloss fiel, schaute er mich immer noch so komisch an.

„ Darf ich Sie fragen, was los ist? Ist es doch schlimmer, als befürchtet?"

„ Nein, da kann ich Entwarnung geben. Mit Ihrer Gesundheit ist alles in bester Ordnung." Nun bemerkte ich, wie beruhigend seine Stimme auf mich wirkte und die Hektik in meinem Körper etwas lahm legte.

„ Okay", antwortete ich. Zwar war ich erleichtert darüber, dass ich auf dem Weg der Besserung war und ich wieder aus dem Krankenhaus kam, um weiterzumachen, jedoch verstörte mich Dr. Hallistons Verhalten schon sehr.

„ Das heißt also, ich kann nach Hause?", fragte ich so locker wie möglich.

Verstohlen strich er sich durch das braune, glänzende Haar, als er melancholisch aus dem Fenster hinausschaute. „ Nach Hause? Haben Sie denn ein Zuhause?"

„ Warum fragen Sie mich so etwas?", hinterfragte ich verwundert. „ Natürlich habe ich ein Zuhause!"

„ Ich hätte das nicht tun dürfen", flüsterte er plötzlich vor sich und schüttelte beinahe unmerklich mit dem Kopf. Er senkte seinen Blick und auch seinen Kopf und schaute sich in meinem Nachttischschränkchen fest.

„ Was meinen Sie?"

„ Kommen Sie bitte morgen gegen 17 Uhr zu diesem Raum. Ich muss da etwas mit Ihnen klären."

Ich nahm den Zettel entgegen und schaute auf die hektische Schrift. Der Raum sagte mir gar nichts. Es war die dritte Etage Raum 2.809.

„ Aber ..."

Bevor ich noch weitere Frage stellen konnte, machte er kehrt und verschwand aus der Tür.

Ich saß in der Cafeteria und stocherte in den klebrigen Nudeln herum. Mir war zusehends der Appetit vergangen, sodass ich nur an der kalten Cola nippte und allmählich Bauchschmerzen davon bekam. Ich seufzte und blickte aus dem Fenster hinaus. Eine schöne Gartenanlage hatten sie ja, das musste man dem Krankenhaus schon lassen. Überall waren bunte Blumen in Töpfen gezüchtet und sogar ein paar Palmen an einem kleinen See aufgestellt worden. Trotzdem fühlte ich mich auch hier gefangen. Ich musste hier raus, doch bevor ich nicht mit Dr. Halliston gesprochen hatte, konnte ich nicht verschwinden.

Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und rieb mir meine Augen. Als ich wieder aufschaute, sah ich alles verschwommen. Ich blinzelte etwas, ehe ich einen relativ jungen Mann an einem Tisch etwas weiter weg von mir sitzen sah. Er besaß braunes lockiges Haar. Er fiel sofort auf. Ich fand ihn sehr nett aussehend, wahrscheinlich jemand mit dem man sich gut unterhalten konnte. Seufzend sah wieder auf mein Essen, um nicht zu auffällig zu schauen. Es fühlte sich mittlerweile schon wie eine halbe Ewigkeit an, seit ich ein gutes Gespräch mit jemandem geführt hatte. Und dieser Jenige war natürlich Riley gewesen. Ich vermisste ihn so furchtbar. Was hätte ich nicht dafür gegeben, ihn nun in diesem Moment an diesem Tisch sitzen zu haben, ihm in die Augen zu schauen und mit ihm zu sprechen. Es hätte mich viel leichter innerlich fühlen lassen. Er nahm mir all meine Sorgen ab, wenn es mal wieder schwerer wurde, obwohl er selbst voller Probleme war. Niemals hätte ich gedacht, mir in jeder Situation einen bestimmten Menschen an meine Seite zu wünschen. Riley jedoch war so ein Mensch und ließ mich leichter fühlen, sobald er in meiner Nähe war. Ich betete innerlich, dass es ihm gut ging und Claire ihn in Ruhe gelassen hatte, Hoffentlich quälte sie ihn nicht, um Antworten über mein Verschwinden aus ihm herauszubekommen.

Nach ein paar Sekunden sah ich nochmal zu dem jungen Mann hinüber. Vielleicht konnte ich mit ihm sprechen, über irgendetwas. Selbst über das Wetter hätte ich mich mittlerweile stundenlang unterhalten wollen. Auch er hatte aufgeschaut und fixierte mich beinahe mit seinem Blick. Zuerst war es mir unangenehm. Ich drehte mich sogar kurz nach hinten, um zu überprüfen, ob seine Augen nicht auf jemand anderem lagen, doch hinter mir saßen bloß zwei ältere Männer, die sich über Billard unterhielten. Als ich mich umdrehte blieb mir plötzlich das Herz stehen.

Ich rieb mir die Augen, doch er veränderte sich nicht. Das konnte doch nicht sein.

Wie in Zeitlupe stand ich auf und blickte nun unentwegt zu ihm. „ Nein", flüsterte ich und setzte mich langsam in Bewegung. „ Nein", weinte ich nun und rannte dem Tisch entgegen.

Er stand vom Tisch auf, fasste nach der Kante, um nicht umzukippen und öffnete den Mund, doch es kamen keine Laute hinaus. Er war zu überwältigt, um einen Laut von sich zu geben. „ Du lebst!", rief ich mit einem Mal, ehe ich ihm um den Hals fiel und mich an ihn presste.

„ Madison?", hauchte er und sprengte sämtliche Ketten in mir. Diese Stimme war unvergleichbar und unter tausenden wiederzuerkennen. Zumindest für mich. Es war die Stimme meines Vertrauens, die Kraft spendete, wenn meine Seele in einer dickflüssigen Masse zu ertrinken schien.

„ Madison, ich ... oh mein Gott!" Seine Hand fasste meinen Hinterkopf und half mir dabei, mich noch weiter an ihn zu klammern. Was die anderen um uns herum in diesem Moment dachten, störte uns nicht. Wir hatten uns wieder. Es war zu heftig, um es glauben zu können.

„ Du lebst", wiederholte ich noch einmal, während ich sein Hemd mit meinen Tränen durchnässte.

„ Natürlich lebe ich", lachte er und erwiderte meine Umarmung, so fest er nur konnte.

„ Du weißt nicht, wie sehr ich um dich gebangt habe! Ich dachte die ganze Zeit, dir sei etwas zu gestoßen!"

Jim reagierte auf meinen verzweifelten Ton und drückte mich nach hinten. So konnten wir uns in die Augen schauen und daran glauben, dass es uns wirklich beide noch gab. Dass er Wirklichkeit war und ich nicht noch immer im Ungewissen wandelte.

„ Was ... was ist mit dir geschehen?" Nun erst sah ich das blaue Auge, das Pflaster auf seiner Stirn und den eingegipsten Arm.

„ Bloß ein Autounfall. Mir geht es gut."

„ Bloß ein Autounfall? Wie ist das passiert?" Meine Hände fassten unkontrolliert nach seinen Wangen. Er war so warm und so lebendig. Sein hilfloses Lächeln bedeutete alles für mich. Wie glücklich hätte ich in diesem Moment noch sein können? Er war mein Rettungsanker gewesen. Und er war es noch immer.

„ Ein LKW hat mich gestreift."

„ Gestreift?"

„ Ja, es ist nichts. Wirklich."

„ Wann ist das passiert?"

„ Vor ungefähr einer Woche."

„ Und was war das, als du mich angerufen hast? Nach deinem Anruf habe ich mit dem Allerschlimmsten gerechnet!"

„ Ich hätte dich nicht anrufen dürfen. Das war verkehrt."

„ Natürlich! Du bist mein bester Freund! Du bist meine Familie! Und wenn du in Schwierigkeiten steckst erwarte ich gefälligst einen Anruf von dir!" Ich blickte ihn beinahe böse an, weil ich seinen Standpunkt nicht verstehen konnte.

„ Aber nun sehe ich dich in einem Krankenhaus."

„ Mir wurde bloß der Blinddarm entfernt. Nichts gravierendes. Jim, ich war da! Kurz nachdem du mich angerufen hast, habe ich mich auf den Weg zu dir gemacht! Ich war an deiner Bar und habe nach dir gerufen, aber keiner hat mir geöffnet! Ich dachte, du bist tot!"

Verständnislos sah er mich an, als ihm bewusst wurde, dass ich tatsächlich sofort und ohne jegliche Umschweife zu ihm gereist war.

„ Ich habe dich damit in große Gefahr gebracht!" Seine Hände fassten nach meinen Wangen.

„ Ich wäre zu dir hineingekommen, aber ich wurde wieder eingefangen. Jetzt bin ich erneut auf der Flucht, um sie endlich dranzukriegen."

„ Du bist was?"

„ Auf der Flucht."

„ Das kann ich kaum glauben."

„ Jim, es ist schrecklich dort."

„ Es ist eine Schule, richtig?"

Verblüfft legte ich den Kopf schräg. „ Ja. Woher weißt du das?"

„ Du hast mir doch so was am Telefon erzählt. Damals."

Nun erinnerte ich mich. Und damals traf es wirklich ziemlich passend.

„ Du musst sehr unter ihnen leiden, wenn du schon von da verschwindest."

„ Ich will da nie wieder hin zurück." Fest umgriff ich seine Hände, um ihm bewusst zu machen, in was für einer Situation ich mich befunden hatten.

Mitleidig schaute er mich an. „ Das kann ich gut verstehen. Ich habe sie kennengelernt. Sie hätten mir meine Bar um ein Haar kurz und klein geschlagen."

„ Du hast was? Wer? Wer war das, Jim?" Mein Körper geriet in Panik. Ich konnte nicht glauben, dass sie sich sogar an Jim vergriffen hatten.

„ Claire und ihre Sippschaft."

„ Dann kennst du sie ..." Es war schwer vorstellbar, dass noch jemand anderes sie kennengelernt hatte, außer wir Schüler. „ Haben Sie dich bedroht?"

„ Wenn ich sie nicht auf Knien angefleht hätte, mich aus allem herauszuhalten hätte sie keine Gnade mit mir gehabt." Mir schwante Böses.

„ Woraus zu halten?"

„ Aus deinen Angelegenheiten."

Mein Herz krampfte sich auf schmerzhafte Art und Weise zusammen. Deswegen war Claire auch an Ort und Stelle gewesen und hatte versucht, dass ich Jim vergaß! Er war wegen mir in Schwierigkeiten geraten. Wie so viele andere Menschen um mich herum auch.

„ W-wie kam es dazu? W-war es etwa durch meinen Anruf? W-wobei ... du wolltest keinen Kontakt mehr zu mir ...", stotterte ich vor mich hin bei dem Gedanken, er völlig verzweifelt, kauernd auf dem Boden, Todesangst. Ich musste sachlich bleiben, um alle Details zu erfahren, die er mir zu erzählen hatte. Und er wollte erzählen. Ich konnte es in seinem hektischen Blick erkennen.

„ Als du nicht mehr herkamst, habe ich mir unfassbare Sorgen gemacht. Ich habe versucht es auszublenden und mir einzureden, dass du sicher auch mal etwas anderes machen wolltest, als ständig deine Abende in meine Bar zu verbringen. Ja, ich habe es mir sogar für dich gewünscht! Endlich ein Leben, welches ich mir für dich immer vorgestellt habe. Du hattest so viel Besseres verdient als das. Deswegen habe ich mich lange Zeit nicht bei dir gemeldet. Ich wollte dich nicht wieder auf etwas bringen! Versteh mich bitte nicht falsch, Madison, aber ich wollte so viel mehr für dich. Deine traurigen Augen sollten sich in glückliche Augen verwandeln, deinen Argwohn wollte ich von dir nehmen, aber ich merkte, dass dir die Umgebung und unsere Gespräche gut taten, deswegen beschloss ich, einfach meinen Mund zu halten solange du da warst. Dann warst du aber plötzlich nicht mehr da und ich versuchte Hoffnung zu empfinden. Trotzdem wartete ich ab, weil es dir eigentlich nicht ähnlich so, ohne auch nur etwas zu sagen, nicht mehr zu kommen. Nach zwei Wochen hielt ich es nicht mehr aus und suchte deine Eltern auf. Als ich ihnen davon erzählte, dass ich dich lange nicht mehr gesehen hatte, ist Diana ohne jegliches Kommentar einfach wieder ins Haus gegangen, Andrew hat mich abgewimmelt. Er war zwar nicht unhöflich, dafür aber ein wenig gestresst. Das hat mich misstrauisch werden lassen. Ab da konnte ich nicht mehr lockerlassen und habe ihn eindringlich darum gebeten, mir die Wahrheit zu erzählen. Es hat lange gedauert, doch dann gab er sich einen Ruck und berichtete von dieser Schule, in die du nach einem Unfall gekommen bist. Es wäre nicht gut, Einflüsse von außen zu bekommen, sagte er mir, weshalb ich so zu dir am Telefon war. Ich dachte, dass es dir dort besser geht und wollte nicht, dass du wieder in dein altes Leben, in meine verranzte Bar zurückkehrtest. Klar, habe ich mir das gewünscht, aber ich wollte es für dich nicht mehr und ich wollte, dass es dir gut geht, so wie es dein Dad anscheinend auch wollte. Zumindest hatte er so was gesagt. Ich hielt also die Füße still und versuchte einfach weiterzumachen, redete mir ein, dass es dir ja gut geht. Nach circa drei Wochen, klingelte es an meiner Tür und dein Dad stand vor mir. Mir war sofort klar, dass irgendetwas passiert sei. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Ich bat ihn rein und saß lange Zeit mit ihm zusammen. Er erzählte mir, dass ein Schüler an dieser Constitution-School gestorben sei. Es handelte sich glücklicherweise nicht um dich, aber wir wurden stutzig und riefen in unterschiedlichen Krankenhäusern an, um vielleicht etwas darüber zu erfahren, ob er bei ihnen eingeliefert worden oder der Notruf dort eingegangen war."

„ Woher konnte Dad das wissen? Wir mussten alle eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen."

„ Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht gesagt."

Ratlos saß ich da und dachte darüber nach. Wie hatte Dad das bloß geschafft?

„ Nach unzähligen erfolglosen Anrufen, stieß ich auf einen Dr. David Halliston. Er konnte sich an dich erinnern und bestätigte Claire's Auftauchen an deinem Krankenbett."

Fassungslos riss ich die Augen auf. „ Wirklich? Er ... er hat mich operiert und mir heute Morgen diesen Zettel hier gegeben." Panisch kramte ich ihn aus meiner Jogginghose und reichte ihm Jim. Er faltete ihn auf und las ihn konzentriert.

„ Sollst du dich da etwa mit ihm treffen?"

„ Genau."

„ Zu dem Todesfall konnte er uns nichts sagen. Davon wusste er angeblich nichts, aber irgendetwas an seiner Stimme machte mich hellhörig. Ich weiß nicht, was er verbarg, aber irgendetwas war da. Er kennt eure Schule genau und geht selbst als Arzt dort ein und aus."

Es wurde immer abstruser. „ Ich habe ihn dort aber noch nie gesehen!" Ich keuchte. „ Also weiß er etwas!"

„ Anscheinend."

„ Das werde ich morgen mit ihm klären. Darauf kann er sich gefasst machen."

„ Ich weiß nicht, wie viel es dir schaden könnte. Ich wollte auch nur mit ihm reden, wollte helfen, dich da rauszuholen. Deswegen rief ich schließlich bei deiner Schule an. Ein Fehler, wie ich wenig später bemerkt habe."

Verstört musterte ich. Wie viel hatte er für mich auf sich genommen? „ Ich fragte nach dir und eine wirklich nette Stimme verwies mich darauf, dass sie unter Schweigepflicht stünde und mir leider keine Auskunft geben könnte. Ich war fast wahnsinnig und überlegte hin und her. Es war abends und ich war in der Bar, als sie plötzlich die Tür aufgebrochen haben und zu mir hineinstürmten."

„ Wer genau?", fragte ich sofort. „ Claire und ... ?"

„ Mehrere in schwarz gekleidete Männer. Claire und noch so ein Typ. Er war wohl auch Arzt. Ich versteckte mich für gute zwei Stunden im Vorratskeller, aber sie gingen nicht fort. In der Zeit rief ich dich an. Ich dachte, wenn ich heute Abend starb, dann müsste ich dir vorher sagen wie Leid es mir alles tat, dich nicht beschützt haben zu können. Ich habe mich so lange nicht darum gekümmert, weil deine Eltern es so wollten und ich es für das Beste empfand, dich in Ruhe zu lassen."

„ Ach Jim. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Niemand konnte das ahnen." Ich drückte seine Hände noch etwas mehr. Bisher hatten wir sie noch nicht voneinander nehmen können. Wir hatten viel zu viel nachzuholen.

„ Ich habe mich zu Erkennen gegeben, irgendwann. Sie drohten mir, wenn ich mich noch einmal wagen würde, anzurufen, würde etwas passieren. Als Dank zerschoss mir die Frau meine teuersten Weine, während die Männer mir ein blaues Auge, geprellte Rippen und eine leichte Gehirnerschütterung verpassten. Ich flehte sie an aufzuhören, versprach ihnen mich nie wieder um dich zu scheren. Sie hörten auf und ließen mich so zurück. Ein unfassbarer Schaden, den sie angerichtet hatten, aber es hatte auch gesessen. Ich rechnete damit, dass sie mich umbringen würden, wenn ich mich nochmal einmischte. Deswegen versuchte ich ganz im Geheimen mit deinem Dad einen Plan zu erstellen, wie wir dich da rausbekommen. Und jetzt sitzt du vor mir."

Unsere Hände griffen nur noch fester ineinander.

„ Wir müssen sie stellen."

„ Was ist dran an dem toten Schüler?"

„ Er ist an einer Drogenüberdosis gestorben."

„ Auf ... natürliche Weise?", fragte er zögernd.

„ Ich weiß nicht. Das hätte ich Claire nie zugetraut, aber ... er ist nicht der Erste, der gestorben ist."

„ Wie bitte?", fragte Jim völlig entrüstet. „ Das ist ein schlechter Scherz, oder?"

„ Leider nicht. Sie haben uns gezwungen in einem zugefrorenen See zu baden. Einer von uns hatte nicht das stärkste Herz und ist noch am selben Tag gestorben."

Jim war mittlerweile kalkweiß und legte eine Hand schockiert vor seine Lippen.

„ Und wenn Claire dich schon verprügeln und deine Bar zertrümmern lässt, wieso sollte sie nicht auch die Tode beabsichtigt und dein Auto gerammt haben?" Mein Blick fiel aus dem Fenster. Es dämmerte allmählich. Die Bäume hatten sich in ein warmes Orange gefärbt und verbreiteten eine wohlige Stimmung, obwohl die Lage wirklich ernst war. „ Ich brauche Zeugen, ohne sie wird mir keiner glauben."

Er zeigte mit einem Finger in die Luft. „ Hier ist einer."

Ich lachte unwillkürlich auf. „ Ja, du auf jeden Fall, aber ich brauche Beweise für die Polizei. Deswegen muss ich mit meinem damaligen behandelnden Arzt sprechen. Er hatte Kontakt zu Claire und ich muss ihn einiges ausfragen. Wenn er mir nicht antworten wird, dann werde ich ihn eben zwingen. Mir egal. Das könnte aber unsere einzige Chance sein Claire und ihre Schwester zur Rechenschaft ziehen, verstehst du?"

„ Sie hat eine Schwester?"

„ Ja, Rosemarie. Sie hält aber noch die Füße still."

„ Wer weiß wie lange. Madison, ich weiß, dass dir alles gelingen mag, was du dir in den Kopf gesetzt hast, aber ich mache mir dabei große Sorgen um dich. Die sind zu allem fähig. Ich habe es selbst erlebt." Ich senkte den Blick und biss mir auf meine Unterlippe. „ Bitte sei vorsichtig."

„ Das werde ich."

Jim schob seinen Teller von sich weg und sah zu mir. „ Begleitest du mich noch auf mein Zimmer? Es gibt so viel zu bereden. Und dabei meine ich nicht nur die Probleme um uns herum."

„ Du hast aber nicht aufgegessen", bemerkte ich, als ich dir klebrigen Nudeln auf seinem Teller liegen sah.

Jim lehnte sich ein Stück nach links und blickte an mir vorbei. Verwirrt folgte ich der Richtung, in die er schaute, und verstand nicht ganz.

„ Du auch nicht, wenn ich mir deinen Teller so anschaue."

Und da entdeckte auch ihn und biss mir grinsend auf die Unterlippe.

„ Wir könnten Pizza bestellen, wie wäre das?"

„ Das wäre wunderbar!", willigte ich sofort ein.

Wir ließen das Krankenhausessen stehen und bestellten uns stattdessen eine Pizza, die ich zwischendurch am Empfang abholte. Mein Magen knurrte wie eine Horde hungriger Bären. Ich hatte seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen, weshalb diese Mahlzeit besonders gut tat. Während Jim auf seinem Bett lag, saß ich auf seiner Bettkante und lauschte ihm, wie er mir vor einem Buch vorschwärmte, welches er schon seit einiger Zeit mit großer Begeisterung las. Vielleicht würde ich es mir einmal ausleihen, überlegte ich, doch das war alles zweitrangig, da ich nur ihn sah. Wie er lachte und lebte. Auch wenn ich immer gespürt hatte, dass er noch lebte, so hatte ich nie die Gewissheit gehabt, dass es tatsächlich so war. Nun hatte ich die Bestätigung und ich liebte ihn noch ein bisschen mehr, als überhaupt schon. Wir verbrachten den ganzen restlichen Abend miteinander. Jim zeigte mir Bilder auf seinem Handy von seinen Stammkunden. Der gute, alte Larry mit seinem grauen Bart, hatte mir des Öfteren schon ein Bier ausgegeben. Obwohl ich es nie annehmen wollte, bestand er jedes Mal darauf. Manchmal hatte auch er eine Schulter zum Ausweinen, wobei er selbst oft eine gebraucht hätte. Ich hatte immer versucht, ihm diese zu geben, doch ich glaubte, dass ich zu jung gewesen war, um seine Probleme zu verstehen. Ich mochte und vermisste ihn sehr. Dann war da noch Chester. Ein recht dünner, junger Mann, der einfach nur kam, um von der Arbeit abzuschalten. Er saß immer allein an einem Tisch am Fenster und schaute dem Stadtverkehr zu, als würde es für ihn nichts spannenderes geben. Nun lächelte er freundlich in die Kamera, als würde er mir Hallo sagen wollen.

„ Sie haben schon nach dir gefragt."

„ Ich vermisse diese Bar so sehr."

Jim stieß mich an. „ Hey, du kommst wieder vorbei. Du zeigst es Claire, aber von außerhalb. Nachdem du mit Dr. Halliston gesprochen hast und ich das Go bekomme, nach Hause zu dürfen, nehme ich dich mit. Und du kannst solange bei mir schlafen, bist du wieder etwas Neues hast."

„ Das Hinterzimmer würde mir schon reichen. Auf Familientrubel habe ich im Moment nicht so viel Lust."

„ Alles was du willst. Hey, das schaffen wir." Er fasste nach meiner Hand.

„ Waren deine Frau und die Kinder auch schon hier?"

Er lächelte. „ Ja, fast jeden Tag. Wahrscheinlich werden sie morgen wieder vorbeischauen."

„ Ich freue mich sie zu sehen."

Jim setzte sich auf und sah mich eine Zeit lang an.

„ Wirst du meinem Dad von alledem hier berichten?"

„ Er steckt doch schon mittendrin."

Ich machte einen abfälligen Laut. „ Er und Mum sind schuld daran, dass ich hier bin, dass das einfach alles geschehen ist. Sie ahnen ja gar nicht, welche Welle sie mit dieser Anmeldung losgetreten haben! So viele Menschen, die ich liebe sind wegen mir in Gefahr!"

„ Wir werden es aufklären, okay? Jetzt bleiben wir dran! Claire wird nicht einfach so davonkommen."

„ Ich möchte, dass du ihn nicht weiter einweihst, okay?"

„ Ihm wird nichts geschehen."

„ Darum geht es nicht!", schritt ich ein. Jim sah mich verwirrt an, woraufhin ich langsam durch halbgeöffnete Lippen ausatmete und langsam weiter fortfuhr. „ Er hat in meinem Leben nichts mehr zu suchen, verstehst du? Ich kann nachvollziehen, weshalb du dich an ihn gewandt hast. Dir blieb schließlich keine andere Möglichkeit, aber jetzt haben wir uns wieder. Wir brauchen ihn nicht, okay? Ich will es ohne ihn schaffen. Mum scheint sich ja an alledem überhaupt nicht zu stören, weshalb wir nur noch meinen Dad damit in Ruhe lassen müssen."

„ Ich dachte nur ... je mehr Leute wir haben, die zu uns halten, desto besser."

„ Ich kenne noch jemanden. Er weiß auch, was dort vor sich geht. Mein Arzt weiß Bescheid. Wir sind nicht komplett allein mit diesem Problem."

Jim brauchte noch einige Sekunden in denen er über mein Gesagtes nachdachte. Er wusste wie viel mir daran gelegen hätte, liebende Eltern um mich zu haben. Meine abwehrende Haltung ihnen gegenüber hatte ihre Gründe und Jim hätte alles dafür getan, um endlich Frieden mit mir und meiner Vergangenheit zu finden.

„ Also gut. Ich werde deinen Dad nicht weiter mit der ganzen Sachen vertraut machen und ihm auch nichts mehr darüber erzählen. Stattdessen werde ich ihn davon überzeugen, dass es dir gut geht und du selbst von dieser Schule gegangen bist."

Dankend lächelte ich ihm zu und strich über seine Wange. „ Vielen, vielen Dank."

Wir umarmten uns und ließen den Abend entspannt ausklingen.

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