2. Kapitel
Alles drehte sich.
Ich hatte meine Augen noch nicht geöffnet. Etwas in mir kämpfte dafür endlich aufzuwachen, doch es wurde immer von etwas anderem verhindert. Es war, als befände ich mich in einem riesigen, schwebenden Ballon. Ich war völlig allein, fühlte mich schwerelos und konnte meine Erinnerungen nicht mehr wiederfinden, da sie von den Wänden her abzuprallen schienen.
Wenn ich versuchte nach einem schillernden Moment zu greifen, war er schneller und entwischte meinen Fingern. Ich wusste nicht, wo mein Anhaltspunkt sein würde. Wie konnte ich mich selber aus diesem ewigen Fallen und der Dunkelheit retten? Wie?
Öffne einfach die Augen, dachte ich. Öffne einfach die Augen. Es ist ganz leicht.
Die Dunkelheit ließ mich nicht und konnte sich mir gegenüber behaupten.
Mach die Augen auf. Du bist stärker.
Plötzlich bekam das große Schwarz einen Riss, der sich allmählich ausbreitete und immer tiefer zu werden schien, bis ein dumpfes Licht versuchte zu mir durchzudringen.
Das Licht überzeugte mein Gehirn schließlich und tat endlich wie ihm befohlen.
Mit einem Mal schlug ich die Augen auf und blinzelte direkt.
Ich erkannte einen Raum, doch nicht sofort seine Einzelheiten. Es war nicht sehr grell, jedoch schien jegliche Helligkeit zu viel für meine Augen zu sein.
Als sie sich an das warme Licht gewöhnten, setzte ich mich allmählich auf und erkannte, dass ich auf einem weißen Holzbett mit sonnengelber Bettdecke saß.
Vollkommen verwirrt ließ ich meinen Blick durch das recht große Zimmer schweifen.
Die Tapete war schlicht gehalten. Rechts stand ein großer weißer Schreibtisch mit einem beigefarbenen Bürostuhl davor. Links am Ende des Raumes war ein Fenster, doch die Jalousien waren zugezogen, sodass ich nicht sofort erkennen konnte, ob es Tag oder Nacht war. Wo hatte man mich hingebracht? Und vor allem, wer hatte mich hierhin gebracht? Was war überhaupt geschehen? Mein Gedächtnis war wie ausgelöscht.
Von Panik erfasst stand ich auf, darauf bedacht keinen Mucks zu machen, und steuerte direkt auf das Fenster zu. Beim ersten Schritt, den ich tat, stöhnte ich auf. Mein ganzer Körper schmerzte, als hätte ich eine Woche lang ohne Pause in einem Fitnessstudio trainiert. Ich konnte mich an gar nichts mehr erinnern, spürte nur die pulsierenden Schmerzen und die steifen Knochen. Ich rieb mir über die Ellbogen und die Kniescheiben, ehe ich mein Laufen, dieses Mal humpelnd, fortsetzte.
Mit zwei Fingern schob ich die Jalousien beiseite und konnte sehen, dass es pechnacht war. Ich bekam Panik. Hastig wandte ich mich um und konnte direkt gegenüber von mir eine Tür erhaschen. Es war kein Versuch wert zu testen, ob sie sich öffnen ließ, das würde sie hundertprozentig nicht, aber meine Überlebensängste schalteten sich ein.
Schnurstracks lief ich auf sie zu, griff nach der Klinke und drückte sie hinunter.
Sie öffnete sich. Ganz einfach und leise.
Fassungslos blieb ich stehen, ehe ich einen Schritt nach draußen tat und bemerkte, dass ich auf einem in weiß gehaltenen Flur stand. Hellblaue Gardinen hingen vor den Fenstern, die in einem Abstand von etwa zwei Metern aneinandergereiht worden waren. Goldene Bilderrahmen mit irgendwelchen schön geschriebenen Texten säumten die Wände zwischen den Fenstern. Ich war völlig irritiert und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Als meine Augen zum Boden wanderten, blickte ich das erste Mal auch an mir hinunter und sah, dass ich ein weißes, knielanges Nachthemd trug. Verwirrt sah ich in das Zimmer hinein und konnte nicht glauben, dass ich diese Tür hatte öffnen können.
Wo war ich bloß gelandet? War es ein Krankenhaus? Oder ein Hotel? Ich wollte es herausfinden. Sofort. Trotzdem durfte ich nichts riskieren und schlich auf leisen Füßen den Gang entlang, bis sich der Weg nach rechts und links teilte.
Einen kurzen Moment hielt ich inne.
Für welche Richtung sollte ich mich entscheiden?, fragte ich mich, während meine Hände über die, wie ich sah, kaum sichtbaren goldfarbenen Muster der Tapete fuhren.
Weit kam ich nicht, als ich plötzlich Absätze auf dem Boden widerhallen hörte.
Ich erschrak und presste mir eine Hand gegen die Lippen. Blitzschnell machte ich kehrt und rannte wieder zurück. An dem Zimmer angekommen, hastete ich hinein, schloss die Tür und setzte mich auf mein Bett. Ich überlegte wild hin und her, ob ich mich lieber schlafend geben sollte, falls jemand zu mir hineinkommen würde, oder ob es klüger wäre, mich demjenigen wach zu präsentieren. Ob ich mich bewaffnen sollte, falls es zu einem Kampf kam? Meine Augen suchten den Raum nach einem Gegenstand ab, doch ehe ich etwas Passendes gefunden hatte, öffnete sich auch schon die Tür und ich stand ruckartig auf. Ich stellte mich in Kampfposition und wartete auf einen Angriff. Eine Überdosis Adrenalin wurde ausgeschüttet und jagte wie ein gewaltiger Schwall von abertausenden von Blitzen durch meinen Körper.
„ Oh, du bist wach!"
Eine aufgeweckte, sehr freundliche Stimme sang durch mein Zimmer, als ich auch schon eine junge, hübsche Frau eintreten sah. Ihr haselnussbraunes Haar war zu einem ordentlichen Dutt zusammengebunden, während ihre Kleidung eher schlicht in weißer Bluse und schwarzer Jeans gehalten war. Vor ihrer Brust verweilte eine Art Klemmbrett, welches sie gut mit ihren Händen behütete.
„ Alles in Ordnung bei dir?", fragte sie zögernd und machte vorsichtig einen Schritt in meine Richtung.
Meine Pupillen schnellten wild hin und her, um auf alles vorbereitet zu sein, aber es kam nichts. Nichts, womit ich gerechnet hatte, zumindest.
„ Bitte, habe keine Angst. Ich weiß, dass das jetzt alles verwirrend auf dich wirken muss, aber ... setzen wir uns doch erst einmal. Dann werde ich dich aufklären."
Ich horchte auf. Ihre Stimme war sehr einfühlsam und weich und beruhigte mein rasendes Herz sofort. Sie streckte ihre Hand in meine Richtung aus, jedoch so zaghaft, dass es mir keine Angst machte. „ Setz dich. Bitte. Hier auf dem Bett ist es sehr gemütlich." Sie lächelte mir aufmunternd zu und rückte sich schon den Bürostuhl, der vor dem Schreibtisch stand, zurecht, sodass wir uns gegenübersaßen.
Noch immer mit einer guten Portion Abstand, schlich ich am Bett entlang, bis ich mich langsam darauf niederließ, die Handflächen auf den Oberschenkeln liegend.
„ So. Es passiert dir nichts, okay? Du bist hier in vollkommener Sicherheit. Wahrscheinlich denkst du jetzt: Das kann mir ja jeder dahergelaufene Fremde sagen! Aber ich bitte dich. Wirf all deine Vorurteile über Bord. Du brauchst sie hier nicht. Ich spreche die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Mir kannst du vertrauen." Sie reichte mir ihre Hand und lächelte mich herzlich an. Von einem auf den anderen Moment war ich wirklich überrumpelt und musterte sie ein wenig zu lange.
„ Ich bin Claire Archer."
Ich schluckte, wusste für den Moment nicht, was ich tun sollte. Nur zögerlich reichte ihr schließlich auch meine Hand.
„ Ich wünsche dir einen guten Abend. Es ist sehr schön, dich kennenzulernen."
Ihre Stimme beruhigte mich immer mehr. Mein Körper entkrampfte förmlich, als wäre sie ein Gegengift. Ich wollte, dass sie weitersprach, damit ich endlich durchatmen konnte.
„ Ich bin Betreuerin des Mädchentraktes, Sekretärin und Schulleiterin. Freut mich wirklich sehr." Ich zog die Brauen zusammen. Schulleiterin? „ Und, hast du dir schon dein Zimmer genauer beschaut? Sieht wirklich toll aus. Ich glaube, es ist sogar eines der Schönsten im ganzen Trakt." Sie grinste niedlich und zog die Schultern einmal hoch, nachdem sie sich kurz umgeschaut hatte. Fragend blickte ich sie an, unfähig etwas zu erwidern. Sie schien es meinem Gesichtsausdruck zu entnehmen und presste kurz die Lippen aufeinander.
„ Es war alles sehr aufregend, das kann ich gut verstehen. Aber keine Sorge. Ich bin hier, um dich aufzuklären und habe gleich alles Nötige für die Einführung mitgebracht. Es wird ganz schnell gehen und du wirst Klarheit über alles bekommen." Sie blätterte ein paar Zettel auf ihrem Klemmbrett durch, ehe sie fündig wurde und zufrieden lächelte.
„ Als zweites: Willkommen an der Archer-Constitution-School für Mädchen und Jungen. Es freut mich sehr, dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen und dich als Bereicherung für unser Schulsystem anzusehen."
„ Schule?", platzte es aus mir heraus, da es zu absurd klang.
„ Ja", lächelte sie. „ Dazu aber gleich mehr."
„ Ich habe Fragen."
Sie schaute von ihrem Zettel auf. „ Diese werde ich dir auch beantworten, aber bitte nach der Einführung, okay?" In ihrer Stimme schwang ein Unterton mit, den ich nicht ganz verstand. Sie schien sehr zielorientiert zu sein.
„ Du fragst dich, warum du hier bist. Das kann ich sehr gut verstehen." Ich legte den Kopf leicht schräg. Ich fühlte mich wirklich, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet, weit entfernt von der Erde. „ Vielleicht bevorzugst du im Moment die Kurzfassung. Du hattest einen Unfall, bei dem du von einem Auto angefahren wurdest. Sie haben dich in ein Krankenhaus eingeliefert und dort deine Verletzungen behandelt, während du in einem künstlichen Koma lagst."
Ich riss die Brauen hoch. Es klang grotesk. Ich hatte einen Unfall gehabt?
Plötzlich brachen Flashbacks durch meine Gehirnwände und stachen in meinen Kopf hinein.
Ich hörte die quietschenden Reifen hinter mir, spürte die heftige Wucht, mit der ich auf dem Asphalt aufgekommen war ... dann wurde plötzlich alles wieder schwarz.
Ich rang nach Luft und schüttelte mit dem Kopf.
„ Madison."
Ich hyperventilierte fast, als sie meinen Namen sagte. „ Geht es dir nicht gut? Soll ich nochmal nach dem Arzt rufen?"
„ Wie lange war ich im Krankenhaus?"
„ Drei Wochen."
Ich biss mir auf die Lippe, um mich wieder etwas zu beruhigen.
Claire hatte die Stirn in Falten gezogen und sah mich an, als täte ich ihr leid.
„ Die Medikamente haben starke Nebenwirkungen, das künstliche Koma, der Sturz allgemein ... Sie haben eine Gehirnerschütterung bei dir diagnostiziert und ein paar geprellte Rippen." Automatisch wanderten meine Finger auf meine Rippen, die tatsächlich leicht schmerzten, als ich einen kurzen Druck auf sie verübte. „ Wir haben einen hausinternen Arzt, oder auch Dr. Halliston, der vom St. George Hospital immer wieder zu uns kommt, um Schüler zu behandeln. Wenn du also irgendwelche Symptome oder Halluzinationen bekommst, gib mir bitte sofort Bescheid. Dann werden wir dir helfen, okay?" Ich nickte bloß, obwohl ich es nur tat, weil es von mir verlangt wurde. Ich tat es nicht aus eigener Überzeugung. „ Nach ein paar Tagen hast du dich hier sehr gut eingelebt und alles wird wieder wie früher. Du wirst sehen." Ermunternd rieb sie mir über den Arm. Die zweite Berührung einer völlig Fremden. Aber es schreckte mich nicht ab. Ihre Wärme tat beinahe gut.
„ Deine Eltern hatten es für das Beste befunden, dass du direkt nach deinem Krankenhausaufenthalt zu uns kommst, um nicht extra nochmal nach Hause zu müssen und die Reise erneut auf dich zu nehmen. Du warst und bist, so wie ich das sehe, immer noch schwach."
Ich riss die Augen auf, glaubte mich verhört zu haben.
„ Meine Eltern? Das kann ... das kann gar nicht sein."
„ Was meinst du?"
„ Sie ... sie können nicht irgendetwas bestimmt haben."
„ Natürlich konnten sie das. Sie waren sogar vor Ort. Ich habe selbst mit ihnen sprechen können."
„ Nein." Ich lachte beinahe. „ Sie können nicht vor Ort gewesen sein."
„ Du bist ihr Kind und lagst verletzt im Krankenhaus. Ich glaube schon, dass das sein kann." Sie lächelte.
Ich schwieg und sah mich in irgendeiner Ecke des fremden Zimmers fest. „ Wo befinden wir uns?"
„ Du bist in Baltimore."
Unfähig mich zu rühren, hörte ich ihr einfach weiter zu.
„ Sie sind wirklich sehr nett. Sehr zuvorkommend. Sie haben mich bereits vor deinem Unfall kontaktiert und mir erzählt, dass du höchstwahrscheinlich eine gute Kandidatin für unsere Schule wärst. Ich war sofort hellauf begeistert, als ich von Zuwachs für unsere Schule erfuhr. Sobald ich all deine Zeugnisse und deinen bisherigen Lebenslauf erhalten hatte, planten wir auch schon deinen Aufenthalt bei uns. Natürlich bat ich deine Eltern darum, sich mit dir darüber auseinanderzusetzen und über dieses Projekt auszutauschen. Ich denke, dass sie genau das auch vorhatten, aber dann kam dein furchtbarer Unfall dazwischen. Sie haben mich erneut angerufen und mir den Vorfall geschildert. Ich sagte ihnen, dass du jederzeit zu uns kommen kannst."
Mir fehlten längst die Worte und ich fühlte mich wie in einem schlechten Film. Ich konnte mir kaum vorstellen, was meine Eltern da getan haben sollten. Sie wollten Bildung für mich und verschickten meine privatesten Dokumente an eine wildfremde Frau, die eine Schule in Baltimore besaß, auf die ich gehen sollte?
„ Ich weiß, das muss alles ziemlich abgefahren für dich klingen. Völlig verständlich! Aber es wird sich alles klären. Ich freue mich jedenfalls, dich hier bei uns begrüßen zu dürfen. Wir sind eine Schule, die sowohl Mädchen als auch Jungen betreut, lehrt und sie auf einem gemeinsamen Weg begleitet, bis sie selbst in die große, weite Welt hinausgehen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Du befindest dich gerade in unserem Mädchentrakt. Direkt gegenüber befindet sich der Jungentrakt, den meine liebe Schwester Rosemarie leitet. Unsere Schüler sind zwischen zwölf und zwanzig Jahre alt. Bei uns herrscht ein gutes Klima zwischen Lehrern und Schülern, dafür sorgen wir und sind immer zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird. Das heißt, du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Neue Schüler werden gern gesehen und immer gut in die Gemeinschaft aufgenommen." Kommentarlos sah ich sie an, kam kaum hinterher, als sich auch schon wieder alles zu drehen begann. Es waren zu viele Informationen auf einmal, die mich zu übermannen schienen. „ Es ist viel, ich weiß, aber du wirst in den nächsten Tagen alles Wissenswerte gelehrt bekommen." Sie kniff einmal die Augen zusammen. „ Das waren ein paar Worte zu unserer Schule. Bevor du mir jedoch deine Fragen stellen kannst, muss ich mit dir eben die Einweisung durchgehen. Es sind Regeln, die an unserer Schule gelten und mit jedem Neuankömmling besprochen werden müssen. Materialien, die du benötigst, zeige ich dir als allererstes. Ich habe deinen Stundenplan und einen Guide der Schule schon mitgebracht." Sie griff nach zwei Blättern aus ihrem Klemmbrett und reichte sie mir. Für mich wirkte das Geschriebene wie Hieroglyphen. Ich stand komplett neben mir und war mir noch nicht ganz sicher, ob ich das alles nicht doch einfach nur träumte. Vielleicht befand ich mich noch immer im Koma, während die Tabletten meinen Kopf in die Irre führten.
„ Ich habe dir den genauen Weg in die Kantine und den ersten Klassenraum, den du morgen früh besuchen wirst, mit rot eingezeichnet. Hier ist ... schau mal, hier ist dein Rucksack." Unter dem Schreibtisch zog sie einen schwarzen Rucksack, mit braunen Lederdetails, hervor. „ Darin ist alles, was du benötigst. Dementsprechende Bücher werden dir die Fachlehrer in ihren Unterrichten geben. In dem Schrank dort hinten kannst du deine Kleidung lagern. Ich habe dir deine Sachen schon mitgebracht."
Ihre Hand klopfte auf den dunkelblauen Sack neben ihr. „ Hier drin wirst du drei Schuluniformen finden, die du bitte immer tragen wirst. Es sei denn du hast Sport oder willst schlafen gehen." Sie kicherte. „ Deine schmutzige Wäsche kannst du in eine Wanne geben, die sich auch in deinem Schrank befindet. Sie wird alle drei Tage von unseren Waschfrauen abgeholt und gereinigt. Dafür musst du diese nur vor die Tür stellen. Jegliche Putzarbeiten in deinem Zimmer übernimmst du selbst. Das machen wir nicht, um unsere Schüler zu ärgern, sondern, um ihre Privatsphäre zu erhalten. Ach und bevor ich es vergesse, diese Tür", sie zeigte am Fenster vorbei, „ führt dich ins Badezimmer hinein."
„ Badezimmer?", fragte ich ungläubig.
„ Ja." Sie riss die Brauen hoch. „ Um genau zu sein: Dein Eigenes! Was ein Luxus, oder?" Sie lachte in sich hinein, als sie wieder auf das Brett auf ihren Knien schaute. „ Ich würde dann gerne mit den Regeln beginnen. Bist du bereit?" Ich sah nach rechts und links. „ Ich bin vielleicht etwas zu schnell, aber glaube mir, als Schulleiterin steht man permanent unter Strom. Ich hoffe, das ist okay für dich! Es wird noch ausreichend Zeit sein, um all deine Fragen loszuwerden, okay?"
Ich nickte bloß, unfähig für irgendeine andere Reaktion.
„ Du musst wissen, dass auch unsere Schule, so wie jede andere, Regeln hat, denen Folge zu leisten ist. Nur so kann ein so riesengroßes Unterfangen gelingen. Deswegen ist es mir sehr wichtig mit jedem neuen Schüler über die jeweiligen Gesetze zu besprechen und sie mit ihnen durchzugehen." Sie nickte einmal kurz in meine Richtung, ehe sie begann.
„ Okay. Punkt Nummer eins: Jeden Morgen und jeden Abend wird das Zimmer kontrolliert."
Ich zog die Brauen zusammen. „ Wie im Gefängnis?"
Claire lachte. „ Du darfst unsere Schule nicht als solches ansehen, aber aus Erfahrung ist es sicherer, zweimal am Tag die Zimmer anzuschauen. Du weißt ja gar nicht, was Schüler schon alles mit in ihre Zimmer geschmuggelt haben. Drogen, Alkohol, Spritzen, Zigaretten."
„ Ich konsumiere nichts davon", beteuerte ich. Nun gut, ab und zu hatte ich schon mal in Jims Bar etwas getrunken, aber nie übertrieben. Und ich brauchte es auch nicht zum Leben. Den Alkohol. Jims Bar eigentlich schon.
Ein plötzlicher Schmerz erfasste mich.
Jim.
Wusste er, wo ich abgeblieben war? Plötzlich ergriff mich eine unbändige Sehnsucht nach ihm und dem hölzernen Geruch der Wände und dem scharfen Whiskey, den alle zu später Stunde immer tranken.
„ Darf ich vielleicht gleich telefonieren?", fragte ich und unterbrach sie somit.
Sie schaute auf und lächelte wieder. „ Heut nicht mehr. Es ist schon zu spät, um Anrufe zu tätigen und du solltest dich lieber gleich wieder schlafen legen. Du kannst morgen anrufen, wen auch immer du willst. Einverstanden?"
Es war schwer einzuwilligen, aber besser als gar nichts. Ich nickte wieder und senkte den Blick.
„ Sehr gut. Auch, dass du nichts mit jeglichen Rauschgiften zu schaffen hast. Dann hast du ja auch nichts zu befürchten." Ich wollte wieder meine Stimme erheben, als sie mir auch schon zuvorkam. „ Punkt Nummer zwei: Frühstück findet von halb sieben bis halbacht, Mittagessen von zwölf bis halbzwei und das Abendbrot von sechs bis halbacht in der Kantine statt. Diese befindet sich direkt gegenüber von uns. Man braucht nur ein paar Schritte über den Schulhof zu gehen. Ich habe sie dir, wie schon gesagt, auch auf dem Plan eingezeichnet. Um nach unten zu gelangen, kannst du die Treppen oder auch den Aufzug benutzen. Was dir lieber ist."
„ In welchem Stockwerk befinden wir uns?"
„ Im siebten."
„ Ich habe Höhenangst." Panik stieg in mir auf.
„ Du brauchst ja nicht aus dem Fenster zu schauen, dann siehst du auch nicht, wie hoch es tatsächlich ist." Sie lächelte erneut und fuhr mit ihrer Regelliste fort. „ Punkt Nummer drei: Die genannten Uhrzeiten sind bitte zu jeder Zeit einzuhalten. Du solltest also zum Unterricht nicht zu spät erscheinen. Die Cafeteria öffnet und schließt pünktlich. Wenn du also etwas essen möchtest, dann bitte zeitig. Marken für Essen und Trinken findest du in deinem Portemonnaie in deinem Rucksack." Sie sah mich kurz, jedoch erwartungsvoll, an. Ich regte mich kurz und legte meine Hände ineinander.
„ Genauso ist es nicht gestattet, mit normaler Kleidung im Unterricht zu erscheinen oder auf dem Schulgelände herumzulaufen, aber dazu habe ich dir ja gerade schon alles erklärt. So viel übrigens zu Punkt Nummer vier. Punkt Nummer fünf: Ab neun Uhr herrscht Nachtruhe. Ich weiß, es mag früh klingen, aber glaube mir, die Tage sind hier sehr lang. Du wirst froh sein, wenn du im Bett liegst." Ihre Reden machten mir Angst. „ Das soll jedoch nicht heißen, dass dich der Tag nur fordern wird. Wir bieten neben all den Schulaktivitäten ausgezeichnete Freizeitangebote an." Ihr Finger strich über das Blatt und blieb beim nächsten Punkt hängen. „ Punkt Nummer sechs: Solltest du mal krank werden, heißt das nicht, dass du im Bett bleiben kannst, solange es sich um nichts Gravierendes handelt. Laut deinem Impfpass bist du aber mit allen Impfungen, die wichtig für dich sind, ausgestattet. Und vor dem, was man sich da draußen so alles holen kann, ist man nicht immer gefeit, deswegen würde unsere hauseigene Quarantänestation infrage kommen, aber das nur am Rande. So was passiert sehr selten bis nie. Und für kleinere Wehwehchen haben wir eine Krankenstation. Sie befindet sich auch im Erdgeschoss." Sie nahm das Blatt von ihrem Klemmbrett und reichte es mir. „ Ich habe dir eine Kopie angefertigt, damit du dir nochmal alles in Ruhe durchlesen kannst."
Ich war beinahe verblüfft, als ich die Liste sah. Sie wirkte unvollständig, aber anscheinend waren es bloß diese sechs Regeln, die einzuhalten waren. Wenn ich richtig aufgepasst hatte. Rauschgifte waren strengstens untersagt. Man sollte sich nie zu den Mahlzeiten oder dem Unterricht verspäten. Schuluniformen waren Pflicht. Bettruhe war um neun Uhr. Und wenn man krank war, musste man weiter funktionieren, solange es der Körper tatsächlich hergab. Seufzend schaute ich auf, als Claire wieder lächelte
„ Als Nächstes kommen wir zu den Verstößen, wenn besagte Regeln, mutwillig gebrochen werden."
Ich zog die Stirn kraus. Wie lange würde diese Einführung noch dauern? Ich war todmüde und wusste nicht, wie ich alles so schnell verarbeiten sollte.
„ Bei jeglicher Verspätung aller Art, ist unsere Regel- und Strafliste fünfzehnmal abzuschreiben. Pünktlichkeit sollte also oberste Priorität für dich bedeuten, denn man hat neben dem vielen Lernen wirklich besseres mit seiner Freizeit anzustellen, als ellenlange Texte abzuschreiben, findest du das nicht auch?"
„ Natürlich", antwortete ich wie auf Kommando und sah nach ein paar verstrichenen Sekunden nach rechts. Claire schien zufrieden mit meiner Antwort und fuhr weiter fort.
„ Sollten sich schlechte Manieren häufen, drohen mehrere Tage Arbeit in der Kantine, Strafsport oder ein Verweis dieser Schule. Regelbruch ist Regelbruch. Man muss wissen, wie man sich zu benehmen hat und sollte, stimmt's?"
Ich regte mich nicht. „ An meiner alten Schule mussten wir auch zwischendurch einfach mal so in der Kantine aushelfen oder hatten Pickdienst auf dem Schulhof."
„ Einen Pickdienst haben wir hier nicht, da unsere Schüler sehr sauber sind und ihren Müll in die dafür vorgesehenen Mülleimer entsorgen."
Wieder nickte ich. Dieses Mal noch unsicherer als vorher.
„ Hier gibt es bloß den Kantinendienst. Der Kantinendienst dauert jeweils immer eine Woche und wird mit zwei anderen Schülern erledigt. Den Plan findest du direkt neben der Theke. Er wird jeden Sonntagabend neu ausgehangen." Ich faltete meine zitternden Hände. „ Im Straffall jedoch, kann dieser Dienst dann auch mal etwas länger ausfallen." Also schien das Arbeiten in der Kantine nicht wirklich berauschend zu sein, wenn daraus schon eine Strafe gemacht wurde. Zumindest war es in meiner alten Schule so gewesen. Die grausigen Hygienezustände und die unfreundliche Köchin, die einem am liebsten mit ihrer Suppenkelle eins übergebraten hätte, waren wirklich eine Strafe für sich. Jeder Schüler hütete sich davor, in ihren Fängen zu landen. Ob es hier vielleicht auch so werden würde?
„ Das Tragen normaler Kleidung wird mit selbigem bestraft, außer am Wochenende. Da besteht keine Uniformpflicht." Ich horchte auf. Irgendwie beruhigte mich dieses Gefühl auch, wenn ich nicht wusste, wohin mit all meinen Gedanken. „ Besitz von Rauschgiften ecetera pp. endet immer mit sofortigem Schulverweis."
Es herrschte Stille, bis sie mich erwartungsvoll anschaute. „ Bist du mitgekommen?"
„ Ja, ich denke schon", erwiderte ich unsicher.
„ Super." Sie klappte das Klemmbrett zu und überschlug die Beine.
„ Und wo kann ich den Vertrag kündigen?"
Sie verharrte in ihrer Position und schaute mich aus großen, fragenden Augen an.
„ Du willst kündigen?"
„ Ja, denn ich werde nicht hierbleiben."
Mit einem Mal fühlte ich mich so klar und rein in meinen Gedanken, dass ich Stärke in mir aufkeimen spürte. Ich wusste in diesem Moment genau, was ich wollte.
„ Um ehrlich zu sein, verstehe ich das jetzt nicht. Warum solche Gedanken?"
Nun war ich diejenige, die sie fragend anblickte. „ Das hier ist nicht mein Leben. Ich war fertig mit der Schule und habe mir danach etwas aufgebaut. Gut, es ist nicht viel, aber ich habe zu Hause eine Wohnung und eine Arbeit."
„ Das zählt jetzt nicht mehr. Du bist jetzt hier und es kann dir hier sehr gut gehen."
Ich schwieg einen Moment, dachte kurz über ihre Worte nach.
„ Meine Eltern können nicht über mich bestimmen. Ich will nicht hier sein, sondern nach Hause."
„ Aber nicht heute."
Als ich wieder kontern wollte, stand sie bereits auf und strich sich ihre Hosenbeine wieder glatt. „ Wir können jederzeit sprechen. Es ist sowieso schon ziemlich spät. Lass dir alles nochmal durch den Kopf gehen und schau dir morgen erst mal alles an. Dann kannst du dir noch immer eine Meinung über die Dinge bilden."
Ich wollte nicht hier bleiben, in diesem Zimmer, welches nicht meins war.
„ Ich will aber nicht hierbleiben."
Claire sah mich mit zerknautschter Miene an. „ Lösch bitte das Licht und lege dich schlafen. Ich werde morgen um halbsieben wiederkommen, um dein Zimmer zu kontrollieren. Dann werden wir weitersehen. Bitte stelle dir deinen Wecker." Ich sah hinüber auf die weiße Funkuhr auf dem Nachttischschränkchen. Sie zeigte sieben Minuten nach neun an. Neben ihm stand ein kleines Tablett mit einem Brötchen und einem Glas Wasser mit einer Tablette daneben.
„ Gegen die Schmerzen." Ich schaute sie prüfend an.
Dann wanderte mein Blick zurück zum Nachttisch und erhaschte einen goldfarbenen Schlüssel, welcher unter dem Tablett hervorlugte. Ich griff nach ihm und drehte ihn ein paar Mal zwischen meinen Fingern.
„ Ich würde mich freuen, wenn du gleich auch noch etwas essen und trinken würdest", bemerkte sie und ich wusste, dass es eine Aufforderung war. „ Hier ist noch dein Stundenplan, mit den Zeiten und Raumnummern." Ich schaute auf und regte mich nicht. „ Sieh ihn dir wenigstens an." Sie zog abwartend die Brauen hoch. Ihrem Blick konnte ich nicht lange standhalten und nahm ihn schließlich entgegen. „ Und das ist dein Zimmerschlüssel." Sie deutete flüchtig mit ihrem Kinn auf meine Finger, die ihn noch immer festhielten. „ Sieh dich vor, die Tür immer ordnungsgemäß abzuschließen, wenn du dein Zimmer verlässt." Sie war dabei, zu gehen. „ Wir sehen uns morgen früh. Schlaf gut. Und solltest du noch irgendwelche Beschwerden bekommen, hier ist ein Telefon." Sie reichte mir ein weißes Handy. „ Wenn du die 307 wählst, landest du im Sekretariat. Tagsüber sitzt dort Mrs Benty, nachts bin ich oder meine Schwester vor Ort."
„ Wo ist mein Handy?", fragte ich.
„ Das haben wir. Du hast ja jetzt ein Neues und glaub mir, du wirst es lieben, wenn du seine Funktionen kennengelernt hast." Mit einem Augenzwinkern schritt sie durch die Tür und schloss sie. Ich blieb völlig verwirrt zurück, musste erst einmal verarbeiten, was geschehen war. Es schien alles ein schlechter Witz, oder Albtraum zu sein.
Ich war nach einem Autounfall in ein künstliches Koma verlegt worden und wachte in einem Zimmer einer merkwürdigen Schule auf, die meine Eltern vorab schon für mich ausgekundschaftet hatten. Wie war ich überhaupt hierher gekommen? Ich erinnerte mich an keine Fahrt, an keinen Gedanken, der auf diese Schule bezogen war. Warum hatten sie mich nicht in meine alte Wohnung zurückkehren lassen und brachten mich stattdessen in einer Schule unter?
Ohne zu zögern, griff ich nach dem Telefon und wählte Jims Handynummer an. Zitternd hielt ich mir den Hörer ans Ohr und lauschte. Zuerst war gar nichts zu hören, dann knackte es ein paar Mal undefinierbar, bis eine Frauenstimme mich darauf verwies, dass die Leitung bis morgen früh um neun gesperrt war.
„ Verdammt!", schrie ich und haute es mit voller Wucht auf die Matratze.
Ich musste ihn unbedingt morgen erreichen! Er war der Einzige, den ich erreichen konnte.
Natürlich hätte ich es bei meinen Eltern versuchen können, doch ich hätte ihnen eine Szene gemacht, die sich gewaschen hätte. Die würde ich ihnen auch noch bereiten, doch das musste geplant werden und konnte nicht einfach so aus dem Stegreif erfolgen.
Sie konnten mich nicht zwingen hierzubleiben, selbst wenn sie diesen Vertrag unterschrieben hatten. Ich war ein Mensch und hatte Rechte. Wie lange würde der Aufenthalt hier wohl andauern, bis man einen Abschluss erreicht hatte? Ein Jahr? Zwei Jahre? Drei Jahre? Oder länger? Jetzt wo diese Claire weg war, fielen mir tausende von Fragen ein. Aber das konnten sie nicht machen. Ich hatte die Schule nie geliebt und wollte auch jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben. Da konnte Claire es mir noch so schmackhaft machen oder meine Forderungen ignorieren.
Ich musste hier raus.
Ich wusste nur nicht wie, aber das musste ich herausfinden. Ohne weiter zu überlegen, rannte ich auf meine Tür zu und riss sie auf. Der Schmerz ließ etwas länger auf sich warten, doch er kam. Stöhnend ging ich in die Knie und hielt mich an der Türklinke fest. Er schoss durch meine Gliedmaßen und entfaltete sich dann in meinem Kopf. Es fühlte sich an, als würde jemand langsam mit einem Messer durch meinen Kopf schneiden, sodass ich mir meinen Schädel mit einer Hand festhalten musste, um es etwas erträglicher zu machen. Der Flur war nun in ein Dämmerlicht getaucht. Es war so ruhig wie auf einem Friedhof. Nein, wahrscheinlich hätte man dort noch ein paar Krähen krächzen gehört.
Ich trat erneut hinaus und schaute mich langsam um. Es kam mir beinahe vor, als wäre ich die Einzige auf dieser Etage. Es wurde mir immer unheimlicher, weshalb ich meine Idee auf morgen verschob. Dann würde ich eben eine Nacht hier bleiben. Es war zwar noch nicht so spät, wie Claire getan hatte, aber trotzdem zu spät, um heute noch von hier zu verschwinden. Außerdem wartete hier ein Bett auf mich.
Ganz langsam lief ich wieder in das Zimmer hinein und schloss die Tür leise hinter mir.
Ich sah hinüber zum Schreibtisch und beschloss mir alle Fragen, die ich an sie hatte, aufzuschreiben. Sobald ich Papier und einen Stift gefunden hatte, schrieb ich alles auf, was mir in den Kopf kam. Dann faltete meine Notizen zu einem kleinen Rechteck zusammen und schob sie unter mein Kopfkissen. Als ich meine Hand wieder zurückzog, griff ich nach den vielen Blättern, die Claire mir während unseres Gesprächs gereicht hatte. Ich beschaute mir jedes von ihnen nochmal genauer und blieb schließlich auf dem Stundenplan hängen. Ich hatte beinahe jeden Tag acht Stunden Schule, außer dienstags. Da waren es nur sieben. Überall sah ich Doppelstunden in Mathematik, Latein, Geschichte und Politik. Mein Kopf rauchte nur bei der bloßen Vorstellung wieder die Schulbank zu drücken. Des Weiteren bekam ich Einzelstunden in Englisch, Sport und Physik. Welch ein grauenvolles Leben mir hier bevorstünde, wenn ich blieb. Das konnten sich meine Eltern abschminken und diese Claire genauso! Eine Nacht würde ich bleiben und morgen schleunigst das Weite suchen und nie mehr an diesen Vorfall denken!
Ich stellte noch den Wecker, so wie es Claire befohlen hatte. Was hatte sie zu mir gesagt? Um halbsieben würde sie kommen und mein Zimmer durchsuchen. Wie sich das anhörte. So in etwa hatte sie es zumindest gesagt. Ich stellte ihn auf sechs Uhr, ehe ich bemerkte, wie die Müdigkeit sich zurück in meine Knochen schlich. Hastig aß ich das Brötchen und schluckte die Schmerztablette mit etwas Wasser. Ich legte mich hin und schaute in dem Zimmer umher. Ich hatte das Licht auf dem Schreibtisch angelassen, da es mir etwas Sicherheit in dieser Fremde verschaffte. Ich vermisste mein eigenes Bett und war voller Fragen.
Was hatten Mum und Dad mir bloß wieder angetan?
Ein unangenehm schrilles Piepsen riss mich aus wirren Träumen, mit denen ich nichts hatte anfangen können. Ich strich mir mit meinem Arm über meine Augen und schaute nach der Lärmquelle. Zufrieden stellte ich fest, dass das Licht auf meinem Schreibtisch noch immer brannte. Kurz hielt ich Inne. Ich war gerade mal ein paar Stunden hier und nannte dieses Stück Holz schon mein Eigen? Ich gehörte hier doch gar nicht hin!
Das grün blinkende Display des Weckers riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich etwas mehr nach rechts und sah ihn auf der Nachtkommode stehen.
Ich seufzte, nahm ihn in meine Hände und versuchte ihn sicher zwei Minuten lang auszuschalten. Als ich den kleinen Knopf unter ihm fand, stellte ich ihn zurück und fuhr mir durch meine Haare. Ich hatte ganz vergessen, wo ich gelandet war, wohin mich meine Eltern befördert hatten.
Mit schweren Gliedern hievte ich mich aus dem Bett und brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Das Badezimmer war links. Genau.
Ich schleppte mich voran und schaltete das Licht an. Der Spiegel fiel mir als allererstes auf. Ich hatte mich seit ich Zuhause in den Spiegel geschaut hatte, bevor ich Jim in seiner Bar besuchte, nicht mehr gesehen, weshalb ich verwundert war, dass ich mir sogar noch ähnlich sah. Mein hellbraunes Haar war zerzaust und die Haut blass, meine Augenringe waren nun deutlicher denn je zu sehen, aber es hätte schlimmer sein können. Auch die Schmerzen waren Dank der Tablette viel erträglicher als gestern Abend noch.
Meine Finger fühlten eine Verdickung an meiner Stirn, als ich mir auch schon meinen Pony beiseite schob und einen fast verheilten Kratzer erkannte.
Ich beschloss, mich heiß zu duschen, um mich wieder frisch und wie ein ganzer Mensch zu fühlen.
Nach einer Viertelstunde lief ich, bloß in ein Handtuch, welches ich einem schmalen Badezimmerschrank gefunden hatte, zurück in das Zimmer hinein. Ich beschloss meine Haare einfach an der Luft trocknen zu lassen, so wie immer. Als ich auf den Wecker blickte, geriet ich unter Zeitdruck. Das heiße Wasser hatte so gut auf meiner Haut getan, dass ich gar nicht mehr unter dem Wasserstrahl hatte hervorkommen wollen. Hastig lief ich also zum Schrank und fand drei frische Paar Jeans, eine kleine Anzahl an T-Shirts und Strickjacken und sogar meinen orangefarbenen Bikini, den ich mir einst gekauft, aber niemals angezogen hatte, weil es bisher einfach keine Gelegenheit dafür gegeben hatte. Meine Eltern hatten also meine Wohnung geplündert, während ich im Koma lag? Mit Tränen in den Augen haute ich ihn wieder in den Schrank hinein, als mir auch schon die Uniformen wieder einfielen. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und lief auf den großen Stoffsack zu, der neben meinem Schreibtisch lehnte. Mit beiden Händen öffnete ich ihn und griff nach den dunkelblauen Jacken und Röcken, der weißen Bluse, den schwarzen Strumpfhosen und den braunen Lederschuhen. Skeptisch betrachtete ich die Sachen. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. Was tat ich hier eigentlich? Wofür beeilte ich mich überhaupt? Es gab Wichtigeres zu klären! Ich musste nach Hause! Sehen, ob meine Wohnung überhaupt noch existierte! Ich konnte nicht hier bleiben.
Pünktlich auf die Minute klopfte es an meiner Tür und Claire kam wie der junge Frühling zu mir hineinspaziert. Sie wirkte ausgeschlafen und makellos perfekt. Sie trug eine weiße Bluse mit Spitzenbesatz an Dekolleté und Ärmeln. Ihre Beine umhüllte eine steingraue Hose, welche in einem großen Schlag um ihre dünnen Knöchel stoppte, während ihre Füße in hochhackigen schwarzen Pumps steckten. Ihre Haare waren zu einem komplizierten Zopf geflochten und ihre Augen dezent geschminkt. Sie hätte glatt für ein Hochglanzmagazin werben können.
„ Guten Morgen! Oh, wie ich sehe, bist du noch nicht fertig. Gibt es Probleme? Hast du Schmerzen?" Besorgt kam sie auf mich zu und streckte schon die Hand nach mir aus, die ich panisch betrachtete und von meinem Bett aufstand.
„ Ich mache mich gerne fertig, aber mit meinen Klamotten. Und dann auch nur, um wieder von hier zu verschwinden."
Claire schob sich eine Strähne hinter ihr Ohr und atmete schwermütig aus. „ Ich habe dich doch darum gebeten, es wenigstens zu versuchen. Du kannst heute Abend immer noch gehen. Schau dir unser Angebot doch erst einmal an."
„ Ich bin aber nicht interessiert. Keiner kann mich dazu zwingen." Ich verschränkte die Arme vor meinem Handtuch und sah aus dem Fenster hinaus.
„ Du hast recht. Es kann dich keiner zwingen, aber du musst dabei ein paar Dinge berücksichtigen. Deine Eltern haben sehr viel Geld investiert, um dir das volle Spektrum unserer Leistung zu schenken."
„ Das kann aber nicht sein, da sie nie Geld hatten!" Langsam wurde ich wirklich sauer. Sie hatte keine Ahnung, was ich all die Jahre bei ihnen durchgemacht hatte! Ich interessierte sie einen feuchten Kehricht.
„ Madison, da kann aber etwas nicht stimmen", erwiderte Claire mit besonnener Stimme.
Inzwischen presste ich mir eine Handfläche gegen die Stirn. Es wurde mir einfach alles viel zu viel. Ich wollte von hier weg, hinein in Jims Arme.
„ Schieben wir das Thema Eltern aber erst einmal beiseite. Unsere Lehrer sind die besten des Landes, hoch qualifiziert, sie wissen, wie man lehrt und mit Schülern umgeht. Dementsprechend gut sind auch die vielen Erfolge, die wir in unserer bisherigen Geschichte verzeichnen konnten. Wir wurden in den letzten sieben Jahren, seit unseres Bestehens, mit Urkunden und Zertifikaten nur so überschüttet, wobei das noch zweitrangig ist. 99% all unserer Schüler verlassen diese Schule mit einem wunderbaren Abschluss. Und nicht nur das: Die Jobangebote aufgrund des Abschlusses und der Tatsache, dass sie sich in unserer Ausbildung befunden haben, sind schlichtweg rosig! Zudem werden hier viele soziale Kontakte geknüpft. Alles, was noch so verborgen in ihm oder ihr ruht, wird herausgeholt. Deswegen bitte ich dich. Wirf es nicht einfach so weg. Es ist nicht jedem vergönnt, so gefördert zu werden. Und andere würden sich darum reißen."
Ein paar ihrer Worte machten mich stutzig. Wahrscheinlich wusste sie alles über mich. Über meinen mittelmäßigen Abschluss und auch, dass ich früher immer ein Abitur machen und Kunst oder Literatur studieren gehen wollte, dass ich nur einen einzigen Vertrauten in meinem Leben besaß, deswegen auch die Rede von sozialen Kontakten, und dass mich zu Hause eine fast leere Wohnung und ein Leben ohne großen Perspektiven erwartete.
Inzwischen lief Claire durch mein Zimmer und durchsuchte jeden Winkel, den sie finden konnte. Sie hob Matratze, Kopfkissen und die Bettdecke hoch. Als sie nichts fand, lief sie auf meinen Schrank zu. Die Stimmung war beklemmend und der Anblick befremdlich, doch ich rührte mich nicht und beobachtete sie kritisch.
„ Ich könnte Dinge im Bettbezug lagern."
Es war halbsieben in der Früh, das Zimmer noch abgedunkelt, die Stille des angebrochenen Tages befand sich direkt im Raum, und meine Sachen wurden schon auf verbotene Dinge untersucht.
„ Bei dir müsste ich mir um so etwas sicher niemals Sorgen machen", zwinkerte sie mir verhalten zu und ging danach strikt ihrer Arbeit nach. Sie versuchte es mit allen Mitteln. Ich nahm meinen Blick wieder von ihr und schaute mich irgendwo fest.
Was würde mich erwarten, wenn ich wieder nach Hause kehren würde? Was würde passieren, wenn ich hier blieb?
Nach drei Minuten war sie fertig und gesellte sich wieder zu mir, als wäre nichts gewesen.
„ Ich würde sie wenigstens einmal anprobieren. Ich bin mir sicher, dass sie dir stehen wird." Ich linste auf ihre Hände, in denen ich bereits den edlen, blauen Stoff der Uniform erkannte. „ Sie ist sehr bequem. Natürlich ist sie auch genauso förmlich, aber daran gewöhnt man sich."
„ Was ist mit meiner Wohnung, meinem Zuhause? Sicher haben meine Eltern bereits alles aufgelöst!" Ich schluckte schwer, wollte ihre Antwort eigentlich gar nicht hören, doch ich konnte nicht anders. Ich musste es wissen.
„ Alles ist so, wie du es zuletzt verlassen hast." Sie fasste mich bei meinem Arm. „ Und deine Eltern hätten auch gar nicht das Recht dazu, dir dein altes Leben einfach so wegzunehmen. Du bist eine erwachsene junge Frau. Sieh deinen Aufenthalt hier als eine Art Schnuppertag an. Danach entscheidest du ganz allein. Niemand wird dir irgendetwas wegnehmen, verstehst du?"
Plötzlich war sie kurz ab und lief schon Richtung Tür, die Uniform auf ihren Armen liegend.
„ Aber wenn du meinst, dir diese Chance entgehen zu lassen und zurück in dein altes Leben zu gehen, dann lasse ich dich ziehen. Ich werde niemanden zwingen hierzubleiben."
Ich schaute ihr nach. Sie war wirklich dabei zu gehen, mich ziehen zu lassen. Ich dachte an meine Wohnung. Sie war zwar mein Zuhause, doch oftmals auch kalt und leer. Ich vermisste Jim mittlerweile schrecklich, doch wenn ich mit ihm sprach, würde es vielleicht besser. Und schließlich wusste ich wirklich nicht, wie es mir hier gefallen würde. Vielleicht war es das, wonach ich immer unbewusst gesucht hatte. Nach einer Aufgabe. Und wenn Claire niemanden zwang, konnte sie das heute Abend genauso wenig. Ich wollte es ausprobieren, zumindest einen Tag.
Ich biss mir auf die Unterlippe und überwand mich, sie erneut anzusprechen. „ Moment. Claire." Sie drehte sich zu mir herum und musterte mich erwartungsvoll.
Ich streckte beide Hände nach der Uniform aus. „ Ich will es versuchen."
Sie konnte es anscheinend kaum glauben. Ihre Lider flatterten ein paar Mal, ehe ihre Lippen zu zucken begannen.
Sie kam auf mich zu und strahlte über das ganze Gesicht. „ Du hast dich für das Richtige entschieden", flüsterte sie und überreichte mir die Uniform. „ Möchtest du, dass ich noch bleibe und ..."
„ Nein", erwiderte ich etwas zu schnell und lenkte gleich darauf ein. „ Nein, das ist schon in Ordnung. Ich komme schon klar."
„ Nun gut. Dann bleibt mir nichts anderes übrig als dir einen wunderschönen ersten Schultag zu wünschen. Wir sehen uns dann spätestens heute Abend. Um halbneun werde ich wiederkommen. Ich bin schon jetzt auf dein Fazit gespannt und hoffe, dich begeistern zu können."
„ Ich habe noch so viele Fragen."
Claire seufzte und legte mir ihre Hände auf die Schultern. Ihre Augen sahen intensiv in meine hinein. „ Ich kann dich sehr gut verstehen. Es ist alles neu und schwer zu begreifen. Du kannst gehen, natürlich, aber bitte mach dein Glück nun nicht von all deinen Fragen abhängig. Ich werde dir deine Fragen beantworten. Egal, wie du dich entscheidest."
„ Wie gesagt, ich werde es versuchen."
Sie lächelte und rieb mir über die Schultern. „ Danke." Lächelnd entfernte sie sich von mir. „ Du musst mir heute Abend alles erzählen!"
Die Tür fiel ins Schloss und ich war allein.
Ich zog die Brauen kurz zusammen, ehe ich hinein ins Badezimmer eilte. Dort angekommen zog ich Rock, Bluse, Jacke, Strümpfe und Schuhe über und fühlte mich wie verkleidet. Doch ich hatte keine Zeit noch länger darüber nachzudenken, band mein Haar zu einem Zopf zusammen und trug zwischendurch noch etwas von meinem Lipgloss, der in einer mir fremden Kulturtasche, unter dem Waschbecken gestanden hatte, auf. Jemand hatte definitiv Sachen für mich zusammengepackt, doch ob es sich dabei ... Nein, meine Eltern konnten es einfach nicht gewesen sein! Doch wer hätte es dann getan? Ich kannte doch niemanden und sie genauso wenig.
Der Geruch der glitzernden Farbe hauchte mir ein Gefühl der Normalität ein und ich beruhigte mich wieder etwas.
Sobald ich fertig angezogen war, stolperte ich auch schon wieder hinaus und griff nach meinem noch fast leeren Rucksack. Meine Hand langte hinein und holte ein schlichtes, schwarzes Lederportmonee heraus.
Ich öffnete es, fand jedoch kein Geld, sondern eine kleine Reihe von Marken vor, die man wahrscheinlich in der Cafeteria einlösen musste. Natürlich statteten sie uns nicht mit Geld aus. Ich fand noch einen Regenschirm, ebenfalls in schwarz, vor, und etwas zum Schreiben in Form eines Collegeblocks und einem Etui. Sie hatten wirklich an alles gedacht, während ich von nichts etwas geahnt hatte.
Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich beschloss, das Zimmer zu verlassen.
Mein Morgen war, bis auf den Zwischenfall mit Claire, strukturierter gewesen als je ein anderer Morgen in meinem bisherigen Leben zuvor. Ich hatte schon jetzt das Gefühl, alles hinter mir gelassen zu haben und bisher wusste ich nicht, ob das gut oder schlecht war. Ich wollte hier nicht bleiben. Hier war alles so anders, als zu Hause. Und außerdem konnte ich nicht ohne Jims und meine abendlichen Diskussionen über Leben und Tod, die Sinnhaftigkeit jeder Sache und den witzigen Katzenvideos auf You Tube leben, die eigentlich immer nur er witzig fand und ich dann über seine mitreißende Lache lachen musste.
Da fiel mir plötzlich Jims und meine Verabredung ein, die gefühlt schon tausend Jahre her zu sein schien. Wir wollten gemeinsam auf meinen Erfolg anstoßen. Ich wollte mich in einer Boutique vorstellen, um mein Leben neu zu ordnen. Was war daraus geworden? Hatten sie auf meinem alten Handy angerufen, um nachzufragen, was passiert sei, oder harkten sie mich ab, nach dem fünf Minuten meines eigentlichen Termins bereits vergangen waren? Und was war mit Jim? Sicherlich machte er sich große Sorgen. Meine Eltern hatten ihn bestimmt nicht über meinen Vorfall informiert, obwohl sie ihn kannten. Ich musste mich darum kümmern, ihn anrufen und ihm alles erzählen. Ich hatte noch keinen blassen Schimmer, wie ich wieder von hier wegkam, falls es mir doch nicht gefiel, aber Claire konnte mir sicher weiterhelfen. Doch nun war dafür keine Zeit. Ich schob den Gedanken vorerst beiseite und sah zu, dass ich aus diesem Zimmer kam, um nicht schon am ersten Schultag zum Sport gezwungen zu werden. Das musste doch furchtbar sein. Mir lief es schon bei der bloßen Vorstellung kalt den Rücken herunter.
Ich trat hinaus auf den Flur, schloss die Tür mithilfe des goldenen Schlüssels zu und ließ ihn danach in meine Jackentasche fallen. Wahrscheinlich war es wichtig sie abzuschließen, da man keinem Schüler in, sondern nur vor den Kopf schauen konnte. Claire hatte mir schließlich ans Herz gelegt, sie regelmäßig abzuschließen, sobald ich unterwegs war.
Seufzend drehte ich mich nach links und fühlte ein plötzliches Unbehagen. Hier draußen roch es nach frischer Farbe und abgetretenen Teppichen. Das war mir gestern gar nicht aufgefallen, wahrscheinlich, weil ich viel zu aufgebracht gewesen war. Dieser Zustand hatte sich also schon bei mir gelegt. Ich hatte Angst was nach dem Nichts, welches ich im Moment empfand, kommen würde.
Ich lief den Gang hinunter und bog rechts ab, so wie es auf dem Plan eingezeichnet war. Auf der linken Seite waren die Fahrstühle, ein Stück weiter das Treppenhaus. Ich entschied mich für den Fahrstuhl und rief ihn. Nach einer etwas beklemmenden Fahrt stieg ich aus und landete in einer riesigen Vorhalle, mit großen, glänzenden Glasfenstern, die beinahe schon als Wände durchgingen, Säulen gefertigt aus Marmor und Deckenleuchten, die sich in dem glatten Kachelboden widerspiegelten. Es wirkte auf mich beinahe wie die Lobby eines Hotels anstatt einer Schule.
Die Sohlen meiner schwarzen Lackschuhe hallten auf dem glänzenden Boden wider. Ein schönes Geräusch, wie ich fand. Für einen Moment sah ich mich um, ehe ich auf den Zettel blickte. Ich musste über den Schulhof, rüber zu einem cremefarbenen Gebäude mit braunem Ziegeldach, einer großen Glastür und großen Fenstern. Auf meinem Weg schaute ich mich kurz um. Ich fühlte mich ganz klein, zwischen all den vielen modernen Bauten um mich herum. Ich konnte sie noch nicht wirklich zuordnen und blickte immer wieder auf meine Karte hinab. Schräg gegenüber lag ein weiterer Komplex mit Glaskuppel, anstatt einem stinknormalen Dach. Es war weiß gestrichen, wie alle anderen Bauten. Nur die Cafeteria leuchtete in einem dunkleren Farbton und stach somit deutlich heraus. Vielleicht ging sie aber auch bloß zwischen all dem reinen Weiß unter. Ich konnte es nicht genau sagen. Es lag im Auge des Betrachters. Wahrscheinlich hatte sich aber niemand wirklich etwas dabei gedacht, außer, dass dieser Bereich nur etwas mit Essen und Pause zu tun hatte, während die anderen Gebäude mit schulischen Aktivitäten in Verbindung gebracht wurden.
Es dauerte bloß wenige Sekunden, ehe ich vor einer gigantischen Mensa stand. Ich stellte mich auf die Zehen, um den Saal mit den unzähligen Tischen und Sitzmöglichkeiten zu überblicken. Ich konnte nur einen Tisch mit drei Schülern ausmachen, sonst war weit und breit niemand zu sehen.
Schwer atmend öffnete ich die Tür und trat ein. Mein Blick glitt zu den Leuchtbildern über der Theke. Anscheinend war der Blaubeermuffin mit Joghurt das heutige Tagesangebot. Mein Magen begann allmählich leise zu knurren. Das kleine Brötchen, welches ich gestern Abend vor lauter Hunger noch gegessen hatte, war längst verdaut.
„ Guten Morgen, was kann ich ..."
Ich sah auf, als ich die Stimme von vorne vernahm. Es war ein junges Mädchen mit rot geflochtenen Zöpfen und einer Schürze um die Taille gebunden. In ihrer Nase steckte ein Ring und unter ihren Ärmeln lugten bunte Tattoos auf ihrer Haut hervor. Sie war laut und direkt, doch ihr Lächeln war sehr freundlich, weshalb ich etwas weniger Unbehagen empfand, während sie sprach.
„ Dich kenne ich gar nicht. Bist du neu hier?"
„ Ja, seit gestern", antwortete ich etwas eingeschüchtert.
„ Wie ist dein Name?"
„ Madison."
Und schon reichte sie mir die Hand. „ Na dann herzlich Willkommen an der Archer-Constitution-School. Ich bin Tira Miller. Was darf ich dir bringen?" Ihr Griff war sehr fest, obwohl ihre Statue so zart wirkte.
„ Hi, Tira." Ich lächelte. „ Ich nehme ein belegtes Brötchen mit Remoulade und einen Blaubeermuffin."
„ Gern." Sofort machte sie sich an die Arbeit und schrieb meine Bestellung auf. Dann klemmte sie den Zettel an eine metallene Vorrichtung für das Küchenpersonal.
„ Hast du die Marken?", fragte sie, woraufhin ich zwei von ihnen hervorholte und sie in ihre Hand drückte. Woher wusste sie, dass ich bereits von den Marken wusste? Ich konnte mir es nur so erklären, dass die Einführungszeremonie hier immer gleich vonstattenging und jeder das schon einmal durchlebt hatte. Es waren immer dieselben Abläufe und jeder wusste darüber Bescheid, weil sie so einprägend waren.
„ Ist das richtig so?", fragte ich.
„ Ja, genau. Eine Marke für ein Essen oder ein Getränk." Sie nahm sie freundlich entgegen. „ Danke. Sag mal, kennst du dich denn schon überall aus?"
„ So gut wie. Dankeschön." Ich hatte nicht die Absicht Freundschaften zu schließen, da ich hier wahrscheinlich sowieso schneller wieder weg sein würde, als sie überhaupt schauen konnten, weshalb ich mich mit einem Lächeln auf den Lippen und meinem Teller davonstahl. Das Mädchen hatte nichts mehr erwidert und war wieder verschwunden.
Indessen lief ich auf einen der leeren Tische zu und aß mein Frühstück, die Uhr auf meinem Handy immer im Blick. Während ich an meinem Blaubeermuffin knabberte, spielte ich ein wenig damit herum, fand eine Stundenplan-App und einen Vertretungsplan. Das hatte es an meiner alten Schule nicht gegeben. Dort war alles in Papierform ausgedruckt oder einfach vergessen worden. Hier jedoch schien alles von vorne bis hinten durchstrukturiert zu sein. Das war gar nicht so übel. Ich wusste nur noch nicht, wie ich das alles auffassen sollte.
Da fiel mir ein, dass Claire etwas von einer Freischaltung meines Handys gesagt hatte. Ob es wohl nun schon so weit war? Konnte ich tatsächlich damit die Außenwelt erreichen? Hastig wählte ich Jims Nummer auf dem Display und hielt mir das Handy zitternd ans Ohr. Der Ruf ging durch! Doch es dauerte sehr lange, bis es schließlich knackte und seine Mailbox ranging. Besser als gar nichts, dachte ich, und sprach einfach drauflos.
„ Hey Jim! Hier ist Madison! Mir geht es gut, okay? Bitte, mach dir keine Sorgen! Ich befinde mich momentan in Baltimore, an einer Art von Internat. Mir wurde erzählt, dass mich meine tollen Eltern nach einem Autounfall hierher verfrachtet haben. Das klingt alles verwirrend, ich weiß. Ich habe es auch noch nicht richtig verstanden, aber ich komme heute Abend wieder zurück. Ich melde mich später nochmal bei dir, da ich nicht weiß, ob dir meine neue Nummer angezeigt wird. Mein Handy haben sie hier nämlich auch einkassiert. Ich vermisse dich." Ich legte auf und dachte nochmals über meine Worte nach. Ich glaubte, alles gut zusammengefasst zu haben, weshalb ich ein wenig beruhigter mein Essen zu mir nahm und dabei aus dem Fenster blickte.
Nach meinem Frühstück brachte ich das Tablett zu einem Geschirrwagen und verließ die Kantine wieder.
Bisher war der Morgen recht gut verlaufen, fand ich, hoffte jedoch, dass es auch so reibungslos weitergehen würde. Solange ich hier war, wollte ich jeglichen Strafen entgehen. Doch der Unterricht und meine neue Klasse warteten auf mich, was für mich das Schwerste für den heutigen Tag bedeuten sollte.
Ich entfernte mich immer weiter von der Cafeteria und schaute auf den Plan mit der roten Linie. Die große Glastür führte mich nach draußen, während ich auf das hohe, weiß gestrichene Schulgebäude zulief, vor welchem sich bereits ein paar Schüler tummelten. Es lag genau zwischen Mädchen- und Jungentrakt, zumindest war es auf meinem Plan so beschrieben und eingezeichnet. Alles in allem wirkte diese Schule, nicht wie eine gewöhnliche Schule. Viel mehr war es eine kleine Stadt. Es war hoch interessant sich umzuschauen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Meine alte Schule war grau und alt gewesen, das Dach sah jahrelang so aus, als würde es jeden Moment einstürzen und auch der Putz bröckelte tagtäglich von den Wänden.
Ich verstand, warum es eine der besten Schulen des Landes war. Zumindest architektonisch hätten sie den ersten Preis verdient.
Mein Herz klopfte immer schneller, je näher ich den fremden Schülern kam. Ich rechnete damit, dass sie mich merkwürdig anschauten, weil ich die Neue war, doch es schien sie gar nicht zu stören. Das verblüffte mich.
Mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengegend lief ich weiter stramm geradeaus. Als ich eine erneute Tür passiert hatte, herrschte auch schon wildes Treiben um mich herum. Unzählige von Schülern, gekleidet wie ich, strömten in Scharen in ihre Klassenräume. Die Lautstärke war nicht übermäßig, es war eher ein Gemurmel, welches sie von sich gaben.
Ich versuchte noch einen Überblick zu behalten und ließ mich mit dem Fluss der Menschen einfach mittragen, schaute dabei so gut umher wie ich nur konnte, erkannte Mädchen mit blonden Pferdeschwänzen und Sommersprossen, mit braunen langen Haaren und wunderschönen blauen Augen, mit schwarzen Locken und trainierten Figuren, Jungs, die es nicht gewagt hätten, zu einem von ihnen hinüberzuschauen. Hier war alles etwas anders, als in den Schulen, auf die ich zuvor gegangen war. Ich musterte die Menge, ehe mein Blick wieder auf meinen Plan fiel. Ich sah, dass ich in den nächsten Klassenraum hinein musste. Also versuchte ich mich so gut durch die Massen zu quetschen, wie es ging.
Erleichtert schlüpfte ich durch die Tür und sah schon, wie die anderen ihre Plätze einnahmen. Mir wurde heiß. Wo sollte ich mich bloß hinsetzen?
„ Huch! Jetzt wäre ich beinahe in Sie hineingerannt."
Verdutzt drehte ich mich um, als ich eine kurvige Frau erhaschte, gehüllt in einen feuerroten Blazer und einen schwarzen Rock. Auf ihrer Nase saß eine große viereckige Brille und ihr ebenfalls rotes Haar war in kunstvolle, große Locken gedreht worden. Die Lehrerin, vermutete ich.
„ Moment. Ich hatte mir Ihren Namen notiert. Claire hat mir schon Bescheid gegeben."
Sie wollte gerade in ihrer braunen Aktentasche kramen, als ich schon eine Hand hochhielt.
„ Madison Havering."
„ Danke!", sagte sie freundlich und schnippte einmal in meine Richtung. „ Ich sollte mal wieder aufräumen. Freut mich, Miss Havering. Herzlich Willkommen an der Archer-Constitution-School. Ich bin Mrs Mars. Ich unterrichte Geschichte und Politik an dieser Schule. Auf eine gute Zusammenarbeit." Sie nahm meine Hand und schüttelte sie. Ich lächelte bloß etwas hilflos. „ Kommen Sie. Ich werde Sie eben der Klasse vorstellen."
Ich lief hinter ihr her und fühlte mich wie auf dem Präsentierteller. Mrs Mars stellte ihre Tasche auf dem Pult ab und kramte ein dickes Buch hervor. „ Das ist Ihr Geschichtsbuch. Für Politik haben wir keine Bücher. Wir besprechen meist die aktuellsten Themen." Ich nahm sie etwas hilflos entgegen und fühlte mich, als hätte mir jemand eine fremde, beißwütige Katze auf den Arm gesetzt. Mrs Mars hatte sich mittlerweile an die Klasse gerichtet und sprach zum Glück nicht lange um den heißen Brei herum.
„ Guten Morgen, meine Damen. Wie Sie sehen können, haben wir seit heute eine neue Mitschülerin in unserer Klasse." Dann richtete sie sich an mich und sprach etwas leiser weiter: „ Wenn Sie sich eben kurz selber vorstellen könnten."
Ich nickte und sah, wie sie schon die Bücher für die Stunde herausholte.
Als ich in die Klasse schaute, sah ich in wartende Gesichter, für die es jedoch nichts Neues zu sein schien, Zuwachs in ihrer Gemeinschaft zu bekommen. Es war eine reine Mädchenklasse. Sie wurden also nicht nur in Gebäuden, sondern auch in Klassen getrennt.
„ Ähm hi, freut mich hier zu sein. Ich bin Madison Havering, neunzehn Jahre alt und komme aus Rochester, Minnesota."
„ Falls jemand so nett wäre, Madison noch das ein oder andere zu zeigen, würde mich das sehr freuen", fügte Mrs Mars hinzu.
„ Danke", murmelte ich verstohlen zu Mrs Mars.
„ Sehr gerne. Bitte, nehmen Sie Platz. Wir haben hier vorne noch einen freien Stuhl, oder dort hinten, neben Victoria? Victoria? Würden Sie bitte einmal die Hand heben, um ... behilflich zu sein?"
Victorias Hand schoss sofort in die Luft und ich lief auf sie zu. Sie besaß dunkelbraunes geflochtenes Haar. Sie lächelte freundschaftlich und begrüßte mich mit einem kurzen Händedruck. Ich war an diesem Morgen erneut verblüfft wie nett sie war, setzte mich aber hastig, um den Unterricht nicht noch weiter aufzuhalten.
Mein Blick schweifte umher. Ich sah, dass alle ihre Bücher neben den College-oder Notizblöcken liegen hatten. Daraufhin kramte ich den Collegeblock mit den Stiften hinaus und legte alles akkurat neben das Buch. Ich lächelte unsicher und schaute nach vorne. Mrs Mars hatte ihre Bücher ebenfalls auf dem Pult liegen und schien nur auf mich gewartet zu haben. Mir wurde warm. Sie lächelte und legte ihre Hände auf den Rücken.
„ Nur zur kurzen Information: Claire und Rosemarie und die gesamte Lehrgemeinschaft erwarten Sie morgen Abend um achtzehn Uhr in der Aula. Dort wird, wie bereits bekannt, eine kleine Feier mit Rede und Begrüßung für unsere neue Schülerin, die in unser Schulsystem aufgenommen wird, stattfinden."
Alle nickten, murmelten kurz etwas mit ihren Sitznachbarn, ehe sie sich wieder voll auf Mrs Mars konzentrierten, die ihren Unterricht nun begann und schon eifrig dabei war Dinge an die Tafel zu schreiben. Ich zog die Brauen zusammen und dachte über ihre Worte nach. Eine Begrüßungsrede, weil sie eine neue Schülerin aufnehmen konnten? Sie taten das alles, weil ich neu an dieser Schule war? Oder war die Rede für eine andere, besondere Schülerin, die sie willkommen heißen wollten? Claire wusste doch genau, dass ich nicht bleiben wollte. Ich war irritiert und griff nach einem Kugelschreiber, um das Tafelbild auf mein Blatt zu übertragen. Obwohl ich mich immer noch etwas unwohl fühlte, konnte ich es aushalten. Es war merkwürdig, aber ich fühlte mich mit dieser Uniform und meiner Tischdeko schon fast wie die anderen, ja fast schon zugehörig, wobei ich nicht hier sein wollte. Hier war nicht mein Zuhause und so weit würde es auch nicht kommen.
„ Bitte schreiben Sie mit", forderte Mrs Mars von vorne auf, woraufhin alle nach ihren Stiften griffen, um mitzuschreiben. Es hätte eine Stecknadel fallen können, so leise war es in dieser Klasse. Einzig ein Flüstern von links ließ mich erneut aufblicken.
Ich vernahm ein blondes Mädchen, das ungefähr zwei Meter von mir entfernt saß. Sie trug blondes, schulterlanges Haar und hatte ein recht aufgeschlossenes, niedliches Gesicht. Ihre Zähne waren strahlend weiß als sie lächelte. Ihre blauen Augen waren direkt auf mich gerichtet, weshalb ich wusste, dass sie mich meinte.
„ Hi", flüsterte sie.
„ Hallo", erwiderte ich.
Ihr Blick wanderte kurz nach vorne, um nachzusehen, ob Mrs Mars sich herumgedreht hatte, doch sie schrieb munter weiter. Als ihre Augen wieder auf mich trafen, lächelte sie erneut. „ Ich würde dir gern alles zeigen."
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